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Die Nummer 27 – Herr Halmer

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Nachdem die Polizei inzwischen nur mehr am Vormittag, und auch dies nur fallweise, auf Streife vorbeischaut, kann der vergeudete freie Platz spätestens ab Mittag anderweitig genutzt werden. Einer der so denkt, ist Opa Halmer. Herr Halmer (1) heißt natürlich in Wirklichkeit nicht Halmer, weil dies eine erfundene Geschichte sein soll und er ist auch kein Opa, weil er sich unter Androhung einer Klage dagegen wehrt, Opa genannt zu werden.

Erfüllen wir also seinen Wunsch und nennen wir ihn einfach Herrn Halmer. Er wohnt jedenfalls von Frühling bis Herbst auf dem Grundstück rechts oberhalb des Umkehrplatzes. Wie fein, dass er dann gleich neben seinem Grundstück diesen freien Platz für seinen Puch 500 hat, denn dieses Fahrzeug passt als echtes Zwergen-Auto genau dorthin. Der Begriff ‚Zwerg‘ ist übrigens nicht als Beleidigung gedacht, sondern hat einen anderen Grund, der in Kürze klar wird.

Wenn Herr Halmer mit seinem Gefährt anreist – anders kann man sein Tempo nicht nennen – dann kann man hinter ihm schon zum Opa werden. Eine Geschwindigkeit von 15 km/h ist nach seiner Meinung für diese Steigung geradezu die angemessene Höchstgeschwindigkeit. Da hilft kein Hupen oder anblinken, denn dies macht ihn nur fuchsteufelswild.

Wenn er wild ist, dann fährt er nicht, weil er weiß, dass erregte Fahrer Unfälle bauen. Geschieht es dennoch, dass der Nachkommende Ungeduld ausdrückt, dann bleibt er einfach auf dieser Stelle stehen, an der er sich gerade befindet. Er stellt dann den Motor ab, sichert das Fahrzeug und steigt genau dort aus. Noch wäre aber nicht alles verloren, wenn der drängelnde Fahrer sich demütig, mit einem Kniefall untertänig annähern würde.

Wer nun den Fehler macht, sich bei dem Herrn, der wie ein Opa fährt – pardon das darf man ja nicht sagen, denn sonst wird mit der Klage gedroht – also nochmals:

Wer nun den Fehler macht, sich bei Herrn Halmer zu beschweren, der riskiert, dass seine Abregungsphase noch länger dauert, und dann geht er einfach zu Fuß in sein Haus, in der Wahnsinnsstraße 27. Dort bleibt er dann stundenlang. Er bleibt dort, bis er wieder genug Ruhe und Muße verspürt, den Rest des Weges mit seinem Fahrzeug hinauf zu tuckern.

In diesem Fall bleibt einem ungeduldigen Menschen nur, im Retourgang den ganzen Berg zurück zu rollen und irgendwo ganz unten zu parken. Da versteht eben Herr Halmer keinen Spaß! Da nützt nicht einmal das Argument, dass man zu seinem Grundstück 10 Meter weiter fahren möchte, um dort dann die Einfahrt zu benutzen.

So gesehen ist man schon froh, wenn Herr Halmer nur den Umkehrplatz blockiert und nicht gleich die ganze Straße. Weil wir schon mal hier sind, statten wir Herrn Halmer einen kleinen Besuch auf seinem Grundstück ab. Herr Halmer wohnt dort vom Ende der Schneeschmelze im Frühjahr bis etwa Ende Oktober. Danach ist die Straße fallweise vereist und später dann mit Schnee bedeckt. Ein Schneepflug kommt hier wegen der schmalen Straße nicht hoch und daher bleibt Herr Halmer im Winter dem Garten ganz fern. Wer im Winter hoch will oder muss, dem bleibt nur der Marsch in Winterstiefeln, wobei der Schnee fallweise bis zur Kinnspitze reicht. Dies hat natürlich auch seinen romantischen Reiz, vorausgesetzt, dass man ein Romantiker ist.

Herr Halmer ist kein Romantiker und war auch niemals einer. Wahrscheinlich weiß er nicht einmal, ob Romantik eine Wurstsorte oder eine Krankheit ist. Muss er auch nicht wissen, denn die Menschheit braucht auch Realisten, welche das Rad des Schicksals in Gang halten, so wie es Herr Halmer viele Jahre getan hat.

Als er noch im Berufsleben stand, also vor etwa 20 Jahren, war seine Aufgabe, Waggons auf Eisenbahnschienen zu rangieren. Mit einer kleinen Lokomotive, einigen Handzeichen und einigen Verschiebern wurde dafür gesorgt, dass jeder Waggon zum zugeordneten Zug kam. Lachen Sie nicht, diese Bahnbediensteten heißen wirklich Verschieber.

Da spielte natürlich Zeit keine Rolle, denn ob der Waggon drei Stunden früher oder später angekoppelt wurde, war wirklich gleichgültig. Die Routine der Zugsverspätungen hat eben Tradition und kommt nicht von ungefähr.

Rendezvous gab es nur wenige im Leben dieses ehemaligen Bahnbediensteten. Fand doch manchmal ein solches privates Treffen statt, so gab es jedenfalls keine zweite Begegnung mit derselben Dame. Er war nicht gewillt, irgendetwas in seinem Leben umzustellen. Schon gar nicht wegen einer Frau.

Nur einmal gab es eine junge Dame, die ihn unbedingt erobern wollte, aus welchen Gründen auch immer. Als sie dann von kleinen Kindern träumte, die in einer Wohnung herumtoben würden, da war dann die mikroskopisch kleine Glut sofort erloschen. Es nützte ihr ganzes Entgegenkommen nichts mehr. Für ihn war beim besten Willen eine gemeinsame Zukunft nicht mehr vorstellbar, da hätte er sich lieber ein Krokodil als Haustier genommen.

Herr Halmer wurde dann mit 48 Jahren in den vorzeitigen Ruhestand geschickt. Immer öfter verschwanden seine Waggons, die dann in Sizilien, Sibirien oder einem anderen Winkel der Erde auftauchten. Er hatte eben seine eigene Logik und der durfte niemand widersprechen.

Wenn einer seiner Kollegen meinte, dass dieser Waggon auf den Zug ‚A‘ gehörte, dann fühlte er sich bevormundet. Da er dies auf den Tod nicht ausstehen konnte, landete der Waggon auf irgendeinen anderen Zug der gerade herumstand, nur nicht auf Zug ‚A‘.

Nur mit Diplomatie, Engelsgeduld und viel Geschick konnte man ihn von etwas überzeugen, das anders in seinem Kopf abgespeichert war. Leider ist Diplomatie unter Bahnarbeitern ausgesprochen selten zu finden und daher häuften sich diese misslungenen Verschiebungen so lange, bis er nicht mehr im aktiven Dienst war. Als langjährigem Mitarbeiter hätte man ihm auch gern eine andere Aufgabe gegeben, aber dies kam für ihn schon gar nicht in Frage. Da wäre er nur zur Witzfigur der Kollegen geworden!

Herr Halmer hat auf dem erwähnten Grundstück ein Gartenhaus mit drei Räumen und den üblichen Sanitärräumen. Alles steht an einem fixen Platz, so als ob es dort angeschraubt wäre. Gelegentlich bekommt er Besuch, etwa wenn der Postbote etwas zuzustellen hat. Passiert es dann, dass sich der Besucher gegen ein Kästchen lehnt, dabei eine Vase um einige Zentimeter verschiebt, so ist dies für Herrn Halmer Alarmstufe rot. Sofort werden alle anderen Aktivitäten im Haus eingestellt, bis die Vase auf ihrem scheinbar schicksalshaft angeborenen Platz steht. Eine Toleranz von zwei Zentimetern ist dabei für Herrn Halmer völlig unakzeptabel. Da wird er richtig unleidlich und grantig, bis die mühsam erarbeitete Positionierung wieder erreicht ist. Schließlich kann man auch einen Waggon nicht neben die Geleise stellen.

Herr Halmer wurde übrigens im Zeichen der Jungfrau geboren. Hätte er einen Schreibtischjob gehabt, wären eben die Bleistifte fein säuberlich angespitzt und parallel ausgerichtet gewesen.

Andere Menschen sind für ihn ein grundsätzlicher Fremdkörper im Leben. Herr Halmer wäre wohl die ideale Besetzung für eine Besiedlung des Mars gewesen, denn er braucht keine sozialen Kontakte. Dafür hat er seine eigenen, ganz besonderen Wesen. Diese praktisch fehlerlosen Wesen stehen jeweils im Sommer um sein Haus herum, auf 450 Quadratmeter Grund, nach seinen eigenen Regeln positioniert. Überwintern dürfen diese Wesen natürlich im geschützten Haus.

Diese besonderen Lebensgefährten sind seine 17 Gartenzwerge, welche auf ihren sorgfältig ausgewählten Plätzen ausharren, um seinen Grund und Besitz zu bewachen. Jeder dieser Mitbewohner ist handverlesen ausgesucht worden. Jeder hat seinen passenden Namen, mit dem er durch Herrn Halmer angesprochen wird. „Du Seppl passt mir jetzt schön auf die Geranien auf, die ich frisch eingesetzt habe. Wenn sie Wasser brauchen, dann rufst du mich, ja?“

Es sind natürlich nur männliche Gartenzwerge. Nicht dass Herr Halmer gleichgeschlechtliche Züge an sich hat. Bei Frauen fehlt ihm einfach das Urvertrauen, dass diese nicht doch irgendwie Unordnung in seinem Leben machen.

Mit seinen Nachbarn in den anderen Gärten braucht Herr Halmer nicht zu sprechen. Er findet sie alle irgendwie sonderbar, eigenbrötlerisch und von der Eisenbahn verstehen sie auch nichts. Dennoch wirft er immer wieder einen kritischen Blick auf sie, denn manchmal findet er Dinge in seinem Garten, die dort nicht hingehören. Dass dies meistens Müll ist, der von Passanten dort entsorgt wird, hätte er sich zwar denken können, tut er aber nicht. Seine Nachbarn erscheinen ihm viel verdächtiger.

Freunde gibt es in seinem Leben kaum und er wüsste auch gar nicht, was er mit denen anfangen würde. Der einzige Mensch, dessen Nähe er fallweise sucht, ist Herr Oppolzer, der aber am unteren Ende der Wahnsinnsstraße auf Nummer 3 wohnt. Mit ihm teilt er seine Vorliebe für Gartenzwerge.

In den Monaten, in welchen die Tage kürzer werden, besuchen sie einander gelegentlich. Sie blättern und schwärmen dann gemeinsam – wie ein altes Ehepaar - in einem Katalog für Gartenzwerge. Natürlich haben sie einen ganzen Stapel an solchen Katalogen, nicht bloß zwei oder drei! In jeder Saison gibt es hunderte solcher Kataloge, die der arme Postbeamte den Berg hoch schleppen muss. Rein buchhalterisch führt Herr Halmer derzeit mit 17 zu 8 bei den Gartenzwergen und solange dieser Vorsprung erhalten bleibt, kann Herr Halmer mit Herrn Oppolzer auch gut auskommen.

Vor ein paar Jahren gab es einmal eine Krise in dieser Beziehung. Herr Oppolzer wollte damals bei einer Aktion 5 Gartenzwerge mit einem Sonderrabatt bestellen! Herr Halmer war damals in mehrfacher Weise schockiert. Natürlich wäre sein deutlicher Vorsprung an Gartenzwergen geschrumpft und wer weiß, vielleicht hätte ihn Herr Oppolzer womöglich eines Tages auf den zweiten Platz verdrängt. Da war aber noch etwas anderes Schockierendes. Wie konnte man solche Wesen mit einem Massenrabatt bestellen? Man bestellt sich auch keine fünf Freundinnen unter Anrechnung eines Mengenrabatts!

Da braucht es doch eines handverlesenen Auswahlprozesses, bei dem man genau prüft, ob man überhaupt zueinander passen würde! Man geht ja auch nicht mit jemand X-beliebigen eine Beziehung auf die Schnelle ein! Und dann noch mit fünf solchen Wesen! Dies grenzt an Bigamie in der schlimmsten Ausprägung, findet Herr Halmer. Nicht mal die Muslime haben 5 Frauen, die sie gleichzeitig zu sich nehmen.

Es dauerte drei Jahre und mehrerer untertänigster Entschuldigungen von Herrn Oppolzer, ehe Herr Halmer bereit war, sich mit diesem rohen, gefühlskalten Menschen wieder einzulassen. An Eides statt musste Herr Oppolzer versichern, dass er davon Abstand genommen hat und auch niemals in der Zukunft eine solche Überlegung mehr anstellen wird.



Seither ist die Beziehung der beiden Fans von Gartenzwergen wieder besser, wenngleich dies Narben an der Seele – jedenfalls an der von Herrn Halmer – zurückließ. Solche Seitensprünge sind eben eine sehr ernsthafte Angelegenheit.

Herr Halmer hat jetzt leider keine Zeit mehr für uns, denn er hat diese Woche eine wichtige Aufgabe zu lösen. Er hat in den letzten Wochen feststellen müssen, dass einzelne Kumpane ihre Aufgabe nicht zu seiner Zufriedenheit erfüllen. Offenbar sind diese mit der Problemstellung überfordert, oder aber, sie haben irgendeinen Kummer, eine Depression, einen unverarbeiteten Konflikt, vielleicht sogar eine Krankheit? Im besten Fall fühlen sie sich auch nur vernachlässigt. „Auch Menschen, die sich vernachlässigt fühlen, machen am Arbeitsplatz Patzer bei der Arbeit“, denkt Herr Halmer.

Er wird jetzt eine Runde durch den Garten machen und sich jeden einzelnen Zwerg vorknöpfen. Vor zwei Jahren hat er dafür sogar einen Bombologen gebraucht. Wer jetzt an etwas Gefährliches denkt, ist im Irrtum. Ein Bombologe ist ein Hummelforscher, der sich mit der Lebensweise dieser Tiere beschäftigt. Damals hatte ein Schwarm Hummeln sich in einem Zwerg eingenistet.

Jedenfalls muss er jetzt sehen, dass die Probleme bei seinen Zwergen wieder in Ordnung kommen. Aber dies versteht man eben nur, wenn man sich schon jahrelang mit dieser umfangreichen Materie beschäftigt hat.

Auch wenn der Stil dieser Geschichten bewusst heiter gehalten ist, soll doch zum Ausdruck gebracht werden, dass jeder Mensch sein eigenes Objekt der Liebe hat. Oft sind es Menschen, in die wir uns verlieben, manchmal auch ein schönes Paar Schuhe, ein Oldtimer, eine Sammlung von Bonsai-Bäumchen oder was auch immer. Wen oder was wir lieben ist eine sehr individuelle Entscheidung. Nicht auszudenken, wenn alle sich auf das gleiche Objekt der Liebe stürzen würden. Stellen sie sich einfach vor, alle Männer verlieben sich in dieselbe Frau - oder – alle Frauen verlieben sich in denselben Mann. Wenn Sie jetzt noch daran denken, dass dies Ihr Partner wäre, dann ist Ihnen wahrscheinlich auch lieber, wenn jeder Mensch sich jemanden oder etwas zu lieben aussucht. Oder?

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