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Plötzliche Bedrohung

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Eila hat gerade im Wohnzimmer etwas aufgeräumt. Sie ist in dem hinteren Teil des Erdgeschosses, über eine etwas wackelige Stiege, in den Vorratskeller hinuntergegangen.

Eila steht jetzt in dem etwas spärlich erleuchteten Kellerraum. Sie will als Mittagessen Kartoffelsuppe mit Stücken von durchwachsenem Speck kochen, Großvaters Lieblingsessen. Da dafür zu wenig Kartoffeln im Korb in der Küche sind, muss sie noch einige aus dem Keller herauf holen.

Abrupt steht Eila still. Da ist ein unbekanntes Geräusch. Das hört sich nicht nach Großvater an. Der saß gerade noch im Wohnzimmer und war in ein Buch vertieft. Und Frau Dixon kommt doch heute am Mittwoch nicht.

Knarrte gerade die Stiege? Kommt jemand in den Keller? Sie spürt ein Kribbeln im Nacken.

Da vernimmt sie ein leises Zischen: »Wo ist es, wo versteckt es sich?«

Eila fühlt, wie sich ihre Härchen im Nacken aufrichten. Kann es hier im Weidenweg eine Gefahr geben? Das ist in dem gemütlichen Haus, in dem kleinen Dorf, doch nicht vorstellbar.

Jetzt sind eindeutig tastende Schritte auf der Stiege hörbar. Ein Brett knarrt. Die Luft wird kälter. Etwas Bedrohliches ist auf dem Weg in den Keller.

Eilas Gedanken rasen, ihr Herzschlag beschleunigt sich. Trotz aufkommender Panik sucht sie nach einem Ausweg, nach Hilfe. Instinktiv spürt sie, dass sie sich nicht bemerkbar machen darf. Also kann sie den Großvater nicht zur Hilfe rufen. Fluchtmöglichkeiten gibt es nicht, da nur die Stiege aus dem Keller führt. Wie kann sie entkommen, sich vor der drohenden Gefahr schützen?

Ihre Gedanken überschlagen sich. In Büchern und Erzählungen gibt es doch immer einen Ausweg!

Das Zischen kommt näher: »Wo ist es, wo versteckt es sich?«

Plötzlich ist ein Gedanke in ihrem Kopf, eine vage Erinnerung. Eilas Eltern hatten vor einigen Jahren mit den Großeltern über ein Buch gebeugt am Kaminfeuer gesessen. Sie sprachen, wie so oft, über abenteuerliche Geschichten, voller Gefahren und Magie. Aber waren es erlebte oder nur ausgedachte Geschichten? Sie war damals noch zu klein, um den Unterschied zu wissen.

Ihr rechter Fuß steht nur noch mit den Zehenspitzen auf dem Boden, ihre Ferse dreht sich dabei immer wieder nach Rechts und Links. Ein Wort oder Begriff, ein ganzer Satz tauchen aus Eilas Erinnerung auf. Die Kellerbeleuchtung beginnt zu flackern. Eilas Atem gefriert in der Kellerluft und ist als weißer Hauch zu sehen. Das Zischen scheint immer näher zu kommen. Ein eisiger Schauer läuft über ihren Rücken.

Da sie keinen anderen Ausweg weiß, hofft sie auf Hilfe durch das vermeintlich Unmögliche. Voller Angst flüstert sie die Worte dieser Erinnerung: »Incantamentum cuddio diogelu«. Ihr Haar beginnt zu knistern und leuchtet kurz mit einem rotgoldenen Schimmer an den Spitzen.

Sie kann plötzlich die Art des Bodens unter ihren Füssen fühlen, obwohl sie nicht barfuß ist, sondern Schuhe trägt. Er ist lehmig, mit feinen Quarzkristallen durchsetzt, festgestampft und trocken. Sie versinkt im Boden. Panik steigt in ihr auf. Sie verspürt aber keinen Druck der Erde auf ihren Körper und kann ungehindert atmen. Obwohl sie im Boden zu sein scheint, kann sie hören und sehen, was im Keller geschieht.

Sie hört weiter das Zischen, sieht wie eine dunkle Gestalt sich suchend durch den Keller hin und her bewegt, während ihr Herz immer stärker hämmert.

»Wer oder was ist das? Was hat es vor? Was kann ich tun?«

Das Wesen scheint sie nicht wahrnehmen zu können, hat der Spruch das bewirkt?

Da taucht plötzlich, wie aus dem Nichts, ein Glitzern auf, das sich zu einer weißen Gestalt verdichtet. Kurz darauf leuchtet ein Blitz in dem kleinen Keller auf. Er blendet fürchterlich, so dass Eila einige Zeit nichts sehen kann. Dafür hört sie aber Geräusche eines Kampfes. Die beiden Wesen poltern durch den Keller. Die Regale stürzen um, die Vorräte fliegen durch den Raum. Sie wird erstaunlicherweise weder verletzt noch bemerkt.

Nach einigen Minuten kann sie wieder etwas sehen und, obwohl einige Vorratsdosen direkt durch ihren Blick auf sie zu fliegen, fühlt sie sich nicht davon getroffen. Sie erkennt eine glänzend weiße Gestalt im Kampf mit der schwarzen. Der weiße Kämpfer ist ein junger Mann. Er hat ein schmales Gesicht und blonde Haare, die mit einem Band zu einem kurzen Pferdeschwanz im Nacken gebunden sind. Der schwarze scheint einem Menschen ähnlich, der aber zwei gebogene, kurze Hörner auf seinem Kopf hat. Es könnte sich aber auch um eine Art Kopfschmuck handeln, einen Helm mit daran befestigten Hörnern. Genaueres kann Eila nicht erkennen, da die beiden einander umklammern und ringend durch den Raum wirbeln.

Kurz darauf hört sie etwas, das wie »Dealanach« klingt. Ein erneuter Blitz erhellt den Keller, von dem der dunkle Kämpfer getroffen wird. Anschließend hört sie aus der Richtung noch »Portaro«.

Jetzt ist alles ruhig im Keller. Auch das Kribbeln in ihrem Nacken ist verschwunden.

»Sind die beiden fort? Ist sie die Gefahr vorbei? War sie wirklich bedroht?«

Nach einiger Zeit kann Eila in der Kellerbeleuchtung durcheinander geworfene Vorräte und zerstörte Regale erkennen. Das Zischen, die dunkle Gestalt und der weiße Kämpfer sind verschwunden. Nur eine dunkle, etwas rauchende Stelle ist noch zu sehen, dort hatte der schwarze Kämpfer zuletzt gestanden.

Sie will so schnell wie möglich aus dem Keller, sehnt sich nach der Beruhigung durch ihren Großvater. Eila möchte dringend eine Erklärung für das gerade erlebte bekommen, aber sie kann nicht aus dem Boden »auftauchen«.

Panik steigt wieder in ihr auf: »Wer war das, was ist hier passiert, warum kann ich nicht gehen?«

Sie zwingt sich zur Ruhe: »Denk’ nach. Es muss eine logische Erklärung geben.

Was ist alles geschehen, was hast du gesagt und was hast du gehört?«

In ihrer Angst hatte sie die Worte ausgesprochen, die in ihrer Erinnerung aufgetaucht waren. Langsam formen sich weitere Teile aus der Geschichte in ihrem Kopf. »Incantamentum cuddio diogelu« sind darin magische Worte. Sie wurden genutzt, wenn sich eine Person für andere unsichtbar im Erdreich verstecken und gleichzeitig einen Schutz für sich aktivieren wollte. Aufgehoben wurde dieser Zauber durch andere Worte, aber welche waren das nur? Diese Worte kamen ganz bestimmt auch in der damaligen Geschichte vor. Obwohl sie jetzt dringend von ihr benötigt werden, kann sie sich aber nicht erinnern! Die Gedanken rasen in ihrem Kopf.

Halt, was hatte sie gerade gehört, kurz bevor der Spuk vorbei war? Richtig, es klang nach einem lateinischen Wort. Latein kennt Eila aus der Schule. Auch eines der vorhin von ihr genutzten Worte ist lateinisch.

Kann mit Worten aus dieser und aus anderen Sprachen Zauberei bewirkt werden? Warum passiert dann in der Schule beim Lateinunterricht nichts Dergleichen?

Eila überlegt lange, welche Worte sie wählen soll. Falls sie Pech hat wird ihre Situation möglicherweise schlimmer. Vielleicht wirkt jetzt jedes von ihr gesprochene Wort magisch?

»Ich muss aber etwas versuchen«, denkt Eila. Sie kneift die Augen zu und spricht: »Incantamentum finito«. Sie hält kurz den Atem an. Nichts passiert. Trotz der stärker werdenden Angst versucht sie es mit einer kleinen Änderung noch einmal: »Incantamentum inhibeo«. Ihre Haare knistern und leuchten erneut kurzzeitig mit einem rotgoldenen Schimmer an den Spitzen.

Sie kann sich wieder bewegen und ist völlig unverletzt!

Eila hastet die Stiege hinauf und eilt durch den Korridor ins Wohnzimmer zum Großvater. Er sitzt in seinem Lieblingsohrensessel und ist mit einem aufgeschlagenen Buch im Schoß eingenickt. Er hat nichts von dem Lärm gehört!

Eilas Großvater Brian sieht mit seinem verwittertem Gesicht sehr charakteristisch aus. Es ist lang und hager mit einer Adlernase. Wenn Brian wach ist, lächeln einen ein Paar freundliche, aber auch etwas listig blickende, blau-graue Augen an. Jetzt sind geschlossene Lider mit feinen blauen Äderchen in den tiefen Höhlen unter überhängenden, buschigen Brauen zu sehen. Haar und Bart sind weiß, ebenso die Augenbrauen. Wenn Brian sich aufrichtet, ist er ein großer, mittlerweile aber etwas gebeugt gehender Mann.

Eila weckt ihn und erzählt aufgeregt das soeben Erlebte, wobei der Großvater immer beunruhigter wird. Trotzdem wirkt er nach außen ruhig. Er betrachtet Eila, die mit Spuren von Erde und Spinnweben von den Wänden des Kellers verschmutzt ist. Auch im Gesicht hat sie Schmutzstreifen, aber verletzt ist sie nicht.

Sie gehen zuerst etwas zögernd, gemeinsam nach unten in den Keller, danach vor und neben das Haus. Sie betrachten forschend die vorhandenen Spuren. Die Untersuchungen zeigen, dass sie es mit vorsichtigen und erfahrenen Einbrechern zu tun haben müssen, denn der Kiesweg zeigt keinerlei Fußstapfen. Nur unter dem Badezimmerfenster sind ein paar tiefere Eindruckstellen zu sehen. Ohne Zweifel ist von hier jemand ins Haus eingestiegen. Die Kampfspuren im Keller zeigen eindeutig, dass es sogar zwei gewesen sind. Aber warum im Keller, da gibt es doch höchstens Kartoffeln oder andere Vorräte zu holen? Und warum hatten sie miteinander gekämpft?

Eila erinnert den Großvater an die Blitze und wiederholt die gehörten und die von ihr benutzten Worte. Brian eilt darauf mit Eila ins Wohnzimmer und sucht im Schreibtisch.

»Wo ist Großmutters Armreif?«, fragt er aufgeregt.

»Ist dies der Armreif?«, antwortet Eila und zeigt ihr linkes Handgelenk. Ihr Arm ist eng von einem bronzenen, fingerbreiten, schlichten Reif umschlossen. Bis auf eine strahlende Sonne ist keine Verzierung darauf. Er blickt sie an.

»Genau, das ist er. Wann hast du den denn angelegt?«

Eila blickt etwas unsicher.

»Ich fand ihn heute Morgen, als ich die gestern Abend benutzte Lupe wieder in eine der Schubladen des Schreibtisches zurücklegen wollte. Der Armreif sieht so hübsch aus, dass ich ihn probehalber anlegte. Ich klappte den zweiteiligen Reif um mein Handgelenk zusammen. Es war ein leises klickendes Geräusch zu hören. Gleichzeitig schien der Armreif kurzzeitig etwas Wärme abzugeben. Ich bekam den Verschluss nicht wieder geöffnet und wollte dich später danach fragen.«

Brian steht ruhig da und überlegt einige Zeit. Schließlich nimmt er einen seltsamen Gegenstand aus Bronze aus einer der Schubladen. Zum Teil sieht er wie ein altmodischer Brieföffner aus. Der Griff ist aber wie ein Monokel geformt, das einen weißen Kristall einfasst. Nun sucht er in den Bücherregalen, nimmt nacheinander zwei alte, dicke Bücher heraus und legt sie auf den ovalen Tisch.

Brian hält die Messerseite des Brieföffners an das Gelenk des Armreifs und murmelt: »Aperio«. Der Reif ist für einen kurzen Moment etwas warm, ein Klack ist zu hören und der Verschluss ist geöffnet.

Eila staunt ihren Großvater ungläubig an: »War das jetzt — Magie? Du hast den Armreif doch kaum berührt.«

»So etwas in der Art«, entgegnet er. »Ich werde gleich eine Erklärung versuchen, dabei hilft mir das Buch«, lächelt er. »Habe also etwas Geduld.«

Beide setzen sich an den Tisch. Eila ist aufgeregt, während Brian bedächtig in dem ersten Buch zu blättern beginnt. Ziemlich weit hinten schlägt er es dann auf. Eila erkennt verschiedene Symbole, die wie alte Zeichen aussehen. Es sind Runen, gefolgt von längeren Textpassagen. Brian nimmt erneut den Brieföffner. Er hält diesmal den Griff mit dem Kristall an den Armreif.

»Kannst du die Runen auf beiden Innenseiten erkennen?«, fragt er.

Tatsächlich erscheinen dort nach kurzer Zeit mehrere der im Buch dargestellten Runen. Aufgeregt zeichnet Eila die Symbole auf ein Blatt Papier. Danach vergleichen beide die Zeichen mit den Symbolen im Buch und lesen die zugehörigen Texte. Nach längerem Rätseln, Interpretieren, Verwerfen und wieder Probieren, sind beide sicher, dass folgende Übersetzung die richtige ist:

Der Armreif stärkt den Auserwählten,

der Armreif schadet jedem Anderen.

Großvaters Augen glänzen und seine Wangen sind, genau wie Eilas, leicht gerötet.

»Was bedeutet das«, will Eila aufgeregt wissen.

»Warte noch etwas.«

Er öffnet das zweite Buch, blättert kurz darin und fordert sie dann auf, die von ihm gezeigte Stelle zu lesen. Mit Staunen stellt sie fest, dass dies die Geschichte ist, an die sie sich vorhin im Keller erinnerte. Die von ihr genutzten Worte wirkten genauso, wie sie in diesem Buch beschrieben werden. Eila schaut erstaunt auf den Titel des Buches, er lautet: »Anwendung magischer Sprüche«.

Eila denkt an die zurück liegende Unterhaltung mit Anna. Genau dieses Buch wollte sie studieren.

»Also sind das magische Worte, die ich benutzt habe. Aber warum kann ich damit überhaupt eine Wirkung erreichen?«

»Weil du eine Hexe bist, also ein weiblicher Zauberer! Die Fähigkeiten oder Kräfte eines Zauberers werden durch bestimmte Gegenstände verstärkt. Maireads Armreif ist ein sehr mächtiger Verstärker. Auch wenn du nicht ausgebildet bist, der Armreif hat dich unterstützt, als du diesen magischen Spruch sagtest.« Eila starrt den Großvater an, weiß nicht was sie sagen soll. »Auch wenn das unglaublich klingt, es ist wahr. Das wird eindeutig durch das bewiesen, was du gerade erlebt hast.«

Eilas Gedanken überschlagen sich, ist es möglich, dass sie eine Hexe ist? Aber das kann doch nicht sein!

»Bist du ein Zauberer? Du hast gerade ein Wort gesprochen, worauf sich der Armreif öffnete. Außerdem scheinst du die Zeichen in dem Armreif bereits vorher gesehen zu haben.«

»Nein, mein Kind, ich bin kein Zauberer. Deine Großmutter war eine sehr berühmte Hexe mit großer, magischer Kraft. Sie hat mir auch die Zeichen in dem Armreif gezeigt. Von ihr habe ich einige Worte gelernt. Um sie anwenden zu können, muss ich aber ein Hilfsmittel nutzen. Das hat mir Mairead beigebracht. Ein derartiges Hilfsmittel ist dieses Ensiculus Chartorum.«

»Vielleicht erinnerst du dich daran, dass deine Großmutter öfter mal für kurze Zeiten abwesend war. Sie unterstützte andere Zauberer im Kampf gegen böse Zauberer und deren Anhänger. Sehr oft konnte sie andere vor dem Tod erretten und das Bösen zurückdrängen. Mairead war in ihrem letzten Jahr sehr unruhig. Entweder merkte sie, dass ihre Zeit bald zu Ende ist, oder dass eine Bedrohung heraufzieht. Sie hat entgegen ihrer sonstigen Art den Armreif kaum noch abgelegt. Darum denke ich, sie spürte, dass die bösen Zauberer stärker werden.

Der Armreif hat eine magische Bedeutung, obwohl er für mich immer nur ein normaler Reif war. Sie beauftragte mich, ihn dir an deinem 18. Geburtstag, zusammen mit einem Brief, zu geben, falls sie dann nicht mehr leben sollte.« Er macht eine Pause. »Ich denke, dass du ihn unbedingt bereits jetzt lesen solltest! Das, was soeben im Keller geschehen ist, gefällt mir nicht. Ganz und gar nicht!«

Er steht langsam auf.

»Ich hole dir jetzt diese Nachricht. Ich denke, sie hat dir darin aufgeschrieben, was du wissen musst.«

Brian geht durch den Flur nach oben in sein Schlafzimmer und kommt nach kurzer Zeit ins Wohnzimmer zurück. Er setzt sich neben Eila und gibt ihr mit zitternden Händen einen verschlossenen Umschlag, während eine Träne über sein verwittertes Gesicht läuft.

»Dies ist Maireads Vermächtnis«, sagt er leise und mit bewegter Stimme, »bitte lies es.«

Die Dubharan

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