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Planungsstadien Risse und Vorlagensammlungen

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magister operis

Eine schriftliche Nachricht aus der Zeit der Frühromanik, aus den Jahren um 1030, berichtet, dass ein Baumeister den Abt Gauzlin gefragt habe, nach welchem Muster er denn den Kirchturm der französischen Klosterkirche von Fleury errichten solle. Die Antwort lautete: Er solle das so tun, dass das Resultat in ganz Gallien als nachahmenswertes und repräsentatives Vorbild gelten könne. Ein überregionaler Maßstab gab also den Bezugsrahmen ab. Der vornehme und ambitionierte Bauherr setzte voraus, dass sein Baumeister – der anonym geblieben ist – über die entsprechenden Vergleichsmöglichkeiten sowie über das technische Wissen verfügte, um dem geforderten Anspruchsniveau gerecht zu werden. Gauzlins hohe Anforderung an seinen Fachmann bedeuten freilich nicht, dass dieser schon als Architekt im neuzeitlichen Verständnis ausgewiesen war. Auch die Tatsache, dass seit etwa 1150 der Titel magister operis im Kontext des kirchlichen Bauwesens, das ja das Bauen im damaligen Europa beherrschte, zu einer Amtsbezeichnung aufstieg, impliziert noch nicht die Etablierung eines wirklichen Architektenstandes. Martin Warnke, der sich ausführlich mit architektursoziologischen Fragen des Mittelalters auseinandergesetzt hat, wies die Unwahrscheinlichkeit nach, dass der Titel damals bereits ein projektunabhängiges, d.h. ein permanent ausgeübtes Amt meinte. Derjenige, der diesen Posten befristet innehatte, fungierte vielmehr primär als Verwalter, Vermittler, Organisator, der die einzelnen Arbeiten und Arbeitsschritte an Handwerker delegierte.

Der Baubetrieb vor der Epoche der Gotik, so lässt sich anhand vieler Indizien erschließen, kannte, wenn überhaupt, nur recht schematische Modelle und Vorlagen. Da keine detailliert vorbereitenden Zeichnungen und Risse zur Hand waren, bedurften die ausführenden Steinmetze kontinuierlicher Regieanweisungen. Deshalb mussten die leitenden Baumeister unablässig auf der Baustelle präsent sein. Mithilfe von Seilen, Messlatten und dem großen Bodenzirkel legten sie die Eckdaten fest. Sie steckten den Grundriss mit Schnüren auf dem planierten Boden ab und fixierten zudem jene Punkte, an denen das spätere Aufrisssystem von Travéen, Stützen und so weiter ansetzte. Genauere Details riss der Baumeister dann mit dem Bodenzirkel – wie ihn auch der göttliche Demiurg in der Miniatur der Bible moralisée verwendet (vgl. Abb. 2) – in den mit Gips bedeckten Reißboden. „Riss“ leitet sich dabei her von „reißen“, ritzen, eine Linie grafisch festlegen. Zur Profilierung einzelner Elemente wie Wandvorlagen oder Kämpferplatten fertigte er – meist hölzerne – Schablonen. In Frankreich, genauer gesagt der Île-de-France, haben Restauratoren auch Ritzzeichnungen aus der Zeit um 1200 aufgedeckt, eingraviert in Mauern und Böden, die die Umsetzung der Bauplanung im Maßstab 1:1 ermöglichten, von Abschnitt zu Abschnitt, von Joch zu Joch fortschreitend. Bis tief ins 12. Jahrhundert hinein wurden somit die die einzelnen Quader erst unmittelbar vor ihrer Integration in den anstehenden Mauerverband zugerichtet. Im Winter, wenn aus klimatischen Gründen keine Steine versetzt werden konnten, ruhte notgedrungen die Arbeit auf der Baustelle.

Planzeichnung

In der Hochgotik, in den Jahren unmittelbar vor 1220, zeichnete sich dann der Beginn einer Revolution im Bauwesen und seinen Planungsstadien ab. Ihre Auswirkungen sind gar nicht hoch genug einzuschätzen. Wahrscheinlich zuerst in der Picardie und zwar anlässlich der immensen Anforderungen, die der Kathedralbau mit sich brachte, wuchs nämlich die maßstäblich verkleinerte Planzeichnung zum ausschlaggebenden Medium architektonischer Konzepte heran.

Reimser Palimpseste

Die frühesten Beispiele sind zwei Fassadenrisse, die als Reimser Palimpseste in die Kunstgeschichte eingegangen sind.

Bauhütten

Nunmehr veränderte sich die Tätigkeit des Architekten grundlegend. Erst jetzt verwandelte sich der Architekt vom bautechnischen Praktiker zum „Konzeptkünstler“ und „Theoretiker“. Er begann, sich aus dem Handwerkerstand herauszulösen. Die Anleitung bei den manuellen Aufgaben übernahm an seiner Stelle der Polier, dessen Berufsbezeichnung abgeleitet war vom französischen Verb parler (sprechen). Er war also der Vermittler zwischen dem Planer und den ausführenden Steinmetzen und Handwerkern, die die zusätzlichen Arbeiten in Holz wie etwa Dachstühle, in Eisen, beispielsweise für Armierungen, in Glas für Fenster und so weiter auszuführen hatten. Da von da an exakte Pläne und Detailzeichnungen vorlagen, konnte man die einzelnen Elemente, insbesondere die schichtweise zu versetzenden Quader, doch auch Dekorformen wie Kapitelle seriell und maßstabsgerecht vorfertigen. Zu diesem Zweck entstanden die beheizbaren Bauhütten (frz. loge, engl. lodge), in denen auch im Winter vorproduziert wurde, um die Stücke dann im Frühjahr sofort verbauen zu können. Dieses Verfahren sparte Zeit und folglich Geld – nicht der unwichtigste Grund dafür, dass das Bauvolumen der Kathedralen bis dahin ungeahnte Ausmaße annahm.

Erst jetzt erfüllte der Architekt wirklich jenes Ideal, das ihm die Architekturtheorie seit der Antike zuschrieb, nämlich sein Werk schöpferisch den artes liberales anzunähern. Indem er sich der Planzeichnung bediente, wurde es ihm möglich, mehrere Baustellen zugleich zu betreuen. Auch konnte postum nach seinen Plänen weitergebaut werden. Freilich dauerte es seine Zeit, bis dieser Prozess abgeschlossen war. Auch verlief er in unterschiedlichen Ländern unterschiedlich rasch. Vielfach basierte das Wissen des Architekten nicht nur auf architekturtheoretischen Erwägungen, etwa dem Umgang mit tradierten geometrischen Konstruktionssystemen wie Quadratur und Triangulatur, sondern lange noch auf empirischer Erfahrung und handwerklicher Schulung.

Dennoch, der Prozess, der jetzt eingeleitet war und die theoretische Ausrichtung des Architekten zunehmend wichtiger machte, beförderte die vorbereitende Risszeichnung zum grundlegenden Medium einer jeden Bauplanung. Der Grundrisszeichnung ist, seit sie in der Gotik erstmals die Bühne betritt, auch eine Reihe von Indizes einbeschrieben, die Hinweise auf die räumliche Disposition, vornehmlich auf das geplante Wölbungssystem, die Kreuzrippen in Haupt- und Seitenschiffen einer Kirche geben. Das war auch insofern sinnvoll, als die den Rippenbögen zugeordneten Stützen schon im Fundament vorbereitet sein mussten.

Baurisse

Die lineare Geometrie, die der Architekt seit der Gotik dem Konzept eines Baues als Entwurfsprämisse zugrunde legte, kam später der idealtypischen Orientierung der Renaissancetheoretiker in besonderer Weise entgegen. Hinter ihr stand die Überzeugung vom disegno, der differenzierenden Linie, an der die darstellenden Künste und die Architektur gleichermaßen partizipieren. Der Disegno formt sich als disegno interno („innere Zeichnung“) zuerst in der Vorstellungskraft des Malers, Bildhauers, Architekten. Die im disegno interno sich niederschlagende Potenz des gedanklichen Entwurfs prüft der Künstler dank seines Urteilsvermögens, um das Konzept anschließend im disegno esterno zu materialisieren, d.h. von der ersten Kompositionsskizze bis zur Reinzeichnung bzw. zum maßstabsgerechten Riss zu vervollkommnen. Folgerichtig überschrieb Leon Battista Alberti, der große italienische Architekt und Theoretiker des 15. Jahrhunderts, das erste seiner zehn Bücher über die Baukunst mit den Worten „Über die Risse, deren Bedeutung und Zweck“. Und er definierte lapidar im ersten Kapitel: „Die ganze Baukunst setzt sich aus den Rissen (lineamentis) und der Ausführung (structura) zusammen.“

Giotto

Die Bedeutung des Disegno erklärt auch, warum man in Italien seit dem Trecento häufig einen Nichtspezialisten mit dem Entwurf eines Bauwerks betraute, sofern er über Skizzen, Zeichnungen oder Risse die von den Auftraggebern sanktionierten Ideen zu visualisieren verstand. Hauptsächlich waren es Maler, die ausgewählt wurden, besonders solche, die in höfischen Diensten standen. Nachdem Giotto 1330 in Neapel den Posten eines Hofmalers erhielt, konnte er folgerichtig vier Jahre später das Amt eines Florentiner Dom- und Stadtbaumeisters unter Konditionen übernehmen, die ihn von allen hinderlichen Zunftvorschriften befreiten. Seine Hauptaufgabe bestand ab 1334 darin, den Aufbau und in Teilen auch schon die skulpturale Dekoration des Dom-Campanile zu entwerfen und zeichnerisch festzuhalten. Dass man einen Mann wie Giotto für diesen Zweck engagierte, beweist, dass man in ihm einen Repräsentanten des Disegno sah, der überdies durch seine Distanz zum lokalen Baugeschehen die Souveränität besaß, überregionale Architekturtheorien und -prinzipien in Florenz zur Geltung zu bringen.

Doch nicht nur im Rahmen des Entwurfsprozesses erhielt die Architekturzeichnung in der italienischen Renaissance ihren unumstrittenen Stellenwert. Architekten bedienten sich ihrer auch, um den Bestand älterer Bauwerke, insbesondere solcher aus der Antike, für Vorlagensammlungen oder sonstige Atelierbelange minutiös festzuhalten. Dafür gab es zwei grundsätzliche Darstellungsmöglichkeiten: einmal die zentralperspektivische Zeichnung mit dem gemeinsamen Fluchtpunkt aller Linien, die die räumlichen und plastischen Werte eines Bauwerks verdeutlichen konnte oder aber die Orthogonalprojektion, die die Aufrisse der Gebäude in ein strenges Rastersystem einfügte. Diese Projektion verzichtete also auf die Illusionsleistung und vermied optische Verkürzungen und Verzerrungen. Ihr Vorzug bestand andererseits darin, die faktischen Maß- und Proportionsverhältnisse der einzelnen Architekturglieder sowie die Koordination der Formen zu objektivieren.

Villard de Honnecourt

Die Geschichte der Vorlagensammlungen beginnt, zumindest nach Ausweis der erhaltenen Zeugnisse, mit dem berühmten Bauhüttenbuch des Villard de Honnecourt, das unter der Signatur ms. fr. 19093 in der Pariser Nationalbibliothek einzusehen ist. Der aus der Picardie stammende Verfasser stellte es um 1230/35 zusammen und illustrierte es mit Zeichnungsskizzen und Rissen, die manchmal recht einfach, fast naiv wirken, gemäß den vielen Eindrücken, die er auf ausgedehnten Reisen zu den wichtigsten Bauhütten Frankreichs sowie durch Europa bis tief nach Ungarn gesammelt hatte. Villard war gewiss kein führender Architekt seiner Zeit, wenn er überhaupt einer war, aber er war ein sehr neugieriger Beobachter, der alles an Baudetails, an Bauplastik oder technischen Vorrichtungen festhielt, was ihm bemerkenswert zu sein schien. Lange Zeit blieb Villards Musterbuch ein Unikum. Erst in der italienischen Renaissance legte man wieder umfangreichere Vorlagensammlungen an. Giuliano da Sangallo, um nur ihn zu nennen, vereinigte in seinen Skizzenbüchern Grund- und Aufrisse von Bauwerken, Architekturpläne, Darstellungen von Bauplastik und Ähnliches, Dinge, die er im Laufe seines langen Berufslebens gesehen und kopiert, partiell auch selber entworfen hatte.

Mailänder Dom

Architekturzeichnungen und Vorlagensammlungen spielten naturgemäß eine große Rolle bei den Architektenwettbewerben, die seit der Spätgotik und erneut vor allem in der Renaissance durch Quellen belegt und mehr oder weniger genau geschildert werden. So haben sich beispielsweise die Protokolle der Mailänder Dombauhütte von 1386 an erhalten. Es ging darum, technisch-konstruktive und statische Probleme zu diskutieren, ferner die damit verbundenen stilistischen Fragen des 1386 begonnenen Dombaus zwischen lokalen Architekten und von weit her angereisten Bauhüttenleitern, darunter Heinrich Parler und der Baumeister des Ulmer und Straßburger Münsters, Ulrich von Ensingen. Mit der aufschlussreichen Sentenz „Ars sine scientia nihil est“ – die Kunst des Bauens ohne Wissenschaft ist nichts – erinnerte der aus Paris nach Mailand gekommene Architekt Jean Mignot 1399 seine Kollegen an ein fast gleichlautendes Diktum des römischen Schriftstellers Cicero. Und er ermahnte sie, über der Technologie doch bitte die Theorie, die scientia, die Kenntnis mathematisch-geometrischer Regeln und ähnlicher Vorgaben, nicht zu vergessen.

Im 20. Jahrhundert, um auch ein Beispiel aus der Moderne zu bringen, wurden 1928 im Schweizer Ort La Sarraz die Congrès Internationaux d’Architecture Moderne (CIAM) ins Leben gerufen, internationale Kongresse, die bis 1957 abgehalten wurden. Ihr Ziel war es, Probleme in der Gemeinschaft zu behandeln, die einen einzelnen Architekten überfordert hätten. Man wollte dadurch dem häufig hilflos isolierten Architekten einen theoriegestützten Rückhalt geben. Der zweite, 1929 in Frankfurt am Main abgehaltene Kongress widmete sich dem Thema „Die Wohnung für das Existenzminimum“. Die Diskutanten bedienten sich einer Reihe von Zeichnungen, die den identischen Maßstab verwendeten, um alle einzelnen Beiträge unmittelbar vergleichen zu können. Pläne, Zeichnungen und Risse fungierten auch weiterhin als das wichtigste Medium, mit dessen Hilfe die zum Teil avantgardistischen Vorschläge der CIAM debattiert und der interessierten Öffentlichkeit vorgestellt wurden.

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