Читать книгу Raban und Röiven Rückkehr dunkler Zauberer - Norbert Wibben - Страница 11
Verschwunden
ОглавлениеAm frühen Morgen, es dämmert noch nicht einmal, kehren der Junge und der Kolkrabe von Serengard wieder heim. Raban stellt seinen Haselstab, den er diesmal ungenutzt mitgenommen hatte, in eine Zimmerecke. Bevor er nach unten gehen will, verlieren sich seine Gedanken in den Ereignissen vom letzten Sommer.
Vor seinem geistigen Auge sieht er, wie er sich vergeblich bemühte, den Stab abzubrechen, bevor es ihm gelang, nachdem er sein Messer zu Hilfe genommen hatte. Raban fühlt, wie sich die Härchen in seinem Nacken aufrichten, genau wie damals, als er dort auf dem Gelände zwischen den Ruinen des Klosters eine lauernde Gefahr spürte. Er meint sogar, erneut das Kribbeln im Nacken zu fühlen, während er gedanklich erneut auf den eingefallenen Turm steigt. Sein suchender Blick findet nochmals den Raben, der bewusstlos auf dem Boden liegt, während ein Wolf auf dem Weg dorthin ist. Raban stürmt in seinen Gedanken wieder laut rufend auf den Wolf zu.
Er ist derart in Erinnerungen versunken, dass er zuerst nicht registriert, wie eine geistige Verbindung zu ihm hergestellt werden soll:
»… was ist denn los? Ich brauche dich. RABAN, antworte!«
Im ersten Moment grübelt er darüber nach, was das jetzt in seiner Erinnerung zu suchen hat. Dann ist er hellwach.
»Entschuldige, Röiven. Was ist los?«
»Du musst sofort zu mir kommen. Ich bin vermutlich verrückt, aber hilf mir!«
»Bleib ruhig, mein Freund. Ich komme.« Damit ergreift der Junge den Haselstab und die Luft flirrt.
Die Dämmerung lichtet sich und ein sonniger Tag kündigt sich an. Raban steht unter der Buche, in der Zoe und Röiven ihr Nest errichtet haben. Er ist automatisch davon ausgegangen, dass der Rabe ihn hierher gerufen hat. Doch das Nest und die beiden Vögel sind nirgends zu erblicken. Hat der Junge einen Fehler beim magischen Sprung gemacht? Laut ruft er nach seinem Freund:
»Röiven, wo bist du?«, als auch schon ein schwarzer Schatten auf ihn herunterfällt.
Im ersten Moment fährt er vor Schreck zusammen. Sein Arm schnellt mit dem Stecken nach oben, um einen möglichen Angriff abzuwehren. Wie selbstverständlich murmelt er dabei »Sgiath!«, und errichtet eine Schutzglocke um sich.
»Endlich!«, knarzt die vertraute Stimme, während der Kolkrabe auf seinem Arm zu landen versucht. Der Schutz um den Jungen leuchtet bereits auf, als der Vogel ihn berührt. Sofort erklingt nun:
»Inhibeo«, und Röiven vermag auf dem Arm seines Freundes zu landen.
»Was ist denn los?«, will der Junge erstaunt wissen. »Bin ich hier nicht an der Stelle, wo ihr euer Nest gebaut habt? Ich sehe es gar nicht.«
»Das ist es ja, was mich verwirrt«, ist die unerwartete Antwort. »Ich zweifel bereits an meinem Verstand. Ich kann Zoe und das Nest nirgends finden. Erst dachte ich, es liegt an dem Zwielicht der Dämmerung. Da du aber auch hierher gekommen bist und das Nest vermisst, muss der Ort richtig sein. Aber, wo sind dann Zoe und unsere Kinder?« Laut erklingt sein fordernder Ruf: »ZOE! Zeige oder melde dich! Wo bist du, Zoe?«
Raban grübelt, welche Möglichkeiten es für das Verschwinden geben könnte.
»Kann Zoe ein weiteres Nest an anderer Stelle gebaut haben? Vielleicht, um irgendwelchen Feinden zu entgehen?«
»Das ist möglich«, bestätigt Röiven frohlockend. »Wir Fithich errichten manchmal mehrere Nester, um Ausweichmöglichkeiten zu haben. – Das kann es aber doch nicht sein. Dafür war die Zeit für nur einen Fithich zu kurz und wie hätte Zoe die Eier dorthin schaffen sollen. Ganz davon abgesehen, dass sie anschließend sicher nicht das bisherige Nest entfernt hätte. Wozu sollte sie das auch machen?« Verzweifelt lässt der schwarze Vogel seinen Kopf sinken. »Ihr ist etwas zugestoßen!«, krächzt er verzagt. »Sie wurde vermutlich getötet, ERMORDET!«
Raban schüttelt zweifelnd den Kopf. Eine Hand streicht beruhigend über den Rücken seines Freundes.
»Nein. Das kann ich nicht glauben. Warum sollte jemand so was machen?«
»Da gibt es verschiedene Gründe. Das Lumpenpack, die Krähen, warten doch nur darauf, uns Fithich eins auszuwischen. Sie schrecken auch nicht davor zurück, unsere ungeschlüpften Kinder zu töten, indem sie die Eier aufpicken und sie ausschlecken. – Das kann natürlich auch das andere Gesindel gemacht haben. Dohlen meine ich. Und es gibt auch noch unsere Verwandten, die Elstern. Sobald die etwas Glitzerndes bekommen können, sind sie zu allen Schandtaten bereit. Ja, das muss es sein. Jemand hat sie angeworben, unsere Kinder zu töten!«
»Röiven, bitte versuche klar und nüchtern zu überlegen! Wenn andere Vögel, egal aus welchem Grund das getan haben, hätten sie doch sicher nicht Zoe töten können!«
»Doch, das hätte das gemeine Gesocks sicher gemacht. Zoe hätte unsere Kinder mit allem verteidigt. Sie hätte gekämpft!. Sie hätte nie aufgegeben!«
»Nochmal, versuche logisch zu überlegen. Müssten selbst in diesem Fall nicht viele Federn hier verstreut sein? Davon wären in einem Kampf doch sicher mehrere ausgerupft worden, auf beiden Seiten.«
»Hm, also …«
»Und aus welchem Grund sollten andere Vögel anschließend das Nest verschwinden lassen?«
»Hey, richtig! Du hast Recht. Also sind wir doch an der falschen Stelle angekommen. Wir müssen nur den richtigen Baum finden, dann ist dort auch das Nest mit Zoe und unseren Kindern!« Der Kolkrabe hebt freudig seinen Kopf und schwingt sich in die Luft.
»Zoe, wo bist du. Melde dich! Zoe!«
»Röiven, komm zurück. Wir sind am richtigen Ort. – Röiven!« Doch der Rabe hört nicht. Aufgeregt fliegt er mal hierhin, mal dorthin. Immer wieder ruft er nach seiner Partnerin, doch ohne Erfolg.
Nach langer Zeit kehrt er müde und niedergeschlagen zu seinem Freund zurück.
»Ich finde sie nicht!«, seine Worte klingen verzweifelt, als er mit hängendem Kopf wieder auf dem Arm des Jungen sitzt.
»Der Ort ist richtig«, beginnt Raban langsam und vorsichtig. »Aber aus irgendeinem Grund ist das Nest verschwunden.«
»Das ist wohl wahr, aber warum?«, ist die knarzende Antwort.
»Röiven, könnte das ein anderer Rabe mit Zauberkräften gewesen sein?«
Sofort hebt der Vogel den Kopf und legt ihn schräg. Er klappert mit den Augendeckeln und erwidert:
»Was sagst du? Ein anderer Rabe mit Zauberkräften? Hm. ... Nein. Ich glaube nicht, obwohl …«
»Ja?«
»Ich muss gerade an Grimur denken.«
»Deinen Vetter, der dem Nachfahren der dunklen Zauberer, Baran, Zauberkräfte übertragen hat. Was ist mit ihm? Er wurde doch von Baran in Stein verwandelt.«
»Viele meiner Familie können zaubern, besser gesagt, konnten zaubern. Ich weiß nicht, ob es außer mir nach Großmutters Tod noch Mitglieder gibt, die das vermögen. – Hm. Ich überlege, ob es einem weiteren Enkel oder Urenkel der Dubharan gelingen konnte, erneut einen Raben zu überlisten.«
»Ist das vorstellbar?«
»Na ja, wir hatten nach Grimurs Tod einen Familienrat abgehalten und diese Möglichkeit als unbedingt verwerflich eingestuft. Alle hatten sich verpflichtet, die Erinnerung an Grimurs Tat und Tod weiterzugeben, damit sich das nie wiederholt.«
»Weißt du, wer damals bei dem Treffen anwesend war? Wir sollten mit ihnen sprechen. Eventuell wissen sie, wer in Frage kommen könnte.- Das setzt natürlich voraus, dass daraus letztlich das Verschwinden des Nestes resultiert.«
»Ja, genau. Außerdem könnte es auch ein Mitglied einer anderen Fithich Familie gewesen sein. Ich weiß aber immer noch nicht, warum das einer von uns Fithich getan haben sollte.«
»Eine Möglichkeit wäre, dich zu erpressen, wenn es so was bei Fithich überhaupt gibt. Eine andere wäre Rache. Du warst doch ein herausragender Gegner Barans, der wesentlich zu dessen Untergang beitrug.«
»Ich und du. Wir bildeten zusammen ein unschlagbares Team. – Wenn das aus Rache geschah … ist dann deine Familie nicht auch in Gefahr?«
»Hey, das ist möglich. Ich muss gleich Mom und Dad warnen. – Aber stopp. Wir müssen alles tun, um Zoe und eure Kinder zu finden. Hm. Wenn es tatsächlich um Rache geht, hätte die Zerstörung der Eier und Tötung Zoes Sinn gemacht. Es wäre demjenigen, der Rache will, doch sicher wichtig, dass du weißt, wer sich rächt. Aber hier gibt es keinerlei Spuren oder Hinweise. Also tendiere ich eher zu der Möglichkeit, dass du erpresst werden sollst.«
»Aber wer sollte mich erpressen und warum?«
»Was ein möglicher Erpresser erreichen will, kann ich nicht sagen. Das wird dieser dich schon wissen lassen.«
»Aber wie will er mich informieren. Ich bin doch nicht immer an derselben Stelle zu finden. Ihr Menschen habt doch einen festen Ort, wo ihr zu finden seid, aber wir Fithich?«
»Hm. Das ist ein guter Einwand … hm. Warte. Also … Könnte das sein?”
»Was ist dir eingefallen? Raban, sprich es aus.«
»Also, wir schließen Rache aus. Erpressung können wir vermutlich auch außer Acht lassen. Also bleibt nur übrig, dass es um Zoe oder um Zoe und eure Kinder geht. Ich meine, zweiteres trifft zu, da auch das Nest verschwunden ist.«
»Was? Warum?«
»Das ist die Frage. Kommst du mit zu meinen Eltern? Hier können wir im Moment nicht mehr erfahren. Zuhause kann ich Mom und Dad warnen, obwohl das sicher unnötig ist. Dann müssen wir weiter überlegen, welchen Grund es für die Entführung Zoes und eurer Kinder geben könnte. Vielleicht geht es auch gar nicht speziell um euch. – Im letzten Sommer sollten alle Fithich vernichtet werden. – Möglicherweise gibt es einen Hinweis in der Zeitung.«
»Ja. Einverstanden. Ich prüfe vorher noch einmal, ob dort oben, wo das Nest war, nicht doch ein Hinweis, oder eine Nachricht von Zoe zu finden ist. Bisher hatte ich nicht so genau nachgesehen, da ich meinte, hier nicht am richtigen Ort zu sein. Und es war noch nicht so hell wie jetzt.«
»Gut. Das solltest du unbedingt machen. Aber lass mich deine Sinne nutzen, damit wir gemeinsam nach Hinweisen suchen können. Vier Augen sehen mehr als zwei, obwohl ich dann deine mitbenutze.«
Raban liegt bereits auf dem Boden, entspannt sich und schließt die Augen. Er konzentriert sich auf seinen Freund und sendet seine Gedanken aus.
»Röiven, mein Freund. Lass mich deine Sinne nutzen.«
Sofort antwortet dieser:
»Was soll denn diese unnötige Anrede. Ich weiß doch, was du willst. Hey, das kribbelt. Was machst du? Oh, ich sehe nichts mehr. Wieso? W... was machst du mit mir? – Puh, jetzt kann ich wieder sehen. Ich hatte vergessen, wie sich das anfühlt und abläuft. Dann werde ich jetzt nach oben fliegen.«
»Einen Moment, ich muss mich erst wieder an den anderen Blickwinkel gewöhnen. Es ist etwas verwirrend, gleichzeitig in zwei fast entgegengesetzte Richtungen sehen zu können. Kannst du dich mal umschauen und dabei ein Auge schließen? Danach machst du das Gleiche, wenn beide Augen offen sind. So gewöhne ich mich dann sicher einfacher daran.«
»Aber das sieht doch vollkommen blöd aus, wenn ich ein Auge geschlossen habe.«
»Komm, mach schon. Hier ist außer uns doch keiner!«
Nachdem der Rabe so verfahren ist, fordert der Junge ihn auf, nach oben zu fliegen.
Nach kurzer Zeit ergänzt er: »Fliege bitte vorsichtig und ändere nicht so oft die Richtung. Mir wird etwas komisch.«
»Ich muss doch den Ästen ausweichen, anders geht das nicht«, knarzt es in Rabans Kopf.
» – Oh, gut. Du bist gelandet«, antwortet der Junge sofort erleichtert. »Jetzt schau dich um.«
Langsam ändern sich die Eindrücke, die von den Augen des Kolkraben an den Jungen übertragen werden.
»Ich finde nichts Außergewöhnliches«, meldet sich der Vogel, als er den Rundumblick beendet.
»Mir ist auch nichts aufgefallen. Schau doch auch noch auf die Zweige der Astgabel, in der das Nest fixiert war. Anschließend untersuche auch die Zweige, die sich direkt über dem Nest befunden haben.«
Erneut ändern sich die Bilder, aber es gibt wieder nichts Besonderes.
»Halt. Bitte schau noch einmal etwas zurück. – Gut, und jetzt gehe bitte etwas näher an den dicken Ast heran. Ob das etwas zu bedeuten hat?« Raban ist aufgeregt. Das Detail muss doch etwas bedeuten, aber was?
»Also, mir sagt diese Spur in der Rinde nichts«, meldet sich der Rabe.
»Auf den ersten Blick weiß ich auch keine Erklärung. Komm doch jetzt zu mir. Einen Moment, ich verlasse deine Sinne, bevor mir bei deinem Sturzflug schlecht wird. So, jetzt kannst du kommen.«
Röiven landet neben dem Jungen auf dem Boden und schaut diesen mit schräg gelegtem Kopf an.
»Du findest, diese Beschädigung des Astes ist wichtig?«
»Ich glaube schon, dass sie das ist. Euer Nest befand sich in größerem Abstand darunter. Seid ihr jemals darauf gelandet und habt eure Krallen hineingegraben?«
»Nein. Wir landen direkt auf dem Rand des Nestes. Es kann natürlich sein, dass wir darauf gesessen haben, bevor wir das Nest fertig gebaut hatten. Danach aber sicher nicht mehr.«
»Das habe ich mir gedacht. Die Spuren in der Rinde sind aber frisch. Sie sind zwar den Abdrücken eurer Krallen ähnlich, trotzdem sind die Abstände zwischen den einzelnen Kratzern größer, als sie es bei euren Krallen sind. Hm. Ich muss herausfinden, was das gewesen sein könnte.«
Doch nach einiger Zeit schüttelt Raban den Kopf.
»Es fällt mir nichts ein. Wir sollten jetzt in mein Zimmer wechseln. Nachdem ich, will sagen: wir, gefrühstückt haben, schau ich mir die Zeitung an. Danach werde ich erneut überlegen, was die Spuren bedeuten könnten. Manchmal ist es gut, eine Pause in den Überlegungen zu machen. Die Lösung fällt anschließend oft um so leichter.«
Der Junge nimmt seinen Haselstab, erhebt sich und der Rabe lässt sich auf seinem Arm nieder.
Im selben Moment flirrt die Luft und der Platz ist verlassen.