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Zwischen Mythos und Großraumbüro
ОглавлениеLabyrinthe
In gotischen Kathedralen Nordfrankreichs fanden und finden sich vereinzelt noch jetzt, eingelegt in den Fußboden des Mittelschiffs, kreisförmige Labyrinthdarstellungen von beträchtlichem Durchmesser, meist zwischen zehn und zwölf Meter. In der Regel sah und sieht man sie in der Nähe des Haupt-, d.h. des Westportals. Unter dem von Westen aus gerechnet dritten und vierten Joch der am 24. Oktober 1260 geweihten Kathedrale von Chartres liegt das größte der noch erhaltenen Labyrinthe. Seit alters hielt sich in der Stadt das Gerücht, darunter sei der Architekt des Gotteshauses begraben. Zerstört, aber durch Quellen belegt, sind das gegen 1288 entstandene Labyrinth der Kathedrale von Amiens, in dessen Zentrum vier inkrustierte Bildgestalten, nämlich ein bischöflicher Bauherr und drei Architekten, eingepasst waren, ferner das um 1300 angelegte Labyrinth in der Kathedrale von Reims, das wie in Amiens in vereinfachter Form die verantwortlichen Baumeister wiedergab und durch Inschriftbänder kennzeichnete: Jean d’Orbais, Jean de Loup, Gaucher de Reims, Bernard de Soissons.
Dädalus
Diese seltsamen Gebilde hatten verschiedene Bedeutungen. Die Labyrinthe in Amiens und Reims verwiesen u.a. auf die mythische Gestalt des Daidalos und auf jenes Labyrinth, das dieser der Sage nach im Palast des Königs Minos auf Kreta, in Knossos, angelegt hatte. Daidalos, latinisiert Dädalus, war Ahnherr aller Architekten und Ingenieure, hatte er doch für seinen Sohn Ikarus jenen Flugapparat entwickelt, mit dem dieser aus Übermut abstürzte. Mit diesem antiken Allroundgenie und fabulösen Schöpfer weiterer wundersamer Maschinen hat man die gotischen Kathedralbaumeister verglichen. Nicht das Labyrinth als Irrgarten, vielmehr das Labyrinth als Ausweis ingeniöser, technischer Erfindungskraft wurde hier zitiert. Unter diesem Vorzeichen haben auch Weltkarten und Handschriftenillustrationen des frühen und hohen Mittelalters Daidalos zum Stellvertreter aller sonst namentlich unbekannten antiken Architekten befördert.
Vitruv
Der Mythos versinnbildlicht in Gestalt des Daidalos die altgriechische Wortbedeutung von architekton: Urschöpfer. Der Architekt ist der uranfängliche Kulturheros, er praktiziert mit der schöpferischen Kraft der architektoniké die federführende Kunst respektive Kunstfertigkeit, die von allem Anfang an die menschliche Zivilisation ermöglichte und vorantrieb. Architektur setzt Wissen, setzt Intellektualität, setzt geistige Höchstleistung voraus. Das war auch das Kriterium, mit dem Scamozzi, wie oben erwähnt, die Überlegenheit des Architekten über den Baumeister postuliert hatte. Scamozzi und andere Renaissancetheoretiker konnten sich dabei auf den Architekturtraktat Vitruvs (De architectura libri decem – Zehn Bücher über die Architektur) stützen. Zu Beginn des ersten Buches ist zu lesen, dass das Talent des Architekten zahlreiche wissenschaftliche Disziplinen und elementare Kenntnisse umfassen müsse, weswegen der Architekt die Vertreter der sonstigen Künste überrage und die Architektur an der Spitze aller anderen Künste stehe. Die Berufung des Architekten speise sich aus der fabrica, paraphrasierend zu übersetzen mit „Hand-Werk“, sowie der ratiocinatio, der geistigen Arbeit. Fabrica ist nach Vitruv die kontinuierliche, auf empirischer Erfahrung basierende Ausübung einer praktischen Tätigkeit mit dem Ziel, ein Werk aus der Materie formend herauszuschälen; ratiocinatio die Fähigkeit, die in derartige Dinge investierte handwerkliche Geschicklichkeit und planvolle Berechnung künstlerisch transparent und zum symbolischen Bedeutungsträger zu machen.
Der Vorrangstellung der Architektur über die bildenden Künste hatte bereits Platon das Wort geredet. Er unterschied in mehreren seiner philosophischen Dialoge zwischen mimetischen und hervorbringenden Künsten. Letztere, zu denen die Architektur zählt, haben Vorrang vor jenen Künsten, die sich mit bloßer intuitiver Naturnachahmung zufriedengeben. Im Gegensatz zu ihnen bedienen sich die hervorbringenden Künste des abstrakten, geistigen Regelwerks von Zahl- und Maßsystemen. Nur sie sind imstande, ein wirkliches Kunstwerk zu generieren, das in allen seinen Teilen einer internen Ordnung gehorcht. Wenig später sollte auch Aristoteles, darin Platon folgend, die Architektur von den mimetischen, den nachahmenden Künsten trennen, denen sie aufgrund ihrer Ordnung, Symmetrie und mathematischen Komposition und deshalb aufgrund ihrer ideeller Schönheit überlegen sei.
septem artes liberales
Der griechisch-antike Ausdruck für Kunst (techne) und sein lateinisches Äquivalent (ars) bezeichnen nicht die schönen Künste im modernen Verständnis, sondern diverse menschliche Tätigkeiten, die wir heute dem Bereich des Handwerks und der Wissenschaften zurechnen würden. Eine abschließende Klassifizierung der wichtigsten dieser Tätigkeiten fand zeitlich lange nach Platon und Aristoteles statt und wurde in der lateinischen Spätantike endgültig kodifiziert. Das Ergebnis war der Kanon der septem artes liberales, der sieben freie Künste, bestehend aus Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik, genauer gesagt: Musiktheorie. Die Dichtkunst ist nicht eigens aufgeführt, war jedoch mit Grammatik und Rhetorik verknüpft. Auch die Architektur taucht nicht auf, aber auch sie ist in diesem Kanon enthalten, wenn auch versteckt. Denn sie geht gewissermaßen eine Symbiose mit der Musik ein. Beide Disziplinen behaupten, dass natürliche wie künstlerische Schönheit nicht ohne Zahl entstehen kann.
Architektur und Musik
Deshalb pries auch der Kirchenvater Augustinus um 400 n. Chr. unter den Künsten die Musik und die Architektur als die höchsten, weil sie auf Zahlengesetzlichkeiten beruhen. Die Baukunst versteht er als Abbild jener ewigen Harmonie, die als musica mundana, als Sphärenharmonie das Weltall durchdringt, als musica humana Leib und Seele des Menschen in Einklang bringt und als musica instrumentalis schließlich Harmonien hörbar werden lässt.
Die an Platon geschulten philosophisch-theologischen Denker der Kathedralschule von Chartres schildern folgerichtig gegen Ende des 12. Jahrhunderts Gott selbst als Architekten, der die Welt nach mathematischen Regeln erschuf. Eine der bekanntesten Miniaturen der abendländischen Buchmalerei, in einer französischen Bible moralisée, einer Handschrift aus den Jahren um 1225 (Abb. 2), stellt Gott als Weltenschöpfer, als Demiurgen, dar und vergleicht den Schöpfungsakt mit einer architekturplanerischen Leistung. Das unterstreicht die damalige Bedeutung der Architektur und des Architekten, zumal im Land der gotischen Kathedralen. Der Zirkel, mit dem Gott hantiert, umreißt die Perfektion von Maß und mathematischer Ordnung im kosmischen Zusammenhang. Eine Vollkommenheit, die gleichbedeutend ist mit universaler Schönheit. Angesichts dieser und verwandter Darstellungen verwundert es nicht, dass die Architektur im mittelalterlichen Denken nicht den als Handwerk eingestuften artes mechanicae integriert wurde, wenngleich man sie auch nicht, wir hörten es, wie die Musik explizit zu den artes liberales zählte. Sie besaß eine Sonderstellung.
Architektur als Ordnungsmacht
Der auf mathematischen Gemeinsamkeiten beruhende Gleichklang zwischen der Musik und der Architektur übernahm erneut eine tragende Rolle in den Kunsttheorien der Renaissance und des Barock, und zwar nicht nur in Italien, sondern europaweit. Nicht minder war das der Fall im 18. Jahrhundert, also zu einem Zeitpunkt, als sich das moderne System der schönen Künste herauszukristallisieren begann. Und dazu gehörten jetzt neben Musik und Poesie die Malerei, Bildhauerei und die Architektur. Und nach wie vor beanspruchte unter den drei zuletzt genannten Gattungen die Architektur die Vormachtstellung, sie beanspruchte, Ordnungsmacht zu sein, die Protagonistenrolle bei der Schaffung von Gesamtkunstwerken innezuhaben.
Le Corbusier
Die Vorstellung, dass der Architekt ein „Weltenschöpfer“ sei und aufgrund dieser Rolle den Spitzenplatz in der Rangskala der Künste einzunehmen habe, verschwand auch in der Moderne nicht – obwohl jetzt der Ingenieur zu einem ernsthafte Konkurrenten heranwuchs. Charles-Edouard Jeanneret, der sich Le Corbusier nannte, ist ein Paradefall. In seinem 1923 veröffentlichen programmatischen Buch Vers une architecture behauptet er in nachgerade missionarischer Weise, der Architekt bringe die baulichen Formen in eine Ordnung, die rein seinem Geiste entspringt – und das Maß dieser Ordnung stehe im vollkommenen Einklang mit der Weltordnung. Partiell ist das, was Le Corbusier in seinem Manifest ausdrückt, auch in anderen architekturtheoretischen Passagen der Zeit enthalten, aber in der provokativen Zuspitzung Corbusiers ist das Ganze doch eine individuelle Kampfansage gegen jede nüchterne Einordnung des Architektenstandes. Eigenartigerweise ist es die Ingenieurästhetik, die diesen universalen Gleichklang herstellen und den Architekten zum Kollegen des göttlichen Demiurgen erheben soll. Jenen neuzeitlichen Allmachts- und Weltverbesserungsanspruch kommentiert Hanno-Walter Kruft folgendermaßen: „Der Gedanke, dass Architektur erzieherisch auf die Gesellschaft wirken könne, ist seit der Aufklärung geläufig; bereits bei Ledoux [um 1800] erhält der Architekt eine Führungsrolle in der Gesellschaft zugewiesen. Bei Le Corbusier (ähnliche Formulierungen finden sich gleichzeitig bei Mies van der Rohe) kommt es zu einer völligen Überschätzung der Rolle des Architekten im sozialen System. Der Architekt wird zum pseudoreligiösen Erlöser der Menschheit […].“
Abb. 2 Gott als Weltengründer, Miniatur in einer französischen Bible moralisée-Handschrift, um 1225; Deckfarben auf Pergament, 34,4 × 26 cm; Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Codex Vindobonensis 2554, fol. 1v
Museum Brandhorst
Seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts sah sich freilich jedes noch so große Selbstbewusstsein der Architekten zunehmend komplizierteren Anforderungen an den Beruf konfrontiert. Mit rapide steigender Tendenz. Als beispielsweise 2009 in München das Museum Brandhorst eingeweiht wurde, fiel besonders die Fassadenverkleidung aus 36.000 vierkantigen, vertikal angebrachten Keramikstäben vor den Betonwänden auf. Daraus resultieren nicht nur raffinierte optische Wirkungen, vielmehr leistet das verantwortliche Architekturbüro Sauerbruch-Hutton mithilfe dieses „Dekors“ auch einen wichtigen Beitrag zur Geräuschdämmung. Denn die Keramikstäbe verkleiden eine perforierte Blechschicht, die als Schallschutz gegen den massiven Verkehrslärm dient. Im Übrigen sind im Inneren die modernsten Erkenntnisse hinsichtlich der Energieeffizienz berücksichtigt. Wenn schon an einem Gebäude mit relativ kleinem Bauvolumen derart viele Faktoren zusätzlich zu Ästhetik und unmittelbarer Funktionalität bedacht werden wollen, kann man sich vorstellen, welche Anforderungen mit der Realisierung eines der wesentlich aufwändigeren modernen Projekte einhergehen. Man nehme etwa das 1997 nach Plänen von Frank O. Gehry fertiggestellte und sofort zur Weltsensation gewordene Guggenheim Museum in Bilbao. Abgesehen von der ästhetischen Struktur geschwungener, sphärisch unterschiedlich gewellter Teilformen (vgl. Abb. 28), durch die der Außenbau fasziniert, stellten die stark reflektierenden, mit Titanium verkleideten Kompartimente die größte technische Herausforderung dar, zu bewältigen nur mithilfe neuester Computerunterstützung. Gehry und sein Planungsteam scannten ein reales Modell dreidimensional ein. Das daraus resultierende Computermodell ordnete jedem Element eine präzise Position und Dimension zu, Voraussetzung dafür, dass die Krümmung der einzelnen Bleche exakt zu definieren war. Wie Schnittmuster wurden diese Vorgaben an die Hersteller der Bleche geschickt. Vorher hatte man die Eigenschaften von 29 unterschiedlichen Materialien diskutiert und sich schließlich seiner Leichtigkeit wegen für Titanium, überzogen mit Silikondichtstoffen, entschieden. An untergeordneten Gebäudepartien verwendete man außerdem Kalkstein, Glas und Marmor.
Norman Foster
Es liegt auf der Hand, dass derart komplexe Bauvorhaben in der praktischen Umsetzung und in Anbetracht flankierender Sparmaßnahmen kommunaler oder staatlicher Auftraggeber die Gefahr von Bau- und Konstruktionsfehlern erhöhen. Immer raffinierter und energieeffizienter werdende Materialien, das Auslagern planerischer und unternehmerischer Verantwortung, der Umstand, dass nicht jeder gute Architekt auch ein gleich guter Ingenieur oder Statiker ist, sowie eine ganze Reihe weiterer Faktoren tragen das Ihre dazu bei. Mehr als verständlich deshalb, dass heutzutage die meisten Stararchitekten ihre Projekte gemeinsam mit einem Mitarbeiterstab in Großraumbüros und deren internationalen Dependancen entwickeln. Ein beliebiger Fall sei herausgegriffen: Der Brite Norman Foster, der seit der Mitte der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts zu den weltweit gefragtesten Planern avancierte, beschäftigt für seine zahlenmäßig kaum noch überschaubaren Groß- und Kleinarchitekturen in Büros, die über die halbe Welt verstreut sind, rund 600 hochqualifizierte Spezialisten. Nun war der Architekt als Planer in der westlichen nachantiken Architekturgeschichte keineswegs von Anfang an eine Selbstverständlichkeit. Um den Prozess zu skizzieren, in dem sich dieses Berufsbild im Mittelalter herauskristallisierte, wendet man sich sinnvollerweise den historisch unterschiedlich gehandhabten Entwurfs- und Planungsmedien des Bauens zu.