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Einleitung
ОглавлениеBernini
In den ersten Jahren des 16. Jahrhunderts entwarf Tilman Riemenschneider, einer der mittlerweile populärsten Bildschnitzer der deutschen Spätgotik, den Schrein des Heiligblut-Altars in Rothenburg ob der Tauber in Art einer architektonischen Raumkulisse: Das Holzgehäuse, das den Schauplatz für die Figuren des Letzten Abendmahls abgibt, ist mit einer von Spitzbogenfenstern durchbrochenen Rückwand und mit Miniaturgewölben versehen. Die Ähnlichkeit mit gebauten Großarchitekturen, die dieses gotische Altarretabel filigran vor Augen führt, steigerten die Altarbauten der Barockzeit noch, sowohl im Detail wie in monumentaler Wucht. Ein Beispiel: 1647 – 1652 arbeitete der Barockbildhauer und Architekt Gianlorenzo Bernini am Altarensemble der Cornaro-Kapelle in der römischen Kirche S. Maria della Vittoria. Er schuf ein Gesamtkunstwerk, in dem die marmorne Skulpturengruppe der Verzückung der hl. Theresa von Avila in einem aus prächtigen Steinsorten und Marmorsäulen gefügten architektonischen Gehäuse über dem Altar die Augen auf sich zieht. Wie in so vielen anderen barocken Altarensembles sollte auch hier illusionär die Grenze zwischen dem Architektonischen und dem Plastischen verschwinden.
Jacopo Sansovino
Den nämlichen Eindruck bieten die monumentalen Grabanlagen in vielen hochrangigen Renaissancekirchen. So gehören etwa gewaltige Wandgräber, vornehmlich solche der Dogen, zu den auffälligsten Zeugnissen Venedigs. In S. Salvatore, um ein Beispiel herauszugreifen, errichtete der Bildhauer und renommierte Architekt Jacopo Sansovino in den Jahren zwischen 1555 und 1561 das Grabmonument des Dogen Francesco Venier als architektonisches Gefüge in wandfüllender Größe; als zweigeschossige, mit klassischen Formen und Säulenordnungen operierende Marmorfassade, in deren hohem Mittelbogen die Liegefigur des Verstorbenen, begleitet von weiblichen Allegorien in den seitlichen Travéen, platziert ist.
Teatro Olimpico
Im Italien der Spätrenaissance, in Vicenza konzipierte Andrea Palladio, einer der bedeutendsten Repräsentanten der abendländischen Architekturgeschichte, 1579/80 das sogenannte Teatro Olimpico. Es war der erste frei stehende, überdachte und massive Theaterbau seit der Antike. Doch nicht dessen Eigenheiten sollen jetzt interessieren, sondern die hinter den drei Öffnungen der dreigeschossigen hölzernen Bühnenfront sich auftuenden illusionistischen Kulissen, die bald nach Vollendung des Theaters Vincenzo Scamozzi ausführte. Es handelt sich um fiktive, von Hausfronten begleitete Straßenzüge, erneut aus Holz, die sich nach hinten zu maßstäblich verkleinern, um samt einem ansteigenden Fußboden den Zuschauern im Proszenium eine zentralperspektivische Verkürzung vorzugaukeln – eine pure Scheinarchitektur also, genauer gesagt: ein vorgetäuschtes Stadtbild.
Blendarchitektur
Von Scheinarchitektur bzw. von Blendarchitektur müsste man angesichts all jener architektonischen Mikro- oder Makrostrukturen reden, die keine lebensreale Funktion besitzen, die also nicht im praktisch-räumlichen Sinne benutzbar sind, sondern einer Wand, einem Retabel und vergleichbaren Oberflächen vor- oder aufgeblendet wurden. Schein-, Blendarchitektur sind ferner jene Kulissen einer Theaterbühne, die real gebaute Architektur illusionieren, um bei wechselnden Aufführungen durch neue Kulissenarchitektur ersetzt zu werden; ihre Aufgabe erschöpft sich im inszenierten Schein.
Wäre folglich die Einbettung in die Lebenswirklichkeit, in die existenzielle Praxis, die Voraussetzung, um „echte“ Architektur von Architekturderivaten oder Architekturzitaten zu unterscheiden? Und, so muss man weiter fragen, warum kennt die Sprache neben dem Begriff „Architektur“ auch den der „Baukunst“, warum ist vielfach nur vom „Bauen“, vom „Bau“ bzw. „Bauwerk“ oder ganz einfach und bescheiden von einem „Gebäude“ statt von Architektur die Rede? Handelt es sich dabei um gleichberechtigte Größen eines semantischen Begriffsfeldes?
Nicht selten sieht man auf Campingplätzen, dass Plastikzäune um Zelte oder Wohnwägen herum ein „Revier“ abstecken, man beobachtet, dass mit Vorzelten eine Art Entree geschaffen wird, dass Gardinen, Blumenkübel usw. die Atmosphäre des gemütlichen Heims erzeugen sollen. Was passiert hier? Wohl niemand käme auf die Idee, ein Zelt oder einen Caravan als Architektur oder als Bauwerk zu titulieren – und doch drängt sich der Eindruck auf, dass in den genannten Beispielen etwas Gebautes, ein Häuschen, wenigstens eine Wohnung mit Diele und Wohnzimmer, assoziiert werden soll. Mehr als eine Assoziation kann das Ganze allein deswegen nicht sein, weil nach dem Urlaub, wie es bezeichnenderweise heißt, „die Zelte wieder abgebrochen“ werden. Darf man im Gegenzug behaupten, dass Stabilität, Dauerhaftigkeit, jene Qualitäten also, die die Campingzelte wie alle nomadischen Behausungen eben nicht besitzen, das Ausschlaggebende der Gattung Architektur darstellen?
Die genannten Kategorien Funktionalität und Stabilität decken sich mit den seit alters etablierten Begriffen Zweckmäßigkeit (utilitas) und Festigkeit (firmitas). Man findet sie in vielen Passagen des einzigen aus der Antike überkommenen Architekturtraktats. Sein Verfasser, der vor gut zweitausend Jahren schreibende römische Architekt Vitruv, fügte diesen beiden Merkmalen indes noch ein drittes hinzu: die Schönheit (venustas). Wirken diese drei Komponenten ebenbürtig zusammen, dann heben sie, so Vitruvs Überzeugung, ein anfänglich simples, unreflektiertes Bauen in die Sphäre edler Baukunst.
In den architekturtheoretischen Diskussionen seit der Renaissance erwies sich allerdings gerade die Bindung der funktionalen (utilitas) und technologischen (firmitas) Kategorie an die angestrebte ästhetische Wirkung (venustas) als ungemein konfliktträchtig. Die entscheidende Frage ist, ob man ein Bauwerk nur dann als ein Stück Architektur qualifizieren darf, wenn es neben seiner Nützlichkeit auch über künstlerische Gestaltungskraft verfügt. Doch die Festlegung dessen, was künstlerische Gestaltung ausmacht (die venustas im Vitruvschen Sinne), unterlag bekanntlich im Laufe der Kunstgeschichte beträchtlichen Schwankungen. Vor allem die Propagierung der Funktionalität als ästhetischer Hauptaufgabe, als einer das gesamte Aussehen eines Werkes prägenden Eigenschaft, die der Funktionalismus des späteren 19. und frühen 20. Jahrhunderts vornahm, hat die Tradition auf den Kopf gestellt: „form follows function“ (L. H.Sullivan) – venustas verlor ihren Eigenwert, da sie angeblich einzig und allein das Resultat der utilitas ist.
Vincenzo Scamozzi
Oft ist es gar nicht mehr bewusst, dass eigene Auffassungen von Kunst und Ästhetik in frühere Epochen zurückprojiziert werden. Dies verfälscht den historischen Sachverhalt. Im Venedig der Spätrenaissance veröffentlichte Vincenzo Scamozzi 1615 seinen Traktat Idea dell’architettura universale, in dem er u.a. Reklame für den strengen klassizistischen Baustil Andrea Palladios machte. Scamozzi unterschied in seinem theoretischen Grundsatzprogramm zwischen der Berufung des Architekten und dem Beruf des Baumeisters und verglich deren Verhältnis mit der Stellung von Herr und Diener. Während die Leistung des Architekten eine intellektuelle sei, basierend auf universalen wissenschaftlichen Grundlagen, sei die Arbeit des Baumeisters eine rein manuelle, eine ausführende, kurz: eine dienende. Selbstverständlich müsse auch der Architekt über die praktischen Belange des Bauens Bescheid wissen, aber nur, um die unerlässlichen fundamentalen Dinge, eben die handwerkliche Tätigkeit des Baumeisters und der Bauleute, kontrollieren zu können. Natürlich war Palladio in Scamozzis Augen kein Baumeister, sondern ein Architekt, damals sogar der Architekt schlechthin. Schon lange vor der Veröffentlichung seines Buches hatte Scamozzi ja, als es in Venedig darum ging, die alte hölzerne Rialtobrücke durch eine steinerne zu ersetzen, jenes Projekt unterstützt, das Palladio in einer Reihe von Zeichnungen publik machte, die sich in Vicenza erhalten haben: Es sah eine klassizistische Loggia mit Tempelfront über einem fünfbogigen Unterbau vor. Scamozzi, der übrigens selbst einen verwandten Entwurf eingereicht hatte, war begeistert: Werde Palladios Plan realisiert, erhalte das Stadtbild Venedigs einen prachtvollen, an der Formensprache der Antike orientierten Akzent. Das altehrwürdige, aber auch altmodische Stadtbild werde innovativ bereichert.
Palladio
Doch nicht die Interessensgemeinschaft Scamozzi-Palladio setzte sich durch, sondern jene Partei, die einen „Baumeister“ – nach Scamozzis Definition – wollte, die also die Aspekte der „Nützlichkeit“ in den Vordergrund stellte. Palladio habe solche Erwägungen völlig beiseite gelassen. Sah er doch an den Enden der geplanten Brücke jeweils einen regelmäßigen Platz vor, der vor allem im Umfeld der Kirche S. Bartolomeo eine Unzahl bestehender Gebäude zerstört und gewaltige Trockenlegungsarbeiten vorausgesetzt hätte. Palladios Vorschlag, der die venezianischen Bautraditionen missachtete und zu jeder anderen Stadt auch gepasst hätte, wurde bald verworfen. Der Magistrat erteilte 1588 keinem „revolutionären“ Theoretiker, sondern einem „tüchtigen“, handwerklich versierten Baumeister den Auftrag. Der erhielt nach der Rialtobrücke später den Beinamen Antonio da Ponte. Aus heutiger Warte sind die meisten Venedigbesucher froh über diese Entscheidung. Palladios Brücke wäre zwar die künstlerisch kühnere Architektur geworden, aber nur als Solitär. Im urbanistischen Gefüge nicht nur des Rialtoviertels, sondern des ganzen alten Venedig wäre sie Fremdkörper gewesen und geblieben, ein seinerzeit immens teurer zumal. Dagegen fügt sich da Pontes hauptsächlich von Überlegungen der Praktikabilität und einer befriedigenden Kosten-Nutzen-Rechnung bestimmte Brückengestalt harmonisch in die Umgebung ein. Unser jetziges Urteil stuft diese Eigenschaft als vollgültige, wenn nicht sogar höhere künstlerische Qualität ein, als sie Palladios „selbstgefälliges“ Vorhaben im venezianischen Kontext hätte haben können. Ein wahrlich lang anhaltender Triumph des Baumeisters über den Architekten.
Thames Barrier
Und wer wollte etwa in der Hightech-Gegenwart einer Konstruktion wie der Thames Barrier (Abb. 1) den Titel einer bemerkenswerten künstlerischen Architektur verweigern. Die Bauarbeiten für das 520 Meter lange Flutwehr, das sich bei Wollwich Reach über die Themse erstreckt, begannen 1973, 1982 war die Anlage fertiggestellt, im Jahr darauf erstmals genutzt, aber erst 1984 offiziell von Queen Elizabeth II. eingeweiht. Dass dieses aus neun Betonpfeilern und zehn Toren bestehende gigantische Bauwerk, das London vor Hochwassern schützen soll, einen ganz praktischen Zweck erfüllt, dass es eine technologische Meisterleistung darstellt, ist unumstritten: Werden die in den Pfeilern und unter Schutzdächern aus Edelstahl befindlichen hydraulischen Pressen betätigt, schließen sich die Tore und das Wehr trotzt als geschlossene Stahlwand allen heranrollenden Fluten – zumindest den bei derzeitigen Klimaverhältnissen prognostizierbaren. Dass die Thames Barrier auch eine ästhetische Attraktion ist, dass sie einem heutigen Kunstverständnis konform geht, dürfte ebenfalls auf breiten Konsens stoßen. Genauso wie die Tatsache, dass sie eine Eigenschaft besitzt, die die Fachwelt herkömmlich mit den besten Leistungen der Architekturgattung verbindet, nämlich im Erscheinungsbild auf das räumliche Umfeld, die Stadtlandschaft, die Naturlandschaft und so weiter zu reagieren bzw. sie mitzugestalten.
Abb. 1 GLC Department of Public Health Engineering und Rendel Palmer & Tritton, Thames Barrier, 1982 fertiggestellt; Wollwich Reach bei London
Burj Khalifa
Wie fließend die terminologischen Übergänge mittlerweile geworden sind, zeigt auch der CN Tower in Toronto, von der American Society of Civil Engineers als „modernes Weltwunder“ eingestuft. Seit seiner Fertigstellung 1975 und der Eröffnung im Jahr darauf hielt dieser Funkturm mit 553,33 Metern den Rekord als höchstes Bauwerk der Welt, ehe er seit 2010 darin vom Burj Khalifa in Dubai mit 828 Meter Höhe abgelöst wurde. Bis dahin qualifizierten ihn etliche Fachleute sogar als höchstes Gebäude der Welt und eröffneten dadurch eine aufschlussreiche Debatte um die Berechtigung dieser Bezeichnung. Denn den meisten Menschen gelten Funk- und Fernsehtürme als Bauwerke, da ihr Hauptzweck im technischen Service liegt und sich nicht, wie bei Gebäuden, auf Arbeits- und Wohnfunktion richtet.
Angesichts der technologischen und ästhetischen Sensation, die solche Konstruktionen bieten, scheint es jedoch ziemlich unwichtig, ob man sie als ein Meisterwerk der Ingenieurskunst oder als ein beeindruckendes Zeugnis moderner Architektur einordnet. Und das gilt bereits für die seit der Spätrenaissance und insbesondere seit dem 19. Jahrhundert von Ingenieuren entworfenen Konstruktionen, die zunehmend gleichwertig, ja nicht selten eindrucksvoller neben die von Architekten entwickelten Bauten traten.
Entgegen der traditionellen Ansicht, Architektur müsse immer einen künstlerischen „Überschuss“ vorweisen, um diesen Ehrentitel tragen zu dürfen, findet sich im architekturtheoretischen Diskurs neuerer Zeit die Ansicht, dass jegliche Form von Bauen Architektur sei: Mit der ersten primitiven Hütte, die sich Menschen in grauer Vorzeit zum Schutz gegen die Gefahren der Umwelt errichteten, beginne zweifellos die Geschichte der Architektur. Die aufsehenerregende, 1964 im New Yorker Museum of Modern Art veranstaltete Ausstellung Architecture Without Architects vertrat provokant diesen Ansatz. Bernhard Rudofsky forderte in der Einführung des Katalogs, auch anonyme Bauten wie Zelt, Höhle, einfachste Behausungen, Speicher oder Garagen dem Oberbegriff „Architektur“ zu subsumieren, eben einer Architektur, die ohne professionelle Architekten realisiert wurde.
Eine derartige Begriffserweiterung kommt freilich einer Begriffsinflation gleich. Wesentliche Verstehensmomente würden nivelliert, sofern man die Besonderheit künstlerischer Formung überginge. Wenn man also jene Kategorien außer Acht ließe, mit deren Hilfe bestimmte Bauwerke – und nur sie – über die ausschließlich materiellen Bedürfnisse hinaus auch immaterielle befriedigten und diese Zielsetzung mittels ihrer Gestalt, auch ihres Dekors, veranschaulichten. Denn eben jene immateriellen Aussagen sind es, die etwas Gebautes zu einem Bestandteil und einer Manifestation der Kultur erheben, die symbolische Kommunikation ermöglichen, soziale kollektive Erinnerungen speichern ebenso wie zukunftsweisende Ideen oder Träume einer Gesellschaft. Nur in seiner künstlerischen Eigenschaft gibt das Bauen die Einseitigkeit des bloß Nützlichen auf und verbindet sich mit den philosophischen, politischen, ökonomischen, technischen und künstlerischen Leistungen einer Epoche. Mit anderen Worten: Die Architektur „wird zur Architektur erst dadurch, dass sie den Dienst, den ihre Glieder leisten, durch deren Form bekräftigt“ (Julius Posener).
Wohnblocks
Gewiss, auch jene Art des Bauens, die sich nicht an Kunstvorstellungen orientiert, ist Signum einer bestimmten Zeit, aber dann nur ex negativo. Das gilt beispielsweise, um in die Antike zurückzugehen, für die insulae, die vielgeschossigen, schlampig ausgeführten Wohnblocks des kaiserzeitlichen Rom, mit zusammengepferchten Kleinstwohnungen, die die rücksichtslosen Grundstücksspekulationen jener Zeit widerspiegeln – letzteres ein Phänomen, das, man muss es nicht eigens erläutern, auch weiterhin, bald mehr, bald weniger die Geschichte der Urbanistik durchzog und in den Großstädten des 19. Jahrhunderts sowie gegenwärtig in den Megacitys der sogenannten Schwellenländer besonders krasse Züge annahm und -nimmt.
Realitätscharakter
Bestimmt man nun Architektur als Teilbereich der Kunst, wie verhält sie sich dann zu den anderen Hauptgattungen der Kunst, also zu Malerei und Plastik? Dagobert Frey hat dieses Verhältnis auf überzeugende Weise erklärt. Malerei und Plastik sind „bildende Künste“, mit den Bildern, die sie schaffen, ungeachtet wie realistisch oder abstrakt diese sind, formieren sie eine von der Lebensrealität grundsätzlich verschiedene ideelle Welt. Ein Werk der Architektur dagegen existiert, auch als künstlerisch-ästhetisches Objekt, inmitten besagter Realität, es ist, wie Frey sagt, „künstlerisch gestaltete Realität“. In ihrer Eigenschaft als Kunstwerk kann Architektur indes nicht einfach identisch mit der Wirklichkeit und ihren Lebensfunktionen sein. Sie muss vielmehr diese Wirklichkeit transzendieren, um überhaupt als künstlerisch-ästhetisches Opus erscheinen zu können. Architektur besitzt folglich Gemeinsamkeiten mit Malerei und Plastik, insofern sie Kunst ist, aber sie unterscheidet sich von ihnen, insofern sie eine ganz eigene Relation zur Realität besitzt. Denn sie ist räumlich und zeitlich identisch mit der Welt des Menschen, der sie benützt. Auf welchem Wege aber überschreitet die Architektur diese Einbettung in die Realität, um aus deren Banalität herauszutreten, um ästhetische Existenz zu gewinnen? Dieser Prozess wird laut Dagobert Frey dann in Gang gesetzt, wenn die Lebenswirklichkeit des Menschen selbst in und mithilfe der Architektur aus einer solchen Banalität herausgehoben ist; wenn, so könnte man sagen, der die Baukunst benutzende und reflektierende Mensch in und durch die Architektur in eine Sphäre versetzt wird, die das Alltägliche hinter sich lässt. Das bedeutet nicht, dass Architektur ihre alltagstauglichen, ihre nützlichen Funktionen aufgeben muss, es heißt aber, dass sie diese in einen höheren Sinnzusammenhang einordnet und diesen Vorgang aufgrund ihrer künstlerischen Durchformung anschaulich macht. Deshalb gehören zur Architektur nicht zuletzt kinästhetische Momente, die bisweilen auf architektonisch sekundierte rituelle oder zeremonielle Verhaltensweisen der Benutzer abzielen. Die Pilgerwege zu einer Wallfahrtskirche, die das architektonische Erlebnis am Endpunkt zu einem mühsam erwanderten religiösen Erlebnis werden lassen, die Prozessionswege in einer Kathedrale, die deren Raumgefüge liturgisch erschließen, die Treppen und Enfiladen in Schlössern, die nicht zuletzt die Reverenz der höfischen Gesellschaft gegenüber dem Souverän kanalisieren, die Straßenführung und die Platzanlagen in Städten, die urbanistische Vektoren und „Bedeutungsinseln“ erzeugen, sind Paradebeispiele dafür.