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2004 / 2

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Stelze waren die beiden jungen Frauen schon von Weitem aufgefallen. Sie standen an der Ampel, und schienen sich voneinander verabschieden zu wollen. Als Stelze sich langsam der Ampel näherte, fing sein Herz laut an zu pochen. Die ganze Nacht war er durch die Stadt gefahren, auf der Suche nach einem Opfer, auf der Suche nach jemand, der sich von etwas trennen sollte. Vor zwei Tagen hatte ihn wieder dieses bedrückende Gefühl übermannt. Wenn er nur daran dachte, wurde er es nicht mehr los. Je länger er es mit sich herumtrug, umso intensiver wurde es. Es hatte sich im Laufe der letzten Jahre zur Sucht entwickelt. Dieses Gefühl, dieser aufkommende Zwang, es tun zu müssen. Er hatte gelernt, seinem Gefühl schnell Folge zu leisten, bevor es ihn krank machte. Vor Jahren wäre er fast daran zerbrochen. Viele schlaflose Nächte lagen hinter ihm, weil er sich nicht überwinden konnte. Nun machte es ihm sogar Spaß. Nicht, dass es ihn sexuell erregte, doch es befriedigte in gewisser Weise sein Selbstwertgefühl. Danach ging es ihm wesentlich besser. Die quälenden Kopfschmerzen blieben aus. Früher hatte er immer so lange gewartet, bis er die Schmerzen nicht mehr ertragen konnte. Heute gab er sich dem Zwang gleich hin, er konnte sich der Sucht ohnehin nicht entziehen. So bereitete er sich schon bei den ersten Anzeichen in aller Ruhe vor. Die Zeitabstände, in der ihn die Vergangenheit einholte, wurden immer geringer. Das Gefühl der Trauer lag fest in seinem tiefsten Inneren verwurzelt. Damals musste er sich von etwas trennen, was niemand jemals ersetzen könnte. Er hatte sich gewissermaßen von seinem Leben getrennt. Nur die eine Hälfte in ihm konnte ein gewöhnliches Leben führen, der andere Teil kämpfte mit dem Trennungsschmerz, den die Vergangenheit hinterlassen hatte. Seine wahre Persönlichkeit konnte er nur entfalten, wenn ein Auserkorener einen Teil seiner selbst abgab, wenn diese Person etwas opferte. Der Mann, der nur auf diese Art und Weise seine Vergangenheit bewältigen konnte, wurde von Kindheit an Stelze genannt und näherte sich langsam der Kreuzung.

Die Ampel zeigte auf Rot. Stelze stoppte den Lieferwagen, sah dann in Richtung der beiden Frauen, wobei sich sein Magen zusammenzog, als die Blonde mit den langen Haaren kurz zu ihm herüberblickte. Sie konnte nicht viel erkennen, dessen war sich Stelze sicher, außerdem trug er eine Perücke, die sein Aussehen erheblich veränderte. Doch eins wurde ihm in diesem Augenblick bewusst, sie würde es sein, die seine innere Unruhe besänftigen sollte. Er griff die Opfer nie wahllos auf. Etwas in ihm wusste genau, welche Person für sein Vorhaben in Frage kam. Die Ampel sprang auf Grün. Stelze ließ den Wagen langsam anrollen. Im Rückspiegel beobachtete er, wie die eine Frau die Kreuzung überquerte und die blonde Frau daraufhin weiter der Straße folgte. Soweit er erkennen konnte, fuhr kein weiteres Fahrzeug hinter ihm. Er vergewisserte sich noch einmal, ob die junge Frau auch weiterhin in seine Richtung ging. Nun musste er nach einer geeigneten Stelle Ausschau halten, die sich in unmittelbarer Nähe befand. Sein Opfer könnte jederzeit die Straßenseite wechseln. Vor ihm tauchte die Eisenbahnunterführung auf. Stelze sah nochmal kurz in den Rückspiegel. Die Frau befand sich noch außer Sichtweite. Er stoppte den Wagen direkt vor der Unterführung und stellte den Motor ab. Stelze holte aus dem Handschuhfach eine luftdicht verschlossene Plastikdose, öffnete sie und entnahm das mit Chloroform getränkte Tuch. Eilig griff er nach der Sturmhaube, die auf dem Beifahrersitz lag, und stieg aus. Er sah sich hastig nach einem geeigneten Versteck um und entschied sich für eine Betonsäule, die kurz vor dem Ende des kurzen Tunnels stand. Hinter der runden Säule stehend blickte er die Straße entlang. Tatsächlich tauchte die Frau in seinem Sichtfeld auf. Stelze hoffte nur, dass ihr niemand folgte, oder ein Auto in diese Richtung fuhr. Er brauchte nur wenige Minuten, wenn alles reibungslos verlief. Nur wenige Minuten, in denen er ungestört bleiben musste. Die junge Frau näherte sich der Brücke. Als sie den Lieferwagen erreichte, wich sie über die Straße aus. Sie ging einen weiten Bogen und beschleunigte ihre Schritte. Stelze stülpte die Sturmhaube über seinen Kopf. Ein letzter Blick nach rechts und links, niemand war zu sehen. Als die Frau die Betonstütze passierte, sprang er mit wenigen Schritten auf zu. Er bekam sie gleich fest in den Griff, presste ihren Oberkörper gegen seine Brust und hielt ihr das Tuch vor den Mund. Er hatte es so dosiert, dass das Chloroform möglichst schnell wirkte. Die blonde Frau trat mit den Füßen nach ihm und traf mehrfach sein Schienbein. Doch ihre Gegenwehr ließ schnell nach. Von einem Moment zum anderen erschlaffte ihr Körper in seinen Armen. Stelze schleifte die Frau zum Lieferwagen. Die Sturmhaube klebte an seinem verschwitzten Kopf. Mit einer Hand öffnete Stelze die Heckklappe des Transporters. Er griff um Oberkörper und Beine der Frau und wuchtete sie auf die Ladefläche. Dann stieg er selber ein und positionierte den leblosen Körper auf der rechten Seite der Ladefläche. Er nahm eine Decke zur Hand, womit er sein Opfer verhüllte. Mehrere Umzugskartons, die mit alter Kleidung befüllt waren, verteilte er wahllos im Frachtraum. Zwei dieser Kartons verkeilte er auf der bewusstlosen Frau. Außerdem öffnete er eine große Tüte mit Weingummis und warf sie auf die Decke. Wenige Augenblicke später schloss er die Klappe des Transportes und setzte sich ans Steuer. Stelze riss schwer schnaufend die schweißdurchtränkte Haube vom Kopf und griff hinter den Fahrersitz. Dort befand sich eine kleine Gasflasche, dessen Ventil er öffnete. Ein dünner Schlauch führte nach hinten. Das Chloroform-Sauerstoff Gemisch sollte ihn vor unangenehmen Überraschungen bewahren. Den süßlichen Duft im Fahrzeuginneren konnte er erklären, wenn es sein musste. Stelze öffnete eine weitere Tüte Gummibärchen, steckte ein Grünes in den Mund und startete den Motor.

Die Fahrt verlief ohne Zwischenfälle. Nach etwas weniger als einer Stunde bog er links auf den Schotterweg ab. Der Mais ragte zu dieser Zeit nur einige Zentimeter aus dem geeggten Ackerboden. Stelze fuhr durch den kleinen Wald und erreichte den Hof. Vor drei Jahren hatte er das Grundstück mit dem noch vorhandenen Stallgebäude zurückerworben. Als einzigen Erben hatten seine Großeltern ihm einen beträchtlichen Geldbetrag hinterlassen. Wofür er das Geld verwenden würde, war ihm sofort klar. Er wollte sich das zurückholen, was seinen Eltern und ihm genommen worden war. Auf dem elterlichen Hof störte ihn niemand, der erste Nachbar wohnte über einen Kilometer entfernt. Im Ort war er als Eigenbrötler bekannt, es interessierte keinen, was er auf dem abgelegenen Hof machte. Die Bank hatte das zerstörte Wohnhaus abreißen lassen, doch über all die Jahre nie einen potenziellen Käufer für das Grundstück gefunden. Stelze hatte nach dem Erwerb keinerlei Problem gehabt, um eine Baugenehmigung für die Errichtung eines Eigenheimes zu erhalten. Auch bei der Finanzierung kam ihm die Bank entgegen. Vielleicht unterlagen sie ja auch nur einem schlechten Gewissen, weil sie seine Eltern damals nicht unterstützt hatten. Er beauftragte eine Baufirma, die unter Aufsicht eines Architekten ein schlüsselfertiges Wohnhaus nach seinen Wünschen errichtete. Nach dem Einzug investierte Stelze viel Zeit in das Stallgebäude. Auch den Glockenturm, den sein Vater über den stillgelegten Brunnen gebaut hatte, restaurierte er. Der Turm stand rechts neben der Stallung und war der ganze Stolz seines Vaters gewesen. Die Glocke, die unter dem mit Schieferschindeln verkleideten Spitzdach an einer Kette hing, hatte sein Großvater eigenhändig geschmiedet. Stelze wunderte sich, dass in all den Jahren niemand die Glocke entwendet hatte. Anno 1924 stand auf dem unteren Kranz. Stelze imprägnierte die vier Stützen aus Eichenholz neu und trug anschließend eine Lasur auf. Die vierkantigen Balken trugen in etwa drei Meter Höhe das Gebälk, an dem die schwere Glocke hing. Er ersetzte außerdem einige der gemauerten Feldsteine des alten Brunnens. In den Ecken der ein Meter hohen Brüstung waren die Holzständer fest verankert. Stelze wollte das Erbe seines Vaters so lang wie möglich bewahren. Sein eigener Stolz war schon lange gebrochen, doch die Arbeit ließ seine rastlose Seele ruhen. Das Stallgebäude diente jetzt für Dinge, die er tun musste, um nicht in den Strom der Depression zu geraten.

Stelze steuerte den Lieferwagen auf das alte Fachwerkgebäude zu, dann stieg er aus, entriegelte das Schloss und öffnete das zweiflügelige Holztor. Er fuhr den schwarzen Wagen in die Remise. Erst nachdem er das Tor wieder geschlossen hatte, schaltete er das Licht an und stellte den Motor aus. Die großräumige Diele wurde beidseitig von Betonstützen flankiert, die alle durch runde Stahlstangen miteinander verbunden waren. Auf den dahinter befindlichen Spaltplatten hatten damals die Rinder gestanden. Auf der linken hinteren Seite gab es noch ein paar Schweineboxen. Dort hatte sein Vater einige Schweine gehalten, die er selber für den Eigenbedarf geschlachtet hatte. Stelze wandte sich dem massiven Eichenschrank zu, der auf der Stirnseite der Diele stand. Er öffnete eine der mittleren Türen und schob einige kleinere Kartons beiseite. Mit wenigen Handgriffen löste er ein Teil der Schrankwand. Dahinter verborgen befand sich ein Schaltkasten mit diversen Sicherungen und einem rot leuchtenden Knopf. Stelze drückte auf den runden Schalter, woraufhin es unter dem Dielenboden zu summen anfing. Wie von Geisterhand hob sich mitten in der Diele ein etwa ein mal zwei Meter großes Feld der roten Klinkerpflasterung. Stelze ging auf das sich öffnende Loch zu und beobachtete, wie ein großer Hydraulikzylinder die schwere Stahlkonstruktion mit den Steinen schräg in die Höhe hob. Diese Vorrichtung zu bauen hatte ihn viel Zeit und Mühe gekostet. Sein Verständnis für Technik und sein in die Wiege gelegtes handwerkliches Geschick, führten letztendlich zum Erfolg. Nach der Fertigstellung verspürte er einen Anflug von Stolz. Der Hydraulikmotor verstummte, als die massive Klappe ihre Endposition erreicht hatte. Eine verzinkte Metalltreppe führte in den verborgenen Keller. Stelze ging die Treppe nach unten und gelangte in den Vorkeller, wo zwei Holztüren abzweigten. An den Wänden standen Regale mit unterschiedlichsten Dingen, wie Töpfe, Einmachgläser, Holzkisten und diverse Werkzeuge. Geradeaus vor dem Treppenabsatz befand sich ein Regal mit großen Pappkartons, die die Wand fast vollständig verdeckten. Stelze schob das Regal beiseite, woraufhin eine dritte Tür zum Vorschein kam. Eine verzinkte Stahltür. Stelze öffnete sie. Ein großer heller Raum tat sich vor seinen Augen auf.

Stelze ging wieder nach oben und montierte die falschen Nummernschilder ab, erst dann öffnete er die Heckklappe des Transporters. Ein süßlicher Geruch schlug ihm entgegen, der sich aber schnell verflüchtigen würde. Stelze stellte die Umzugskartons an die Seite und widmete sich anschließend der Frau. Er trug sie, noch mit der Decke verhüllt, die Treppe herunter. In der Mitte des weiß gekachelten Raumes stand ein imposanter Tisch, der komplett aus Edelstahl bestand. Dort legte er die immer noch betäubte Frau ab. Stelze fühlte nach ihrem Puls. Sie würde seiner Meinung nach noch für einige Zeit ohne Bewusstsein bleiben. Er ging in Seelenruhe zum Schaltkasten und betätigte einige Knöpfe, woraufhin oben in der Diele das Licht erlosch und die schwere Klappe sich senkte. Unten erhellten Leuchtstoffröhren den sterilen Raum. Es standen einige Regale mit technischen Geräten und sonderbaren Werkzeugen vor den gefliesten Wänden, sowie ein verschlossener Schrank und ein Keramikwaschbecken. Gegenüber der verzinkten Stahltür befanden sich zwei weiß lackierte Türen. Dahinter verborgen lagen weitere Räume, die Stelze für seine Zwecke umgestaltet hatte. Aus dem einen Raum hatte damals eine Holztreppe nach oben geführt. Die Treppe hatte er rausgerissen und die Türöffnung zugemauert. Der andere Raum wurde damals als Lager für Fleisch und Eingemachtes genutzt. In dem großen Keller hatten sein Vater und Großvater früher selber geschlachtet, die Schweine zerlegt, und das Fleisch zubereitet. Jetzt nutzte er die Räumlichkeiten, um seinen krankhaften Zwang zu stillen. Stelze ging in den ehemaligen Lagerraum.

Als er wenige Minuten später zurückkam, trug er grüne Operationskleidung und eine schwarze Latexmaske. Die Maske schmiegte sich an seinen Kopf wie eine zweite Haut. Nur Mund, Nasenlöcher und Augen waren durch passgenaue Öffnungen sichtbar. Zielstrebig, mit starrem Blick, schritt Stelze auf den Tisch zu. Er zog der bewusstlosen Frau das Oberteil aus und positionierte den schlaffen Körper mit abgespreizten Armen und Beinen. Er öffnete zwei Klappen am Fußende des Tisches und zog aus jeder Öffnung eine Schlaufe. Er legte die Fesseln um die Fußknöchel und spannte das Seil, das unter der Edelstahlplatte befestigt war. Seitlich des Tisches verbargen sich zwei weitere Schlingen, die er um die Unterarme der Frau legte. Zufrieden drehte Stelze sich ab und holte einen Rollcontainer mit drei Schubladen zum Opferaltar, wie er seinen Edelstahltisch gerne nannte. Dann setzte er sich auf einen runden Hocker und wartete.

Etwa eine viertel Stunde später regte sich die junge Frau, indem sie zaghaft an den Fesseln zog. Sie blickte zur Seite, sah den Mann mit der schwarzen Maske und begann zu schreien, dabei zerrte sie ruckartig an den festgezurrten Schlaufen. Stelze legte den linken Zeigefinger vor seine Lippen, die sich rot schimmernd von der Maske abhoben. Da sich die Frau nicht beruhigte, hielt er ihr mit der anderen Hand den Mund zu. Nur langsam schien sie ihre ausweglose Situation zu erkennen. Ihre angsterfüllten Schreie verstummten. Stelze stand auf und ging zu der Spüle. Oberhalb des Waschbeckens hing ein gläserner Schrank. Er nahm eine Ampulle heraus und zog den Inhalt in eine Spritze auf. Zurück am Opferaltar umfasste er den Unterarm der blonden Frau, fixierte eine hervorgetretene Vene und führte die Nadel mit ruhiger Hand ein. Als er das Serum in ihre Ader drückte, versuchte die junge Frau, sich aufzurichten, was die Fesseln jedoch schmerzhaft verhinderten. Sie sah ihrem Widersacher mit entsetzlich weit aufgerissenen Augen an. In ihrer Panik brachte sie kein Wort über die Lippen. Erst als der maskierte Mann die obere Containerschublade öffnete und ein Skalpell, sowie eine kleine, leicht gebogene Säge auf die Ablage legte, fing sie wieder an zu schreien.


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