Читать книгу Architektur verstehen - Norbert Wolf - Страница 6
Vorwort
ОглавлениеDer Philosoph Ludwig Wittgenstein, der anfänglich Ingenieurwissenschaft studiert hatte, verglich einmal die Architektur mit einer Geste: „Nicht jede zweckmäßige Bewegung des menschlichen Körpers ist eine Geste. Sowenig, wie jedes zweckmäßige Gebäude Architektur.“ Der Aphorismus besagt, dass sowohl zur Geste wir zur „gebauten Geste“, also zur Architektur, etwas hinzukommen muss, was über den praktischen Zweck hinausführt. Zur „Geste“ wird Architektur erst und nur dann, wenn sie auf eine tiefere Bedeutung verweist. Vergleichbares hatte der russische Dichter Nikolai Gogol im Sinn, als er schrieb: „ […] die höchste Kunst ist die Baukunst, und alle Baukunst – Poesie.“ Ein anderer Dichter, der Österreicher Hugo von Hofmannsthal verband um 1900 die architektonische Poesie gar mit dem Träumerischen. Bestes Sinnbild dafür schien ihm Palladios Villa Rotonda aus dem 16. Jahrhundert: „Was den Hügel von Vicenza krönt, ist nicht mehr Tempel, nicht mehr Haus, und mehr als beides. Ein unsterblicher Traum, ein wundervoll geformtes Ziel […].“
Das vorliegende Buch will dazu beitragen, Architektur als „Geste“ und als poetisches Zeichensystem zu verstehen. Indes, man könnte der Architektur als Bedeutungsträger unter solchen Vorzeichen nicht gerecht werden, würde man sich nicht zuerst ihrer technisch-technologischen Natur vergewissern. Und würde man nicht einzelne Bauwerke im Kontext größerer, d.h. in erster Linie urbanistischer Zusammenhänge sehen lernen. Erst von solchen Grundlagen aus führt der nächste Schritt zur Analyse der über den Nutzwert hinausgehenden Aufgaben sowie zu den symbolischen Seiten künstlerisch gesteuerten Bauens.
Das Unterfangen, den Nicht-Spezialisten mit den wichtigsten Techniken, Gestaltungsmethoden und Aufgaben der Architektur bekannt zu machen, bringt naturgemäß Probleme mit sich. Die vielen Themen, die in diesem Buch zur Sprache kommen, stellen selbstverständlich nur einen Ausschnitt aus einem riesigen Stoffgebiet dar, einen Ausschnitt allerdings, in dem ich das Wesentliche im Kernbereich des Untersuchungsfeldes zu erfassen suchte. Obwohl keine chronologisch fortlaufende Stilgeschichte westlicher Architektur beabsichtigt ist, werden sich auch derartige Entwicklungslinien abzeichnen, zumindest die markantesten unter ihnen. Überdies wird an vielen Stellen deutlich werden, wie zahlreich die Impulse waren, die die klassische Antike zur abendländischen Architekturentwicklung beigesteuert hat. Die byzantinische Kunstlandschaft konnte dagegen nur sporadisch zu Wort kommen. Um die „Lesbarkeit“ nicht zu erschweren, enthält das Buch keinen Anmerkungsapparat, die Bibliografie das thematisch Notwendigste inklusive des Nachweises der wenigen Zitate. Die Lebensdaten der im Text erwähnten Künstler sind im Namensregister untergebracht.