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3. WILLKOMMEN IN WORTOPOLIS

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»Tut mir leid, wenn ich etwas ruppig rüberkomme«, sagte der AufWachhund, nachdem sie ein Weilchen gefahren waren, »aber es gehört sich nun mal für einen Wachhund, die Zähne zu zeigen …«

Milo war so erleichtert darüber, Paralysien hinter sich gelassen zu haben, dass er dem Hund versicherte, ihm nicht böse zu sein. Im Gegenteil – jetzt, wo er wusste, wie dieser tickte, war er ihm sogar dankbar für dessen Beistand.

»Das Leben ist eine Wucht«, rief der AufWachhund. »Besser könnt es nicht sein – wir werden uns auf dieser Reise sicher prima vertragen. Du kannst Tack zu mir sagen.«

»Seltsamer Name für einen Hund, der den ganzen Tag nur tickticktickticktickt«, sagte Milo. »Warum haben sie dich nicht einfach …«

»Nein«, stieß der Hund hervor. »Sprich’s nicht aus!« Und Milo sah, wie ihm die Tränen in die Augen stiegen.

»Ich wollte dir nicht wehtun«, sagte Milo, der ihm nicht wehtun wollte.

»Ist schon gut«, sagte der Hund und gewann seine Fassung zurück. »Ist ’ne alte Geschichte. Und eine traurige dazu. Wenn du willst, erzähl ich sie dir.

Als mein Bruder geboren wurde, der erste Nachwuchs in unserer Familie, waren meine Eltern überglücklich und gaben ihm sogleich den Namen Tick, denn sie waren sich sicher, dass es genau dieses Geräusch wäre, das er von sich geben würde. Doch kaum hatten sie damit begonnen, ihn aufzuziehen, stellten sie zu ihrem Schrecken fest, dass er nicht tickte, sondern tackte. Sie eilten zum Standesamt, um den Namen ändern zu lassen, aber zu spät. Er war bereits offiziell eingetragen, und es war nichts mehr zu machen. Als ich dann zur Welt kam, waren meine Eltern wild entschlossen, denselben Fehler nicht zweimal zu machen, und da es der Logik zu entsprechen schien, dass alle ihre Kinder das gleiche Geräusch machen würden, nannten sie mich Tack. Doch erstens kommt es anders und zweitens, na ja, du weißt schon – also heißt mein Bruder Tick, obwohl er tacktacktacktackt, und ich heiße Tack, obwohl ich tickticktickticke, und jeder von uns beiden schlägt sich mit dem falschen Namen herum. Meinen Eltern ging die Geschichte so an die Nieren, dass sie das Kinderkriegen aufgaben und ihr Leben hinfort nur noch der Aufgabe widmeten, den Armen und Hungrigen zu helfen.«


»Und wie bist du dann zum AufWachhund geworden?«, unterbrach ihn Milo. Er versuchte das Thema zu wechseln, denn Tack hatte begonnen, ziemlich heftig zu schluchzen.

»Auch das«, sagte der Hund und wischte sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel, »hat Tradition. Alle meine Vorfahren waren Wachhunde. Das ging über vom Vater auf den Sohn, auf dessen Sohn, auf dessen Sohn. Seit Urgedenken.

Weißt du«, fuhr er fort, und langsam wurde ihm wieder wohler, »ganz früher gab es überhaupt keine Zeit, und die Menschen fanden das sehr lästig. Nie wussten sie, ob sie nun gerade zu Mittag aßen oder zu Abend, und andauernd verpassten sie ihren Zug. Also erfand man die Zeit, um nicht den Überblick über den Tagesverlauf zu verlieren und rechtzeitig dorthin zu gelangen, wo man hinmusste. Als die Menschen dann jedoch auf die Idee kamen, die Zeit zu zählen – 60 Sekunden pro Minute und 60 Minuten pro Stunde und 24 Stunden pro Tag und 365 Tage pro Jahr –, machte sich das Gefühl breit, es gäbe sehr viel mehr davon, als man jemals brauchen würde. Eine zunehmende Zahl von Zeitgenossen war der Meinung: Wenn es so viel Zeit gibt, kann sie ja nicht viel wert sein, und schon bald geriet sie in Misskredit. Die Leute fingen an, sie zu vergeuden, ja sogar, sie zu verschenken. So lange, bis man uns die Aufgabe übertrug, dafür zu sorgen, dass sie endlich aufwachten und damit aufhörten, ihre Zeit zu vertun«, sagte er und setzte sich stolz in Position. »Ein zeitraubender Job, und manchmal geht er einem auch auf den Wecker, aber eine echte Berufung, da gibt es kein Vertun. Denn«, und jetzt erhob er sich aus seinem Sitz, stützte sich mit einer seiner Hinterpfoten an der Windschutzscheibe ab und rief mit ausgestreckten Armen, »Zeit ist das wertvollste Gut, das wir haben, wertvoller noch als Diamanten. Auf Zeit ist Verlass wie auf Ebbe und Flut. Sie läuft ewig, bleibt nie stehen und …«

In diesem Moment fuhr das Auto über eine Bodenwelle, und Tack sackte unter heftigem Rasseln in den Beifahrersitz.

»Alles in Ordnung?«, rief Milo.

»Umpff«, ächzte Tack. »’tschuldigung, haut mich jedes Mal wieder um vor Begeisterung. Aber ich denke mal, du hast verstanden, was ich meine.«

Auf den nächsten Kilometern unterstrich Tack die Wichtigkeit der Zeit noch dadurch, dass er alte Philosophen und Dichter zitierte. Beim Versuch, seinen Argumenten den nötigen Nachdruck zu verleihen, gestikulierte er so wild, dass er mehrmals beinahe Hals über Kopf aus dem dahinrasenden Auto gefallen wäre.

Es dauerte gar nicht lange, da sahen sie in der Ferne die Türme und Fahnen von Wortopolis im Sonnenlicht aufleuchten, und nur wenig später erreichten sie deren gewaltige Mauer. Vor dem Stadttor machten sie halt.


»Ä-H-H-H-R-R-Ä-M-M«, räusperte sich der Torwächter laut und vernehmlich und nahm schlagartig Haltung an. »Dies ist das Königreich der Glückseligen, Wortopolis. Bollwerk der Vernunft in den Niederungen am Fuße der Irrungen und Wirrungen, profitiert es vom frischen Wind, der vom Meer des Wissens herüberweht. Auf königliche Anordnung ist heute Markttag. Seid ihr gekommen, um etwas zu kaufen oder zu verkaufen?«

»Wie bitte?«, fragte Milo.

»Kaufen oder verkaufen, kaufen oder verkaufen«, wiederholte der Torwächter ungeduldig. »Was denn nun? Ihr seid doch nicht ohne Grund hierhergekommen, oder?«

»Na ja, ich …«, fing Milo an.

»Kommt schon! Wenn ihr schon keinen Grund habt, dann wird es doch zumindest eine Erklärung geben oder wenigstens eine Entschuldigung«, unterbrach ihn der Torwächter.

Milo schüttelte den Kopf.

»Bedenklich, höchst bedenklich«, sagte der Torwächter und schüttelte ebenfalls den Kopf. »Ohne Grund kommt ihr hier nicht rein.« Er dachte einen Moment nach. »Wartet mal«, fuhr er dann fort, »kann sein, dass ich noch einen alten habe, den ihr benutzen könnt.«

Er holte einen ramponierten Koffer aus dem Torhäuschen und fing an, geschäftig in ihm herumzukramen. Dabei murmelte er vor sich hin: »Nein … nein … nein … der geht nicht … nein … h-m-m-m … ah, der ist genau richtig«, rief er schließlich triumphierend aus und hielt ein kleines Medaillon in die Luft, das an einer Kette baumelte. Er wischte den Staub ab, sodass man die auf einer Seite eingravierten Worte erkennen konnte: WARUM NICHT?


»Das ist ein guter Grund für so gut wie alles. Vielleicht schon ein bisschen abgenutzt, aber immer noch einigermaßen tauglich.« Und damit hängte er Milo das Medaillon um den Hals, schob die schwere Eisentür auf, machte eine tiefe Verbeugung und ließ sie passieren.

Was für ein Markt das wohl sein mag, fragte sich Milo, als sie durch das Tor fuhren. Doch bevor er noch länger darüber hätte nachdenken können, befanden sie sich bereits am Rand eines riesigen Platzes, auf dem in langen Reihen ein Stand neben dem anderen stand. Auf jedem von ihnen waren wahre Berge von Waren, und fast jeder war mit farbenfrohen Wimpeln geschmückt. Über ihnen verkündete ein großes Transparent:

Willkommen auf dem Wortmarkt

Gleichzeitig eilten von der gegenüberliegenden Seite des Platzes fünf sehr lange, dünne und hoheitsvoll in Samt und Seide gekleidete Herren mit Federhüten auf dem Kopf und Schnallenschuhen an den Füßen auf das Auto zu, hielten kurz inne, wischten sich fünfmal die Stirn, holten fünfmal tief Luft, entrollten fünf Pergamentrollen und begannen einer nach dem anderen zu sprechen.

»Seid gegrüßt!«

»Moin!«

»Willkommen!«

»Guten Tag!«

»Hallo!«

Milo nickte nur mit dem Kopf, und sie fuhren fort, von ihren Pergamentrollen abzulesen.

»Auf Befehl von Abis Zett dem Ungekürzten«,

»König von Wortopolis«,

»Herrscher der Buchstaben«,

»Regent über Phrasen, Sätze und Redensarten«,

»heißen wir euch herzlich willkommen in unserem Königreich«,

»unserem Land«,

»unserer Nation«,

»unserem Staat«,

»unserem Gemeinwesen«,

»unserer Monarchie«,

»unserem Imperium«,

»unserer Pfalz«,

»unserem Fürstentum.«

»Bedeuten diese Worte etwa alle dasselbe?«, stieß Milo hervor.

»Natürlich.«

»Na sicher.«

»Selbstverständlich.«

»Genau.«

»Und ob«, antworteten sie einer nach dem anderen.

»Nun ja«, sagte Milo, dem nicht ganz einleuchtete, warum jeder das Gleiche sagte, bloß ein bisschen anders, »würde es die Sache nicht vereinfachen, bloß einen Ausdruck zu gebrauchen? Das ist doch viel sinnvoller.«

»Unsinn.«

»Lächerlich.«

»Hirnverbrannt.«

»Absurd.«

»Quatsch«, riefen sie im Chor.

»Wir haben überhaupt kein Interesse daran, sinnvoll zu sein. Das ist nicht unser Job«, keifte der Erste.

»Nebenbei«, erklärte der Zweite, »ein Wort ist so gut wie das andere – warum sollte man sie dann nicht alle benutzen?«

»Zumal man sich auf diese Weise nicht entscheiden muss, welches das passende ist«, empfahl der Dritte.

»Außerdem«, seufzte der Vierte, »wenn eins schon passt, passen zehn noch zehnmal mehr.«

»Offensichtlich hast du keine Ahnung, mit wem du es zu tun hast«, sagte der Fünfte von oben herab. Und dann stellten sie sich der Reihe nach vor:

»Gestatten, Baron Botho von Bindewort.«

»Seine Eminenz Erich von Eigen-Schaft.«

»Fürst Ferdinand von Fragesatz.«

»Graf Gunnar Genus-Verbi.«

»Ministerialdirigent Manfred Modus-Irrealis.«


Milo ließ die Vorstellung schweigend über sich ergehen. Als Tack anfing, leise zu knurren, erklärte Seine Eminenz:

»Wir sind die Berater des Königs, oder, wie es offiziell heißt, sein Kabinett.«

»Kabinett«, dozierte der Baron, »1. kleines Privatgemach oder Kammer, in welcher Wertsachen oder Kuriositäten aufbewahrt werden; 2. Konferenzzimmer für die Ministerrunde; 3. Gremium offiziell bestallter Berater des Regierungschefs eines Landes.«


»Ihr seht«, fuhr Seine Eminenz fort und dankte dem Baron mit einer leichten Verbeugung für dessen Ausführungen, »Wortopolis ist der Ort, von dem alle Wörter dieser Welt ausgehen, weil sie uns nie ausgehen. Wir bauen sie nämlich in unseren Obstgärten an.«

»Ich wusste gar nicht, dass Wörter an Bäumen wachsen«, sagte Milo kleinlaut.

»Ja wo denn sonst?«, rief der Fürst empört, während die ersten Marktbesucher anfingen, sich um sie zu scharen. Voller Neugier betrachteten sie den kleinen Jungen, der nicht zu wissen schien, dass Wörter an Bäumen wuchsen.

»Ich wusste nicht mal, dass sie überhaupt wachsen«, gab Milo noch kleinlauter zu. Ein paar der Umstehenden schüttelten erschüttert den Kopf.

»Nun denn«, hakte der Graf nach, »wächst an Bäumen vielleicht Geld?«

»Soviel ich weiß, nicht.«

»Dann muss dort ja wohl irgendetwas anderes wachsen. Warum also nicht Wörter?!«, rief der Ministerialdirigent triumphierend. Die Menge spendete seiner bestechenden Logik Beifall und ging wieder ihrer Wege.

»Um fortzufahren«, fuhr Seine Eminenz ungeduldig fort, »einmal pro Woche wird auf königliche Anordnung hier auf dem großen Platz der Wortmarkt abgehalten, und die Menschen kommen von überallher, um die Wörter zu kaufen, die sie brauchen, oder diejenigen anzubieten, mit denen sie nichts anfangen können.«

»Unsere Aufgabe«, sagte der Graf, »besteht darin, darauf zu achten, dass jedes verkaufte Wort einwandfrei ist, weil es nichts bringen würde, jemandem ein Wort zu verkaufen, das keine Bedeutung hat, geschweige denn gar nicht existiert. Würdest du zum Beispiel ein Wort wie ghlbtsk kaufen, wo, bitte schön, könntest du es anwenden?«

Schwer zu sagen, dachte Milo. Schließlich gab es unendlich viele komplizierte Wörter, von denen er keinen blassen Schimmer hatte.

»Aber wir geben niemals vor, welches Wort man zu benutzen hat«, erklärte der Fürst, während sie sich auf die Marktstände zubewegten, »denn solange sie vorgeben, was sie vorgeben vorzugeben, ist es uns egal, ob sie Sinn ergeben oder Unsinn.«

»Scharfsinn oder Stumpfsinn«, ergänzte der Graf.

»Biedersinn oder Widersinn«, sagte der Ministerialdirigent.

»Freisinn oder Greisin«, hüstelte Seine Eminenz.

»Versteht sich«, sagte Milo, weil er nicht unhöflich sein wollte.

»Genau«, rief der Fürst, »auf jeden Fall.« Und schon fiel er mit einem lauten Plumps zu Boden.


»Mein Gott, stellen Sie sich doch nicht so ungeschickt an!«, schrie der Baron.

Der Fürst rieb sich den Kopf. »Ich habe doch nur bestätigen wollen …«, fing er an.

»Wir haben es sehr wohl vernommen«, sagte Seine Eminenz ärgerlich. »Sie sollten sich künftig um weniger gefährliche Ausdrücke bemühen.«

Der Fürst klopfte sich den Staub von seiner Samtjacke, während die anderen laut und vernehmlich kicherten.

»Siehst du«, belehrte ihn der Graf. »Man muss vorsichtig sein in der Wahl seiner Worte und sich genau überlegen, was man eigentlich sagen will. Und jetzt müssen wir uns auf die Beine machen, um das königliche Bankett vorzubereiten.«

»Ihr nehmt natürlich daran teil«, sagte Seine Eminenz.

Und bevor Milo noch etwas darauf antworten konnte, eilten die fünf schon über den Platz davon, ebenso plötzlich wie sie gekommen waren.

»Viel Vergnügen auf dem Markt«, rief der Ministerialdirigent ihnen noch zu.

»Markt«, dozierte der Baron, »ein offener Platz oder ein bedachtes Gebäude, in dem …«

Das war das Letzte, was Milo von ihnen hörte, bevor sie in der Menge untertauchten.

»Ich hatte ja keine Ahnung, wie viel Verwirrung Worte stiften können«, sagte Milo zu Tack, während er sich zu ihm hinabbeugte, um ihm am Ohr zu kraulen.

»Bloß dann, wenn man sehr viele davon benutzt, um sehr wenig zu sagen«, antwortete Tack.

Das war das Vernünftigste, was Milo den ganzen Tag über gehört hatte. »Komm«, rief er, »lass uns über den Markt gehen. Sieht ziemlich aufregend aus.«

Die Abenteuer von Milo, Tack und Kackerlack

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