Читать книгу Weckzeit - Norbert Böseler - Страница 8
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ОглавлениеWir wohnten in einer beschaulichen Bauernschaft, nahe einer kleinen Stadt mit etwa zehntausend Einwohnern. Das Grundstück lag abseits des kleinen Dorfes und wurde von uralten Eichen umgeben. Direkte Nachbarn hatten wir keine. Die Ruhe, die wir hier gefunden hatten, war uns wichtig. Anja hatte darauf bestanden, unser damaliges Haus in der Stadt zu verkaufen. Zu viele Erinnerungen beherbergten das Gebäude und dessen Einrichtung. Schöne Erinnerungen, die wir abzuschütteln versuchten, um ein neues Leben beginnen zu können. Auch wenn der Tod unserer Tochter nie bestätigt wurde, suchten wir einen Neuanfang. Wir kauften das Haus im Jahr 2008, zwei Jahre nach der Tragödie, die unser Leben verändert hatte. Zuvor stand der Bungalow über Jahre hinweg leer. Die Nachlassgemeinschaft des verstorbenen Besitzers konnte sich über das Erbe nicht einig werden. Ich hatte damals für die Bank ein Gutachten erstellt, somit wusste ich von dem Zustand des Gebäudes. Nach dem Ende des Erbstreits konnten wir das Haus weit unter Wert erwerben. Das ersparte Geld mussten wir in die Renovierung investieren. Wenn ein Gebäude über lange Zeit nicht bewohnt wird, schreitet der Verfall schneller voran, als man ahnt. Der Schimmelbefall erwies sich als problematisch. Wir ließen das Haus neu dämmen und verputzen. Die ebenerdigen Räumlichkeiten waren ideal für meine Behinderung. Den zweitgrößten Raum richtete ich mir als Arbeitszimmer ein. Ich hatte mich im Jahre 2001 als Architekt selbstständig gemacht und mir inzwischen einen guten Ruf erarbeitet. Den Betrieb führte ich zusammen mit meiner Frau, Angestellte hatten wir keine. Anja übernahm die Büroarbeit, derweilen ich mich um die Kunden und Zeichnungen kümmerte. Nach dem schweren Schicksalsschlag verloren wir den Boden unter den Füßen, was sich auch auf die Belange des Betriebes auswirkte. Meine Frau kehrte in ihren erlernten Beruf als Krankenschwester zurück. Da sie seit dem Verschwinden unserer Tochter Silke unter Schlafstörungen litt, ließ sie sich freiwillig für den Nachtdienst einteilen. Noch heute fuhr sie dreimal die Woche zum Krankenhaus in die Stadt und verbrachte dort die Nächte. Die anderen Tage unterstützte sie mich im Büro. Die Wunden der Vergangenheit hatten auch in unserer Ehe tiefe Narben hinterlassen.
Nach knapp einer Stunde Fahrzeit erreichte ich unser beschauliches Eigenheim. Anja war bei der Arbeit. Der Bungalow lag im Dunkeln, nur die Edelstahlplatte mit der Aufschrift „Edgar Focke - Architekt“, die ich an der Hauswand angebracht hatte, wurde von der Außenbeleuchtung angestrahlt. Ich fuhr auf die Auffahrt und öffnete mit der Fernbedienung das Garagentor. Das Tor schloss sich und die Innenbeleuchtung sprang an. Ich ging zum Kofferraum, nahm den Handstock und die große Tüte mit meinen neusten Errungenschaften heraus und schritt durch die Verbindungstür ins Haus. Eine angenehme Wärme strömte mir entgegen. Ich legte die dicke Jacke ab und hängte den Stock an seinen gewohnten Platz. Im Haus benötigte ich ihn nicht. Die Tasche entleerte ich im Wohnzimmer. Die Lampe gefiel mir immer besser, Anja würde sich darüber bestimmt sehr freuen. Ich raffte mich dazu auf, das gute Stück gleich in den Keller zu bringen. Ich verstaute die Lampe hinter diversen Kartons, deren Inhalt mir unbekannt war. Wahrscheinlich befanden sich darin irgendwelche Dekorationsgegenstände, die Anja nicht mehr für angemessen hielt und ausrangiert hatte. Wieder oben angekommen, widmete ich meine ganze Aufmerksamkeit dem Wecker. Ich nahm ihn in die Hand, beäugte ihn von allen Seiten, stellte ihn zurück auf den Tisch, musste ihn aber gleich wieder berühren. Er übte auf mich eine besondere Anziehungskraft aus. Ich fühlte, dass ihm ein besonderer Zauber innewohnte. Diese Magie hatte ich schon im Antiquitätengeschäft gespürt. Sie ging nicht unbedingt nur von den rückwärtslaufenden Zeigern aus, sondern stammte vielmehr aus dem Inneren. Nicht die Zahnräder, nicht die Federn, es musste sich um etwas handeln, das ich nicht sehen konnte. Auch dann nicht, wenn ich das Gehäuse öffnen würde. Den Wecker umgab eine Aura, der ich mich nicht entziehen konnte. In ihm lag ein Geheimnis verborgen und ich war dazu auserkoren, es zu lüften. Warum sonst hätte ich ihn unbedingt haben wollen, als ich ihn das erste Mal gesehen hatte. Ich bin dem stummen Ruf des Weckers gefolgt und in den Laden gegangen. Ich soll ihn sogar vor Jahren dort abgelegt haben. Je länger ich den messingfarbenen Glockenwecker betrachtete, umso mehr ging meine Fantasie mit mir durch. Man bräuchte den Wecker nicht mehr aufziehen, die Zahnräder des Uhrwerks liefen trotzdem, hatte der Verkäufer gemeint. Ich nahm das antike Stück wieder in die Hand und sah mir die Rückseite genauer an. Ein flügelartiger - und zwei gerippte Stellknöpfe waren in der runden Messingabdeckung eingelassen. Ich legte Daumen und Zeigefinger an die Flügelmutter, mit der man das Uhrwerk aufzog. Zaghaft versuchte ich, die Vorrichtung nach rechts zu drehen. Der Knopf bewegte sich keinen Millimeter, die Feder war bis zum Anschlag gespannt. Mit den gerippten Knöpfen konnte man die Uhr - und Weckzeit einstellen. Ich traute mich nicht, die Uhrzeit zu verstellen, von daher versuchte ich es mit dem Knopf, unter dem eine winzige Glocke eingraviert war. Doch auch dieser Drehknopf ließ sich nicht bewegen. Ich wendete das Gehäuse, um das Zifferblatt zu betrachten. Der etwa zwei Zentimeter lange Zeiger für die Weckfunktion zeigte genau auf zwölf Uhr. Nun ja, da der Wecker keine korrekte Zeit anzeigte, konnte man ihn als solchen sowieso nicht nutzen. Doch warum lief er nahezu geräuschlos rückwärts? Ich legte das Gehäuse an mein Ohr, lauschte, und vernahm ein leises Ticken im Sekundentakt, was auf mich unheimlich beruhigend wirkte. Beunruhigend fand ich nur die Richtung, die die Zeiger eingeschlagen hatten, und das Datum, an dem dies geschehen sein sollte. Der 4. Juli 2006. Der Tag, der alles verändert hatte. Der Tag, an dem wir unsere Tochter das letzte Mal gesehen hatten. Sie saß neben mir im Auto, dann geschah dieser Unfall, dessen Auswirkungen so schwer wogen, dass wir sie bis heute nicht abschütteln konnten. Die Erinnerungen kehrten immer wieder zurück, am Tag, in der Nacht und wenn mein Stumpf zu jucken begann.
Wir waren auf dem Weg zu einer Geburtstagsparty gewesen. Silkes beste Freundin feierte ihren achten Geburtstag. Eine Woche zuvor war unsere Tochter acht Jahre alt geworden und hatte mit ihren Freundinnen einen fröhlichen Nachmittag verbracht. Gegen neunzehn Uhr sollte ich sie wieder abholen, damit alle in Ruhe das Halbfinalspiel Deutschland gegen Italien anschauen konnten. Das Sommermärchen steuerte auf seinen Höhepunkt zu. Ich fuhr die Strecke, die ich immer nahm, wenn ich Silke zu ihrer Freundin brachte. Auf der schmalen Landstraße herrschte kaum Verkehr. Gelegentlich traf man auf Bauern, die mit landwirtschaftlichen Fahrzeugen unterwegs zu ihren Äckern waren. Falls doch mal ein Pkw entgegenkam, was äußerst selten der Fall war, musste man auf den unbefestigten Grünstreifen ausweichen. Der Asphalt war mit Schlaglöchern übersät, wovon die meisten mit Rollsplitt ausgebessert worden waren. Dennoch erwischte man hin und wieder eine tiefe Senke, was von den Stoßdämpfern mit unschönen Geräuschen quittiert wurde. Das nahm ich in Kauf, da die Strecke erheblich kürzer war, als die über die Hauptstraße. An jenem Tag näherten wir uns einem Geländewagen mit Anhänger. Als ich zu ihm aufgeschlossen hatte, hielt ich genügend Abstand. Mit dem Anhänger transportierte der Fahrer Holzstämme. Die Meterenden lagen quer auf der Ladefläche und waren mit einem Netz gesichert. Ich verringerte das Tempo, denn ich wollte nicht zu dicht auffahren. Der Anhänger schien nicht besonders gut gefedert zu sein, weil er bei jeder Unebenheit bedenklich ins Trudeln geriet. Außerdem hatte sich das Netz an der rechten äußeren Ecke gelöst. Ich wollte gerade hupen, um den Fahrer darauf hinzuweisen, als der Anhänger ein tiefes Schlagloch überfuhr. Das rechte Rad hob vom Boden ab und als es wieder aufschlug, rutschte ein Holzstamm unter das Sicherungsnetz hindurch auf die Straße. Der Stamm schlug mit dem abgesägten Ende auf die Fahrbahn auf, dadurch wurde er unkontrolliert durch die Luft geschleudert. Er flog genau auf uns zu. Ich trat voll auf die Bremse und versuchte auszuweichen. In dem Moment, als ich das Auto nach links einlenkte, erfasste das rechte Vorderrad den Stamm. Durch den plötzlichen Ruck konnte ich die Kontrolle über das Fahrzeug nicht halten. Die rechte Seite des Autos verlor den Kontakt zum Asphalt. Es geriet in Schräglage und schleuderte direkt auf einen Baum am linken Straßenrand zu. Ich hörte noch Silkes verzweifelte Schreie, dann prallten wir mit der Fahrerseite frontal gegen den Baum. Ein kurzer heftiger Schmerz war das Letzte, was ich spürte. An das, was danach passiert war, kann ich mich nicht mehr erinnern. Fünf Tage, die aus meinem Gedächtnis gelöscht wurden. Fünf Tage, die mir in meinem Leben fehlten. In bin an einem Sonntagnachmittag auf der Verladerampe einer stillgelegten Fabrik wieder aufgewacht. Eingewickelt in einer Decke. Mir fehlte das linke Bein. Uns fehlte unsere Tochter. Von Silke haben wir bis jetzt kein Lebenszeichen erhalten. Die Suche nach ihr wurde nach einer Woche erfolglos abgebrochen. Seit dem Unfall ist sie verschwunden, wahrscheinlich tot. Ihre verzweifelten Schreie sind das letzte, was mir in Erinnerung geblieben ist. Und ich höre sie heute noch.
Der Fahrer des Geländewagens war einfach weitergefahren und behauptete hinterher, er habe von all dem nichts mitbekommen. Ein Pendler aus unserem Nachbarort entdeckte das verunglückte Auto. Er suchte die Unfallstelle ab, und nachdem er niemanden vorgefunden hatte, informierte er die Polizei. Man konnte keine Zeugen ausfindig machen, die von dem Unfallhergang oder von einer eventuellen Entführung etwas gesehen hatten. Die Spurensicherung fand ausschließlich mein Blut im Fahrzeuginneren, ansonsten gab es keine Indizien, die auf eine weitere Person am Unfallort schließen ließen. Die ärztliche Untersuchung ergab, dass ich mir eine schwere Gehirnerschütterung zugezogen hatte, wobei eine Platzwunde über dem linken Auge fachmännisch genäht worden war. Des Weiteren hatte ich mir zwei Rippen gebrochen. Was die Amputation anbelangte, attestierten die Ärzte dem Unbekannten, der sie durchgeführt hatte, zumindest Hintergrundwissen und Sachverstand. Rein äußerlich sah die Wunde gut aus, die durchtrennten Gewebe - und Hautlappen waren sauber miteinander vernäht worden. Über die Notwendigkeit des Eingriffs gab es keine Anhaltspunkte. Dem Unfallschaden und den Blutspuren nach zu deuten, lag offensichtlich keine schwerwiegende Beinverletzung vor. Alle polizeilichen Ermittlungen verliefen im Sand und wurden mittlerweile eingestellt. Zwischendurch gab es die Vermutung, ich könnte einem Serientäter zum Opfer gefallen sein, der im norddeutschen Raum Personen kidnappte, ihnen Gliedmaße abtrennte, und sie dann wieder frei ließ. Das spurlose Verschwinden unserer Tochter widerlegte diese These, sodass man dem Verdacht unverständlicherweise nicht weiter nachging. Es gab damals wie heute viele Fragen, die bislang unbeantwortet geblieben sind. Man ließ uns mit einer quälenden Ungewissheit alleine. Die äußerlichen Wunden waren verheilt, doch unsere innere Seele wurde von unheilbaren Narben geprägt.
Ich wandte mich vom Wecker ab und ging ins Bad. Ich legte meine Kleidung in das Regal, löste das Vakuum aus dem Schaft und zog die Prothese vom Stumpf. Ich nahm die Krücke von ihrem angestammten Platz, die ich benötigte, um die wenigen Schritte zur Dusche bewältigen zu können. Ich setzte mich auf den Duschhocker, die Krücke stellte ich in die Ecke. Das anfänglich eiskalte Wasser ließ mich wie gewohnt zusammenzucken, vertrieb jedoch die wirren Gedanken aus meinem Kopf. Ich duschte zuerst immer kalt, dann genoss ich die angenehme Wärme, die meinen Körper flutete.
Nach der ausgiebigen Dusche hüllte ich mich in den Bademantel, legte meine Armbanduhr wieder an und ging zurück ins Wohnzimmer. Dort nahm ich den Wecker, dann humpelte ich weiter in mein Schlafzimmer. Anja und ich hatten getrennte Schlafzimmer. Zum einen, weil wir häufig unterschiedliche Schlafzeiten hatten, zum anderen, weil unser Liebesleben, unsere Zweisamkeit, nicht mehr so harmonisch verlief wie zu glücklicheren Zeiten. Sex hatten wir nur noch selten, meistens trieb uns der Frust gemeinsam ins Bett. Dann gaben wir uns der Hemmungslosigkeit hin, die uns für den Moment aus der grauen Realität entfliehen ließ. Anfänglich hatte Anja Probleme mit meiner Verstümmelung, was ich ihr nicht verdenken konnte, doch mit der Zeit gewöhnte sie sich an den Anblick. Aus Liebe, Zuneigung, oder aus purer Lust wurden wir so gut wie nie intim. Nicht, dass wir uns nicht mehr liebten, doch der Keil, der zwischen uns getrieben worden war, saß fest verankert. Nur die Gewissheit über den Verbleib unserer Tochter konnte ihn lösen. Ich stellte den Wecker auf die Nachtkonsole, die seitlich am Kopfteil des Bettes fest integriert war. Er wirkte auf dem dunkel gebeizten Holz optimal, so als stände er dort schon seit Jahrzehnten. Ich setzte mich auf den Stuhl neben dem Bett, stellte die Krücke an die Wand, und schälte mich aus dem Bademantel. Nachdem ich T-Shirt und Shorts angezogen hatte, hüpfte ich die drei Schritte auf einem Bein zum Bett und kroch unter die Bettdecke. Ich schaltete die Nachttischlampe an, die neben dem Wecker stand, knipste dann mit der Fernbedienung die Schlafzimmerbeleuchtung aus. Mein Blick verfolgte fasziniert den linksherumlaufenden Sekundenzeiger. Ich verglich die angezeigte Uhrzeit mit meiner Armbanduhr. Sie stimmte natürlich nicht überein. Der Wecker zeigte auf 4:30 Uhr, vielleicht handelte es sich auch um 16:30 Uhr, meine Armbanduhr hingegen wies auf 22:30 Uhr. Obwohl ich eigentlich ein nachtaktiver Mensch war, der lieber spät schlafen ging und am Morgen gerne länger im Bett blieb, fühlte ich mich müde. Ich schaltete das Licht aus, drehte mich auf den Rücken, und lauschte. Durch die absolute Stille des Raumes drang ein leises, beruhigendes Ticken in mein Ohr. Es tickte, tickte, tickte..., irgendwann schlief ich ein.