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5. ÜBER KURZ ODER LANG

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»Macht euch bloß an, was ihr geschaut habt«, schrie einer der Händler verärgert. Eigentlich hatte er »Schaut euch bloß an, was ihr gemacht habt« sagen wollen, aber die Worte lagen so wild verteilt herum, dass niemand die richtigen finden konnte.

»Tun wir bloß jetzt sollen was!«, klagte ein anderer, während man sich überall bemühte, die Dinge irgendwie wieder in Ordnung zu bringen.

Eine Zeit lang brachte niemand auch nur einen verständlichen Satz zustande, und das Tohuwabohu wurde immer größer. Doch dann fing man an, die Marktstände so schnell wie möglich wiederaufzurichten, und fegte die Wörter zu einem riesigen Haufen zusammen, aus dem jeder sich die seinen herausfischen konnte.

Die Buchstabiene war beleidigt davongeflogen, und Milo hatte sich gerade wieder aufgerappelt, da traf das gesamte Polizeiaufgebot von Wortopolis ein und blies heftig in die Trillerpfeife.

»Endlich! Jetzt kommt Licht ins Dunkel«, hörte Milo jemanden sagen, »da kommt Hauptwachtmeister Kurz, der sagt, wo’s langgeht.«



Quer über den Platz stiefelte der kleinste Polizist, den Milo je gesehen hatte. Knapp siebzig Zentimeter kurz war er fast doppelt so dick und trug eine blaue Uniform mit weißem Gürtel, weiße Handschuhe, eine Schirmmütze und einen grimmigen Gesichtsausdruck. Er blies ununterbrochen in seine Trillerpfeife, so lange, bis sein Gesicht rot anlief wie eine Runkelrübe, und hörte damit nur kurz auf, um jedem, an dem er vorüberkam, »Schuldig! Schuldig! Schuldig« ins Gesicht zu brüllen.

»So was von schuldig ist mir ja noch nie unter die Augen gekommen«, rief er, als er vor Milo zum Stehen kam. »Das wird dich teuer zu stehen kommen!« Dann wandte er sich dem immer noch laut rasselnden Tack zu und schrie: »Stell diesen Hund ab. Es ist respektlos, im Beisein der Polizei Alarm zu schlagen.«

Er zog ein schwarzes Notizbuch aus der Jackentasche seiner Uniform und hielt den Vorfall fein säuberlich dort fest. Danach stiefelte er auf und ab, die Arme hinter dem Rücken verschränkt, und ließ seinen Blick über das Feld der Verwüstung schweifen.

»Reizend, wirklich reizend.« Seine Miene verfinsterte sich. »Wer trägt hieran die Schuld?«, herrschte er die Menge an. »Heraus mit der Sprache, oder ich mach kurzen Prozess und zieh euch allen die Ohren lang.«

Lange herrschte betretenes Schweigen. Weil niemand mitbekommen hatte, was eigentlich passiert war, machten alle bloß lange Gesichter und hoben schweigend ihre Hände, zum Beweis, dass sie nichts trugen. Weder Schuld noch irgendetwas anderes.

»Du da«, zischte der Wachtmeister und richtete seinen Finger anklagend auf den Kackerlack, der sich gerade den Staub von den Kleidern klopfte und seinen Hut zurechtrückte, »du siehst mir höchst verdächtig aus.«

Der Kackerlack ließ vor Schreck seinen Spazierstock fallen und antwortete nervös: »Bei meiner Ehre als Gentleman versichere ich Ihnen, Sir, dass ich mit der ganzen Sache nichts zu tun habe, mir nicht das Geringste habe zuschulden kommen lassen und bloß das angeregte Leben und geschäftige Treiben des Marktes genoss, als dieser junge Bursche …«

»AHA!«, unterbrach ihn der Hauptwachtmeister Kurz und machte einen weiteren Vermerk in seinem kleinen Notizbuch. »Also da geht’s lang. Hab ich’s mir doch gleich gedacht: Es liegt wie immer an den Jungs.«

»Entschuldigen Sie«, unterbrach ihn der Kackerlack, »aber ich wollte damit in keinster Weise unterstellen, dass …«

»RUHE!«, donnerte der Hauptwachtmeister, reckte sich zu seiner vollen Kürze auf und brachte den entsetzten Kackerlack durch einen drohenden Blick zum Schweigen. »Und jetzt zu dir«, fuhr er fort und wandte sich erneut an Milo, »wo warst du am Abend des 27. Juli?«

»Was soll das damit zu tun haben?«, fragte Milo.

»Da ist mein Geburtstag, das soll das damit zu tun haben«, sagte der Wachtmeister und notierte Meinen Geburtstag vergessen. »Jungs vergessen alle naslang anderer Leute Geburtstag.

Folgender Straftaten hast du dich schuldig gemacht«, fuhr er fort: »Besitz eines Hundes mit nicht genehmigter Alarmglocke, Erregung öffentlichen Ärgernisses, Umsturzversuch eines gesamten Standes, was sage ich: aller Stände, fahrlässige Verwüstung, vorsätzliche Verursachung von Wortsalat, kurz …«

»Nu mal halblang«, bellte Tack und schaute von oben auf den Wachtmeister herab.

»… sowie Missachtung des absoluten Bellverbots!«, fuhr Kurz fort und bedachte den Hund mit einem bitterbösen Blick.

»Unsinn«, knurrte Tack beleidigt, »ist doch eh alles bloß Belletristik!«

»Erzähl keine Geschichten!«, herrschte der Polizist ihn an und griff erneut zu seinem Notizbuch. »Also«, sagte er und wandte sich wieder an Milo, »bist du bereit, das Urteil entgegenzunehmen?«

»Nur Richter können Urteile sprechen«, sagte Milo, der sich daran erinnerte, das mal in einem Schulbuch gelesen zu haben.

»Stimmt«, erwiderte der Wachtmeister, nahm kurz seine Mütze ab und zog sich eine lange schwarze Robe über. »Ich bin der Richter. Also, wie soll das Urteil ausfallen, kurz oder lang?«

»Wenn’s geht, kurz«, sagte Milo.

»Ausgezeichnet«, sagte der Richter, zauberte einen Holzhammer unter seiner Robe hervor und schlug damit dreimal auf eine der herumliegenden Kisten. »Lange kann ich mir sowieso schlecht merken. Wie wär’s mit ›schuldig‹. Zwei Buchstaben kürzer als ›unschuldig‹.«

Alle nickten mit dem Kopf zum Zeichen, dass sie sein Urteil gerecht fanden.

»Kurz und gut: Als Strafe scheinen mir 6 Millionen Jahre Gefängnis lang genug. Damit ist die Verhandlung geschlossen«, verkündete er und schlug abschließend noch einmal mit seinem Hammer auf die Kiste. »Und jetzt ab in den Kerker. Da lang …«

»Nur Gefängniswärter sind befugt, jemand in den Kerker zu werfen«, wandte Milo ein. Auch das hatte er aus seinem Schulbuch.

»Stimmt«, sagte der Richter, zog die Robe aus und ein großes Schlüsselbund hervor. »Es sei denn, man ist Kerkermeister. So wie ich.« Und damit führte er die beiden ab.

»Kopf hoch«, rief der Kackerlack. »Vielleicht erlassen sie euch ja eine Million Jahre wegen guter Führung.«

Das schwere Kerkertor schwang langsam auf, und Milo und Tack folgten Hauptwachtmeister Kurz einen Flur entlang, der bloß ab und zu kurz von einer flackernden Kerze erhellt wurde.

»Achtung, Stufen«, warnte sie der Polizist, als sie die ersten Stufen einer steilen Wendeltreppe hinabstiegen.

Die Luft war feuchtkalt und stickig, es roch nach alten Socken, und die dicken Steinmauern waren nass und glitschig. Sie stiegen tiefer und tiefer, bis sie an ein zweites Tor kamen, noch düsterer und schwerer als das erste. Ein Spinnennetz fuhr durch Milos Gesicht, und er erschauderte.

»Über kurz oder lang werdet ihr euch hier sicher wohlfühlen«, kicherte der Polizist, als er den Riegel zurückschob. »Zugegeben«, das Tor quietschte und knarrte in den Angeln, »viel Gesellschaft habt ihr nicht, hier unten. Bis auf die Diebin natürlich, die alte Heckse.«

»Diebin? Alte Hexe?«, fragte Milo und erschrak.

»Ja«, sagte der Hauptwachtmeister und bog in einen weiteren Gang, »die hockt schon seit Ewigkeiten hier unten.«

In den nächsten Minuten durchschritten sie noch drei Tore, überquerten einen schmalen Steg und ließen zwei Gänge sowie eine Treppe hinter sich. Endlich blieben sie vor einer kleinen Zellentür stehen.


»Da sind wir«, sagte der Polizist und öffnete die Tür. »Fühlt euch ganz wie zu Hause.«

Die Tür klappte hinter ihnen zu, und Milo und Tack fanden sich in einem hohen Gewölbekeller wieder, mit zwei winzigen Fenstern auf halber Höhe.

»Auf Wiedersehen in sechs Millionen Jahren«, rief ihnen Hauptwachtmeister Kurz noch zu, dann hörten sie, wie seine Schritte sich nach und nach entfernten und schließlich ganz verhallten.

»Sieht nicht gut aus, Tack, oder?«, sagte Milo traurig.

»Ganz und gar nicht«, antwortete der Hund und nahm ihr neues Zuhause schnüffelnd in Augenschein.

»Was sollen wir bloß die ganze Zeit machen? Wir haben kein einziges Spiel dabei, nicht mal eine Schachtel mit Buntstiften.«

»Keine Sorge«, knurrte Tack und hob beruhigend eine Pfote, »irgendwas wird sich schon ergeben. Kannst du mich bitte erst mal aufziehen? Sonst ist meine Zeit schon jetzt abgelaufen.«

»Weißt du, was, Tack?«, sagte Milo, während er den Hund aufzog. »Man brockt sich ganz schön was ein, wenn man Worte durcheinanderbringt oder nicht weiß, wie man sie buchstabiert. Sollten wir hier jemals wieder rauskommen, werde ich alles dafür tun, mehr über sie zu erfahren.«

»Ein äußerst lobenswerter Vorsatz, junger Mann«, sagte eine leise Stimme auf der gegenüberliegenden Seite des Kerkers.

Milo hob verwundert den Kopf, und im Halbdunkel fiel sein Blick auf eine alte, freundlich aussehende Dame, die dort in einem Schaukelstuhl saß und strickte.


»Hallo«, sagte er.

»Wie geht’s?«, erwiderte sie.

»Geht so«, sagte Milo, »aber Sie sollten sich lieber vorsehen. Soviel ich weiß, treibt hier irgendwo eine Diebin ihr Unwesen, eine alte Hexe.«

»Das bin ich«, meinte die alte Dame beiläufig und zog ihren Schal ein wenig fester um ihre Schultern.

Milo sprang erschrocken zurück und griff nach Tack, damit dieser nicht wieder zu rasseln anfing – schließlich wusste er, wie empfindlich Diebe reagieren konnten, wenn man Krach schlug.

»Keine Angst«, lachte sie. »Obwohl ich die bin, die ich bin, bin ich noch lange keine Diebin. Und erst recht keine Hexe. Wenn überhaupt, dann war ich eine Heckse.«

»Oh«, sagte Milo, denn etwas anderes fiel ihm nicht ein.

»Ich bin Ma Kaber«, fuhr sie fort, »und ich tu euch schon nichts.«

»Und wieso nennt man dich dann eine Diebin und Hexe?«, fragte Milo, ließ Tack los und rückte ein Stückchen näher.

»Nun«, sagte die alte Dame, während eine Ratte ihr über den Fuß huschte. »Ich bin die Großtante des Königs. Viele Jahre lang war ich hier im Königreich dafür bekannt, bei allen Angelegenheiten darüber zu wachen, was man für Worte machte, welche man sagen durfte und welche nicht, welche man schreiben durfte und welche nicht. Ihr könnt euch sicher vorstellen, was für eine wichtige und verantwortungsvolle Aufgabe es war, unter den vielen Tausend Möglichkeiten immer die jeweils richtige auszuwählen. Der König war sehr zufrieden mit meiner Arbeit. Da ich das sehr gut machte, bestimmte er, dass allein ich diejenige sein sollte, die hinfort Worte ausgeben und verleihen darf, und verlieh mir den Titel der offiziellen Hoflieferantin für Worte und Wörter aller Art, was mich sehr stolz und glücklich machte.

Zunächst tat ich mein Bestes, um sicherzustellen, dass nur die sachgerechtesten und geeignetsten Wörter gebraucht wurden. Jedermann drückte sich klar und deutlich aus, und kein Wort wurde unnötig verwendet (oder verschwendet). Überall im Palast und auf dem Marktplatz ließ ich Schilder anbringen, auf denen stand:

In der Kürze liegt die Würze.

Aber Macht verdirbt den Charakter, und schon bald wurde ich geizig und gierig und lieferte immer weniger Worte aus, um so viele wie möglich für mich zu behalten. Ich ließ neue Schilder aufhängen, auf denen stand:

Am Anfang war das Wort, nicht das Geschwätz.

Bald schon waren die Verkäufe auf dem Markt rückläufig. Die Leute scheuten sich, so viele Worte zu machen wie bisher, und das Königreich sah harten Zeiten entgegen. Dessen ungeachtet wurde mein Geiz immer größer. Kurze Zeit später ergriffen die Leute so selten das Wort, dass kaum noch Gespräche stattfinden konnten. Selbst die alltäglichste Unterhaltung war so gut wie nicht mehr möglich. Und obwohl ich mir sagte: ›Das ist nicht gut, was du da ausheckst‹, ließ ich neue Schilder aufhängen:

Ein Mann, ein Wort.

Bis ich schließlich auch diese durch andere ersetzte:

Schweigen ist Gold.

Von da an hörte jede Unterhaltung auf. Der Verkauf von Wörtern und Worten wurde eingestellt, der Markt geschlossen, die Bevölkerung verarmte, und Verzweiflung machte sich breit. Als der König sah, was geschehen war, wurde er fuchsteufelswild und verkündete, dass ich diejenige war, die das alles ausgeheckt hatte, und deshalb an allem schuld war. Er ließ mich in dieses Verlies werfen, wo ich jetzt vor euch sitze – eine älter und weiser gewordene Frau.

Das Ganze ist viele Jahre her«, fuhr sie fort, »aber es wurde nie wieder jemand damit betraut, auf die Wortwahl zu achten. Deshalb ergreifen die Leute das Wort heutzutage ohne große Überlegung und reden, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist. Und dabei kommen sie sich sogar noch schlau und weise vor. Denn eins ist klar: So falsch es ist, zu wenig Worte zu machen – zu viele davon zu verlieren, ist meist noch viel schlimmer.«

Als sie zum Ende gekommen war, machte sie einen tiefen Seufzer, klopfte Milo sanft auf die Schulter und fing wieder an zu stricken.


»Und seitdem bist du hier eingesperrt?«, fragte Milo voller Mitgefühl.

»Ja«, sagte sie traurig. »Die meisten Menschen haben mich längst vergessen, und wenn nicht, entsinnen sie sich meiner bloß noch als ›Diebin‹ und ›Heckse‹, weil ich nun einmal die bin, die ihnen damals das Recht auf freie Wortwahl weggenommen hat. Wenn du so etwas ausheckst, verzeiht man dir das nie im Leben. Und solange ich hier unten eingesperrt bleibe, werden sie auch nie erfahren, dass ich schon lange nicht mehr die bin, vor der sie sich fürchten.«

»Ich finde dich nicht furchterregend«, sagte Milo, und Tack wedelte zustimmend mit dem Schwanz.

»Habt vielen Dank«, sagte Ma Kaber. »Ihr könnt mich Mama Kaber nennen. Hier, wie wär’s mit einem Satzzeichen?« Und sie hielt ihnen eine Schachtel mit gezuckerten Punkten, Kommas, Frage- und Ausrufezeichen hin. »Das ist alles, was man mir zu essen gibt.«

»Also, wenn es mir gelingt, hier rauszukommen, werde ich dir helfen«, erklärte Milo laut und deutlich.

»Das ist sehr nett von dir«, antwortete sie, »aber das Einzige, was mir helfen kann, ist die Rückkehr von Sinn und Verstand.«

»Die Rückkehr von was?«, fragte Milo.

»Von Sinn und Verstand«, erwiderte sie, »aber das ist eine lange Geschichte. Keine Ahnung, ob ihr die hören wollt.«

»Und ob«, bellte Tack.

»Sehr gerne sogar«, pflichtete Milo ihm bei, und während Ma Kaber auf ihrem Stuhl langsam vor und zurück schaukelte, erzählte sie ihnen diese Geschichte:

Die Abenteuer von Milo, Tack und Kackerlack

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