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Vorwort zur ersten Auflage 2003
ОглавлениеDieses Buch enthält sechzehn Essays von mir: fünfzehn, die ausgewählt sind aus meinen vier zwischen 1981 und 2000 erschienenen Bänden von Reclams Universal-Bibliothek, und einen weiteren, den letzten, der voraussichtlich in einem fünften Band dieser Universal-Bibliothek von mir erscheinen wird.
Ich danke dem Reclam Verlag – der in diesem Jahr sein 175- jähriges Bestehen feiert – dafür, dass er es für richtig gehalten hat, dieses Buch in der »Reihe Reclam« herauszubringen. Dr. Dietrich Klose – der schuld ist daran, dass ich bei Reclam publiziere, und dem ich dankbar bin für eine nun schon länger als zwanzig Jahre währende freundschaftliche Zusammenarbeit – hat den Anstoß auch zu diesem Buch gegeben. Ich selber hätte dazu nicht den Mut gehabt; und ich hätte auch nicht die Distanz gehabt, die initialen Vorschläge für eine Auswahl zu machen.
Aber dieser Band bietet zweifellos eine repräsentative Auswahl meiner Essays. Dass es sich dabei außerdem noch um ein Buch handelt, das zu meinem 75. Geburtstag erscheint, trägt allerdings zu meiner Entlastung bei: ich gehöre zu den feierschwachen Menschen und habe auch nichts übrig für Festschriften, die Mitmenschen von mir – als Angriff auf ihre ohnehin knappen Lebenszeitbudgets – mit zusätzlicher Arbeit belasten und belästigen. So bemühe ich hier nicht andere, sondern mich selbst durch diese Beiträge, die ich dann auch – was sich ja vielleicht sowieso gehört – auf meine eigene Kappe zu nehmen habe.
Es handelt sich um philosophische Essays. Ihr Verfasser ist ein endlichkeitsphilosophischer Skeptiker. Er ist – als Modernitätstraditionalist – der liberalen bürgerlichen Welt verbunden, zu der es keine historisch erreichbare Alternative gibt, die für uns wünschenswert wäre. Sie ist mehr Nichtkrise als Krise: ihre Abstraktheiten – gewaltenteilig und dadurch individualitätsfreundlich – sind halbwegs vertretbar kompensierte Abstraktheiten. Dabei tendiere ich – das ist zwischen 1981 und 2002 wohl mein Weg gewesen –, wie es sich für einen Skeptiker gehört, auf liberale Weise zum Konservativen.
Der Titel des vorliegenden Buches lautet »Zukunft braucht Herkunft«; das verlangt eigentlich formulierungsmäßig das Gegenstück: Herkunft braucht Zukunft. Dass die Herkunft Zukunft benötigt: das ist zwar tatsächlich so. Aber unser Leben ist endlich, also kurz: unsere unvermeidlichste Zukunft ist unser Tod. Diese sterblichkeitsbedingte Kürze unserer Zukunft bindet uns – denn wir können nicht dauernd neu anfangen – an das, was wir schon waren; darum bleiben wir überwiegend unsere Herkunft, und wer sie ändern will, trägt die Beweislast: die Last der Begründung dafür, dass Ändern hier – im konkreten Fall – gut ist. Skeptiker bestehen bei Zukunftsbegeisterungen darauf, dass die Zukunftsbegeisterung die Beweislast trägt, die zwar manchmal, aber insgesamt doch nicht gerade häufig zu tragen ist. Darum gehen Geschichtsphilosophien, die die große Zukunft planen, üblicherweise schief. Man kann zwar meinen: Veränderung ist immer Verbesserung; aber das stimmt ja nicht. Darum brauchen wir mehr als unsere Zukunft unsere Herkunft. Nicht wer sie aufrechterhält, sondern wer sie verwirft, hat die Beweislast, und schon im Zweifelsfall – und Skeptiker sind ja brauchbare Zweifler – muss man sie bewahren.
Im Zweifel für die Herkunft: Das ist – meine ich – ein skeptischer und ein konservativer Satz. »Konservativ« ist dabei ein ganz und gar unemphatischer Begriff, den man sich am besten von Chirurgen erläutern lässt, wenn diese überlegen, ob der Zahn, die Niere oder der Darm herausmüsse oder ob »konservativ« behandelt werden könne. Lege artis schneidet man nur, wenn man muss (wenn zwingende Gründe vorliegen), sonst nicht, und nie alles. Es gibt keine Operation ohne konservative Behandlung, denn man kann aus einem Menschen nicht den ganzen Menschen herausschneiden; und wer es trotzdem versucht, wird töten. Darum gilt: die Beweislast hat der, der von der konservativen Behandlung abweicht, also der Veränderer. Und darum gilt als – sterblichkeitsbedingte – Regel des konservativen Skeptikers: mehr als die Herkunft Zukunft benötigt, braucht die Zukunft Herkunft. Das führte zum Titel dieses Buches.