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Inkompetenzkompensationskompetenz?
ОглавлениеÜber Kompetenz und Inkompetenz der Philosophie
Bei einem chinesischen Henkerwettstreit – so wird erzählt – geriet der zweite Finalist in die Verlegenheit, eine schier unüberbietbar präzise Enthauptung durch seinen Konkurrenten, der vor ihm dran war, überbieten zu müssen. Es herrschte Spannung. Mit scharfer Klinge führte er seinen Streich. Jedoch der Kopf des zu Enthauptenden fiel nicht, und der also scheinbar noch nicht enthauptete Delinquent blickte den Henker erstaunt und fragend an. Drauf dieser zu ihm: Nicken Sie mal.
Mich interessiert, was dieser Kopf denkt, bevor er nickt; denn das müsste doch Ähnlichkeit haben mit Gedanken der Philosophie über sich selber.
Es mag unangebracht erscheinen, einen festlichen Anlass – und nun gar einen zu Ehren von Herrn Krings – mit der Assoziation eines Henkerwettstreits zu belasten. Indes: hier sind schließlich Philosophen versammelt, und die, im Zweifelsfall, wissen, wovon ich rede. Zwar ist es – denn das ist immerhin das Handwerkszeug von Philosophen – unbestreitbar, dass sie Köpfe haben und, wenn ich mich selber einmal ausnehme, unbestreitbar, dass sie Köpfe sind. Aber wie fest sitzen diese Köpfe? –: Das ist – real oder wenigstens, und vielleicht dringlicher noch, metaphorisch – die Frage dort, wo über Kompetenz und Inkompetenz der Philosophie auf Geheiß der Ausrichter gesprochen werden soll und wo dabei – und dies dann ganz zwangsläufig – von dem Schicksal der Decapitatio der Philosophie durch radikale Reduktionen ihrer Kompetenz die Rede sein muss in Verbindung mit der Tatsache, dass die Philosophie ihren Kopf offenbar immer noch oben trägt. Ich möchte meine einschlägigen Erwägungen in zwei Abschnitten vorbringen: der erste Abschnitt handelt im Blick auf die Philosophie von ihrer Kompetenzreduktion; der zweite Abschnitt handelt im Blick auf die Philosophie von ihrer Reduktionskompensation.
1. Zunächst also – in einigen pauschalen Andeutungen – über die Reduktion der Kompetenz der Philosophie. Was bedeutet dabei Kompetenz? Ich verhalte mich – ohne philologischen Kontakt zum Thesaurus, der das Wort im Wortfeld der Rivalität ansiedeln mag, ohne juristischen Kontakt zu terminologiegeschichtlich arbeitenden Rechtsgelehrten, ohne biologischen Kontakt zu Blastemforschern, ohne linguistischen Kontakt zu Chomsky, ohne kommunikativen Kontakt zu Habermas – zum Begriff der Kompetenz vorerst möglichst vage: Kompetenz hat offenbar irgendwie zu tun mit Zuständigkeit und mit Fähigkeit und mit Bereitschaft und damit, dass Zuständigkeit, Fähigkeit und Bereitschaft sich in Deckung befinden, womit gerade bei der Philosophie von Anfang an nicht unbedingt gerechnet werden kann; denn schon immer hat es Philosophien gegeben, die für nichts zuständig, zu manchem fähig und zu allem bereit waren: Ob dieser Befund für die Philosophie total und schlechthin zutreffend sei: vor zweitausend Jahren wäre das keine diskutable Frage gewesen; heute ist es eine; und so kommt in diese Überlegung gleich zu Anfang die Geschichte hinein in Bezug auf die Philosophie und ihre Kompetenz. Was ihre Kompetenz sei, sagt ihr nur ihre Geschichte; die aber sagt der Philosophie, dass es einen Fortschritt gegeben habe in der Abnahme ihrer Kompetenz: die Philosophiegeschichte ist die Geschichte der Reduktion der Kompetenz der Philosophie.
Und hier ist sie, diese Reduktionsgeschichte, und zwar eiligkeitshalber formuliert als spekulative Kurzgeschichte: Erst war die Philosophie kompetent für alles; dann war die Philosophie kompetent für einiges; schließlich ist die Philosophie kompetent nur noch für eines: nämlich für das Eingeständnis der eigenen Inkompetenz. Und das lief so: Die Philosophie wurde im Laufe ihres beschwerlichen Lebens mindestens dreimal aufs äußerste herausgefordert, dabei überfordert und so schließlich erschöpft, ausgezehrt und – von Kompetenten, also Mitbewerbern: und zwar hier in Dingen Kompetenz – aus dem Rennen geworfen. Da war – früh: nämlich von der Bibel her – die soteriologische Herausforderung, und da waren – spät: nämlich bürgerlich und pseudonachbürgerlich – die technologische und die politische Herausforderung. Die soteriologische Herausforderung verlangte von der Philosophie, zum Heil der Menschen zu führen, aber das – und dies zeigte sich, als das Christentum die Philosophie überbot – konnte sie nicht: so war es um ihre Heilskompetenz geschehen, und die Philosophie wurde zum Fürsorgefall; eine Zeitlang kam sie unter als ancilla theologiae. Die technologische Herausforderung verlangte von der Philosophie, sie solle zum Nutzenwissen der Menschen führen; aber das – und dies zeigte sich, als die exakten Wissenschaften die Philosophie überboten – konnte sie nicht: so war es um ihre technologische Kompetenz geschehen und die Philosophie wurde zum Fürsorgefall; eine Zeitlang kam sie unter als ancilla scientiae, als Wissenschaftstheorie. Die politische Herausforderung verlangte von der Philosophie, sie solle zum gerechten Glück der Menschen führen; aber das – und dies zeigte sich, als die politische Praxis die Philosophie, sei es durch Aktivität, sei es durch Sinn fürs Tunliche, Mögliche und Institutionelle überbot – konnte sie nicht: so war es um ihre politische Kompetenz geschehen und die Philosophie wurde zum Fürsorgefall; eine Zeitlang kam sie unter als ancilla emancipationis, als Magd (oder sagen wir wegen der Gleichberechtigung: als Knecht) der Emanzipation, als Geschichtsphilosophie. Im Zuge der Geschichte dieser Überforderungen und Verluste ist es auch zweifelhaft geworden, ob es sinnvoll ist, das, was an Zuträglichkeiten für Heil und Technologie und Politik in der Philosophie immerhin anzutreffen war und vielleicht ist, zum Separatum zu stilisieren: ich bezweifle, dass es mehr ist als ein frommer Wunsch der Philosophenprofis, dass die Philosophie den gesunden Menschenverstand und die nüchterne Vernunft gegen die, die sie aus ihrer tagtäglichen Wirklichkeit eigentlich haben sollten, retten müsste und – falls es wirklich nötig wäre – retten könnte. Es gibt natürlich Leute, die die Philosophie als Amulett betrachten, das gegen Irrwege schützt; jedoch – genau umgekehrt wie bei jenem Hufeisen, das in einer bekannten Anekdote bedeutsam ist, die von Niels Bohr erzählt wird1 – die Philosophie nützt auch und gerade dann nichts, wenn man an sie glaubt. Damit ist jener Sektor berührt, in Bezug auf den die Philosophie das Kompetenzmonopol ohnehin niemals hatte: die Lebensweisheit. Wo es um ihre Äußerung geht, waren schon immer mindestens die Dichter ihre Konkurrenten. So scheint auch eine Spezialität gefährdet, die die Philosophie hat, wo man definieren kann: Philosophie, das ist die Altersweisheit der noch nicht Alten: Simulation von Lebenserfahrung für die und durch die, die noch keine haben. Hier wird der biologische Prozess zum Angriff auf diese Kompetenz: immerhin werden sogar Philosophen älter, wenn man es auch manchmal nicht merkt, und dann können sie – das vermute ich einstweilen nur und auch nur manchmal – Philosophie durch wirkliche Altersweisheit ersetzen und brauchen die Philosophie nicht mehr. Indes: Lebenserfahrung zu sein für die, die noch keine haben, Altersweisheit der noch nicht Alten zu sein: das ist schließlich nicht nur eine mögliche Teildefinition der Philosophie, sondern die wirkliche Teildefinition der Geisteswissenschaften dort, wo diese das Pensum haben, zu erinnern, und gerade darum jetzt – und das ehrt sie – angefochten sind: denn wo riskant reformiert wird, ist man plausiblerweise daran interessiert, sein Risiko bei der Erfolgskontrolle zu mindern durchs Verbot der Erinnerung. Erinnert die Philosophie besser als die Geisteswissenschaften? Doch wohl kaum: und so ist ihr in diesen erinnernden Wissenschaften, auf die die Philosophie wegen ihres sonstigen Kompetenzverlusts seit dem vorigen Jahrhundert setzte, ein Kompetent erwachsen, der ihre vielleicht letzte Kompetenz in Frage stellt: die Erinnerungskompetenz. Offenbar laufen die Kompetenzen der Philosophie aus, so dass sie bei der Inkompetenz endet. Das heißt nicht, dass sie bei all diesen Fragen gar nichts mehr zu sagen hätte; aber sie ist überwiegend zum aussichtslosen Kompetenten geworden, günstigstenfalls zur zweiten Besetzung: und was nützt es, die zweite Besetzung zu sein, wenn die erste wirklich gut und überdies niemals indisponiert ist. Die Philosophie: sie ist zu Ende; wir betreiben Philosophie nach dem Ende der Philosophie. Was tun? – ich zitiere hier nicht Lenin, sondern Schillers »Teilung der Erde« – Was tun, spricht Zeus, die Welt ist weggegeben; – aber der einzige konstruktive Hilfsvorschlag, den Zeus – bei Schiller – dann machte, der war an die Dichter gerichtet und eben nicht an die Philosophen: gerade den Philosophen hilft er nicht. So bleibt es dabei: Der Bericht zur Lage der Kompetenz der Philosophie, das ist eine Orgie der Fehlanzeigen.
Freilich: stimmt das nun wirklich und muss das so sein? Ich gebe gern zu: es mag Residualkompetenzen geben für die Philosophie, vielleicht sogar beträchtliche, womöglich nicht nur residuale, indes: darüber zu sprechen fehlt mir – mir ganz persönlich – die Kompetenz; denn dafür bin ich nicht zuständig, dazu bin ich nicht fähig, dazu bin ich allenfalls bereit, und lassen Sie mich das kurz erläutern. – Ich bin nicht zuständig, und zwar mindestens aus Gründen der Höflichkeit: Es wäre unhöflich, auch nur von ferne den Eindruck zu erwecken, die Münchener brauchten zur Würdigung einer Kompetenz, die sie – und vielleicht als einzige – selber kennen, einen Auswärtigen, gar einen in Hinterpommern geborenen Zwangsostfriesen, der am Fuße des Vogelsbergs sein bedenkliches Leben verbringt und darum ja auch sowieso eher zuständig ist für nonkonformistische Teile der südhessischen Grundlagenfolklore. – Ich bin auch nicht fähig zur Würdigung solcher Kompetenz, und zwar aus Gründen der Unfähigkeit: Meine Arbeitsstätte ist eben kein Institut für Naivität, sondern nur eines zur Suche der verlorenen, ein Zentrum für konzentrierte Ratlosigkeit: und solch ein Philosoph – nennen wir ihn einen sentimentalischen – hat es schwer etwa mit der Theorie, mit der, die aus dem Staunen erwächst, jenem unadressierten Dank fürs Wohlsein der Welt, der zur Schau ihrer schönen, guten und wahren Ordnung ermuntert; er ist nämlich ein schlechter Stauner, denn das Einzige, worüber er wirklich staunt, das ist: davongekommen zu sein, einstweilen und unwahrscheinlicherweise. – Gleichwohl bin ich bereit, über verbleibende Kompetenzen der Philosophie mich zu äußern. Dieser ganze Prozess des Kompetenzverlusts der Philosophie, er lässt sich ja schließlich auch ganz anders lesen: nicht als Weg der Enteignung, sondern als Weg der Erleichterung; denn vielleicht ist dieser Pflichtenverlust der Philosophie für sie in Wirklichkeit ein Gewinn von Freiheiten; ihre Verdrängung kann ihre Entlastung bedeuten: wenn sie jetzt nichts mehr muss, dann könnte das gerade heißen, dass sie jetzt nahezu alles darf. So mag also mancherlei für sie übrig bleiben. Denn da sind schließlich auch noch ihre unbestrittenen Pensen: die Philosophiegeschichte und ebenso auch die Logik, die freilich in Symbiose lebt mit der Mathematik. Überhaupt sind Symbiosen wichtig: vor allem für die Grundlagenphilosophie der Einzelwissenschaften. In diesen ist – nach Heideggers Diktum – so viel Philosophie wie Fähigkeit zur Grundlagenkrise: ihr Grundlagenkrisenmanagement ist also ein bleibendes philosophisches Pensum. Aber wer ist wirklich kompetent dafür? Reine Philosophen? Oder die Wissenschaftler der jeweils betroffenen Wissenschaft selber? Die Zeit der reinen Philosophen ist vorbei: wo sie auf Reinheit bestehen, verlieren sie schließlich die Philosophie. Wie also steht es mit ihrer Grundlagenkompetenz für die Wissenschaften? Hier sind offenbar Zweifel möglich und angebracht; ich äußere sie denn auch freimütig: teils schon deswegen, weil es keinen guten Eindruck machen würde, wenn hier in diesem Kolloquium über die Philosophie nur Zuversichtliches, nur Jubelndes gesagt würde; und teils auch aus kompositorischen, sozusagen aus gliederungsrhythmischen Gründen: was tut man nicht alles – wie jenes berühmte Wiesel – um des Reimes willen; meine Überlegung käme zu keinem Duktus und zu keiner Peripetie, wenn ich nicht zunächst dabeibliebe, nachhaltig die radikale Reduktionsgeschichte der Kompetenz der Philosophie und also nachdrücklich Folgendes zu behaupten, ich wiederhole es: Erst war die Philosophie kompetent für alles; dann war die Philosophie kompetent für einiges; schließlich ist die Philosophie kompetent nur noch für eines: nämlich für das Eingeständnis der eigenen Inkompetenz. Und wenn das so sich verhält, dann bleibt übrig für die Philosophie: gar nichts, also die reine, pure, nackte Inkompetenz, sowie – um den Sokrates zu zitieren – nur noch eine einzige ganz winzige Kleinigkeit, eine freilich sehr unsokratische Kleinigkeit, eine, die die Philosophie nicht weniger problematisch, sondern die sie vollends problematisch macht, etwas, das ich im Blick auf die radikal inkompetent gewordene Philosophie nennen möchte: ihre Inkompetenzkompensationskompetenz.
2. Über sie – also über diese Inkompetenzkompensationskompetenz – möchte ich jetzt zwei Vorbemerkungen, zwei mittlere Bemerkungen und eine Nachbemerkung machen. Sie werden – vermute ich – erst an dieser Stelle spüren, dass ich mein Thema, ein vorgegebenes wie gesagt, etwas eigenartig aufgefasst habe: nämlich mich interessiert hier nicht die Grenze zwischen dem unendlichgroßen Gebiete der Inkompetenz und dem unendlichkleinen Gebiete der Kompetenz der Philosophie, sondern mich interessiert gerade eine Nichtgrenze: die Legierung von Inkompetenz und Kompetenz, und eine derartige Legierung ist bei der Philosophie das, was ich genannt habe: ihre Inkompetenzkompensationskompetenz. Darüber also zunächst zwei Vorbemerkungen:
a) Diese Inkompetenzkompensationskompetenz hat bei der Philosophie viel mit ihrer Inkompetenz zu tun: denn kompensieren muss man nur, wo etwas fehlt; und so ist denn ihre Inkompetenzkompensationskompetenz zunächst einmal ein Symptom ihrer Inkompetenz.
b) Es gäbe sie nicht – diese Inkompetenzkompensationskompetenz –, wenn es nur die Inkompetenz der Philosophie gäbe und nicht auch ihre Kompetenznostalgie. Alle reden von Nostalgie: ich auch. Etwas zu sein: danach sehnt sich die Philosophie; und sie war etwas: das kann sie nicht vergessen, auch nicht dadurch, dass sie sich einredet, sie sei noch etwas, wenn sie das Überflüssige ist. Sie ist zwar – als das Inkompetente – tatsächlich das Überflüssige, aber sie ist es eben nicht einfach hin, sondern sie ist kompetenznostalgisch jenes Überflüssige, das in das Nützliche verliebt ist, und zwar unglücklich. Auf die pure Überflüssigkeit sich zurückzuziehen: das hält sie gar nicht aus. Das wird zunächst bestätigt durch ein mehr rührendes Phänomen: durch den Enthusiasmus der Philosophen für unbezahlte Nebentätigkeiten. Der Mensch ist das tätige, der Philosoph ist das nebentätige Lebewesen; es blühen seine extraprofessionellen Selbstbestätigungsaktivitäten: Die Philosophen werden – dabei ist übrigens ihr bekanntes Faible für Talmijurisprudenz nur die geheime Rache der aus der Philosophie vertriebenen Mathematik für ihre Vertreibung: wo sie aus der Philosophie verschwindet, erzeugt sie jenes Vakuum, in welches dann das eindringt, was Philosophen und nur Philosophen für juristische Logik halten – die Philosophen also werden Selbstverwaltungsfetischisten, Fundamentalstatistiker, Gründungs- und Opernbeiräte, Wissenschaftstouristen, Leistungssportler des Interdisziplinären, Planungs-, Satzungs- und Gesetzesverfertiger, graue Eminenzen der Totaltransparenz, d. h. Dunkelmänner der Durchsichtigkeit, ambulante Seelentröster und Kommunalpolitiker, direkte und indirekte, gutachterliche Papierfluterzeuger, sekundäre Salonlöwen, und so fort; und sie schaffen dabei – bei diesem Sein zum Herzinfarkt auf der Suche nach der Kreislaufstörung als Beweis der eigenen Realität – allemal das, was Gehlen die Flucht in die Überarbeitung genannt hat: Ich ächze, also bin ich, und zwar nützlich. Darum – weil die Philosophen gegenwärtig als jene Überflüssigen leben, die kompetenznostalgisch in das Nützliche unglücklich verliebt sind, so dass sie ihren einschlägigen Minnedienst notfalls durch Nebentätigkeit leisten – wirkt die Überflüssigkeit als Rechtfertigungskategorie auch nur dort – wenn auch nicht perfekt – lindernd, wo eine Theorie der Nützlichkeit des Überflüssigen hinzutritt: etwa dadurch, dass man Veblens Kategorie der stellvertretenden Muße, die bei den feinen Leuten einstmals von Frauen und Dienstboten absolviert wurde, auf die Philosophen ausdehnt; denn häufig sind die Philosophen tatsächlich ebendies: stellvertretende Müßiggänger auf der Suche nach feinen Leuten; darum halten sie sich gern bei den Herrschenden auf und noch lieber bei den künftigen Herrschenden, am liebsten bei jenen künftigen Herrschenden, die auch jetzt schon herrschen, wobei der Grenzfall möglich ist, dass sie sich bei sich selber aufhalten. Der – in dieser Rolle freilich längst schon wieder durch andere überbotene – Philosoph wird Parasit als Status-Symbol. Und er symbolisiert – ob in den Herrschaftsterrains der Besitzer oder der Funktionäre: das läuft mindestens in diesem Punkt auf dasselbe hinaus – damit ja wirklich: dass des einen Leben der Tod des anderen ist, dass die Menschen vom Leiden anderer Menschen leben, die Freiheit von der Knechtschaft, die Gleichheit vom Unterschied, das Hinsehn vom Wegsehn, das Glück vom Unglück: das ist ja so und ist ja nicht nicht so. Das Parasitäre versteht sich immer von selbst: Diesen Satz nicht gelten lassen wollen und gleichwohl selbstverständlich das Parasitäre zu sein: das ist die Philosophie; und wo sie Gewissen hat, quält sie das; und wo sie ihre Kompetenzen verloren hat, aber nicht den Eindruck, dass sie hier welche haben sollte, ist sie dieser Qual unmittelbar und daher schutzlos ausgesetzt. Das, was ich Kompetenznostalgie nannte, artikuliert diese Qual und kanalisiert sie in Richtung auf Kompensationen: die Philosophie beschwichtigt sich, indem sie – angesichts dieser Qual – entweder verzweifelt nicht sie selbst oder verzweifelt sie selbst sein will; und das bedeutet: bei der Kompetenznostalgie streicht sie entweder die Kompetenz oder die Nostalgie; sie wird entweder zum Kompetenzflüchter und sucht Nostalgie ohne Kompetenz d. h. absolute Inkompetenz mit schönen Gefühlen; oder sie wird zum Kompetenzhocker und sucht Kompetenz ohne Nostalgie d. h. absolute Kompetenz mit erhabenen Ansprüchen. Dadurch will sie jener Qual des Gewissenhabens entkommen, indem sie bei seiner Anklage entweder nicht die Adresse zu sein versucht oder aber der Adressierer, entweder nicht zurechnungsfähig oder der Zurechner selber: sie entflieht dem Gewissenhaben entweder in Varianten des Gar nichts oder ins Gewissensein. Ihre Inkompetenzkompensation ist – angesichts jenes Gewissenhabens – entweder die Flucht aus ihm in jene totale Inkompetenz, die darin besteht, dass die Philosophie gar nicht präsent ist, oder die Flucht aus ihm in jene totale Kompetenz, die darin besteht, dass die Philosophie das absolute Weltgewissen wird. Der Philosoph ist dann: nur Narr, nur Richter, entweder das eine oder das andere – falls das wirklich eine Disjunktion ist. Diese beiden Möglichkeiten der Inkompetenzkompensation, die ich hier anvisiert habe: die Stilisierung der Philosophie zur absoluten Instanz oder ihre Selbstverwandlung in ein gerade noch lebensfähiges Nichts – im Grunde Ersatzgestalten und Nachfolgeformen uralter Fraktionen der Philosophie: des Dogmatismus und des Skeptizismus – möchte ich jetzt in zwei kurzen Mittelbemerkungen nacheinander einschlägig charakterisieren.
α) Der Dogmatismus nennt sich heutzutage Kritik und ist – wie ich sagte – die Position der Totalkompetenz der Philosophie durch die Flucht aus dem Gewissenhaben in das Gewissensein. In Freuds Theorie der Ökonomie des Über-Ich scheint mir dieser ziemlich unbehagliche Konnex angedeutet, dass jemand, der Gewissen wird, sich dadurch die Notwendigkeit ersparen kann, Gewissen zu haben: das muss nicht so laufen, erklärt aber, warum die Kritik wohl häufig nicht wegen der Kritik, sondern gerade als Entlastung durch diesen Vermeidungsertrag attraktiv werden kann. Drum auch darf man im Hause der Kritik nicht von Entlastung sprechen: das kommt der Sache zu nahe. Die Kritik verdächtigt alles und klagt alles an und sitzt über alles zu Gericht. Sie ist damit Schritt innerhalb einer Tradition: denn erst – in der Religion – saß Gott über die Menschen zu Gericht; dann – in der Theodizee – die Menschen über Gott; dann – in der Kritik – die Menschen über sich selber. Das Gericht der Kritik ist also Selbstgericht, und das ist anstrengend: darum wählt die Kritik den Ausweg, dabei nicht der Angeklagte zu sein, sondern der Ankläger; sie entlastet sich, indem sie richtet, um nicht gerichtet zu werden; die Kritik: das sind Ferien vom Über-Ich dadurch, dass sie selber jenes Über-Ich wird, das die Anderen nur haben, und das selber kein Über-Ich hat. Dem an sich und für sie verurteilten Zustande ist sie dann für sich schon entkommen: der verurteilte Zustand sind somit die Anderen. Und die Kritik entkommt absolut, indem alle verurteilten Zustände so die Anderen werden und die Philosophie als Kritik selber das absolut Unanklagbare wird, das, was Menschen doch eigentlich nicht sein können: das Absolute, das nicht mehr gerichtet wird, weil es nur noch selber und nur noch andere richtet. Die Philosophie: sie »hatte« Gewissen, aber das hat sie, indem sie absolut vorn ist, hinter sich: stattdessen »ist« sie nun Gewissen, und zwar das absolute. Die institutionellen Konsequenzen reichen über das, was die Philosophie als Separatum betrifft, dabei natürlich weit hinaus; ihre Organisation zu einem zentralen Institut ist – so nützlich sie sein mag – nicht unabdingbar, denn die Philosophie ist hier – absolut, wie sie nun einmal ist – nicht nur zentral, sondern ubiquitär und omnipräsent: die kritische Philosophie wird alles und daher wird alles kritische Philosophie. Sie löst propriale Sachbereiche und Objektbegriffe auf und ersetzt sie durch emanzipatorische Reflexionsbegriffe, die wesentlich Lockmittel und Brechmittel sind: sie locken in Fortschrittliches und brechen den Widerstand dagegen. Die Kritik kennt keine Gegenstände mehr, sie kennt nur noch Relevanzen; und so wird alles identisch: Philosophie und Politik, Utopie und Selbsterhaltung, Haupttätigkeit und Nebentätigkeit, Transparenz und Undurchsichtigkeit, Philosophie und Einzelwissenschaft, jedes Fach mit jedem; nur die Fächer selber verlieren dabei ihre Identität. Dadurch entsteht die Gefahr, dass diese integrierte Gesamtwissenschaft von der Emanzipation – die sozusagen unterwegs ist vom Fachidioten zum integrierten Gesamtidioten, dem so genannten nützlichen, und von der Tyrannei der Werte zur Tyrannei der Stellenwerte – zu jener militanten Karikatur des Identitätssystems wird, in welcher nicht mehr nur alle Kühe schwarz, sondern auch alle Fächer grau sind, weil in allen nur noch dasselbe gedacht wird und nichts anderes mehr: Dieses andere nämlich – meint sie – ist böse, ebenso dann, wenn es falsch, wie auch dann, wenn es überflüssig ist, was in der Praxis heißt: wohl auch dann, wenn es richtig ist, aber nicht opportun. Denn was nicht für die Kritik ist, ist gegen die Kritik und also Sünde. So werden bei diesem bacchantischen Taumel, an dem kein Glied nicht trunken sein darf, gerade jene exkommuniziert, die nüchtern bleiben. Die Wissenschaften werden wieder häresiefähig: ihre Recherchen und Ergebnisse unterliegen wieder einer Zensur im Namen des Heils. Davon befreit zu haben war die Neuzeit; es zu rehabilitieren ist die Gegenneuzeit. Um diesen Preis sucht die Philosophie unterm Namen der Kritik dogmatistisch absolute Kompetenz.
β) Die andere Möglichkeit ist die Nachfolgegestalt des Skeptizismus: es ist die Position der in Kauf genommenen totalen Inkompetenz der Philosophie durch die Flucht aus dem Gewissenhaben in eine mehr oder weniger temperierte Unzurechnungsfähigkeit und also Nichtpräsenz der Philosophie bzw. des Philosophen. Hier ist die Ersparungsrelevanz, der Entlastungsertrag, die Vermeidungsvalenz ohnehin manifest, so dass man nicht erst lange darüber reden muss. Es gibt mehrere Sorten solcher Nichtpräsenz. Die durch Woanderssein ist jedermann geläufig, der museal beschäftigt ist oder sonstwie verreist. Aber man kann – und das ist keine Sache einer bestimmten philosophischen Schule oder Richtung – man kann auch nicht da sein, indem man ständig noch nicht da ist; und das kann man hermeneutisch: weil das Gespräch noch nicht zu Ende ist; oder dialektisch: weil das Gegenteil noch nicht eingetreten ist; oder analytisch: weil die Behauptung immer noch zu immun auftritt; oder anthropologisch: weil man unbedingt erst noch einmal zu den Bororos muss; oder historisch: weil zuvor noch alles darauf ankommt, die Gnosis zureichender zu erforschen; oder geschichtsphilosophisch: weil man noch auf die Basis oder noch auf den Überbau warten muss oder auf den, der absolut feststellt, auf wen man warten muss; oder transzendental: weil noch nicht alle Möglichkeitsbedingungen beisammen sind oder schon zu viele; oder ästhetisch: weil der Rhythmus noch nicht stimmt oder nur erst der Rhythmus; oder rational rekonstruierend: weil der entscheidende Prädikator immer noch nicht konsensual genug eingeführt ist; oder begriffsgeschichtlich: weil man erst bis I informiert ist; oder direkt skeptisch: indem man überflüssig bleibt und schläft, wenn man nicht gerade nützlich nebentätig ist – man sollte sich hüten vor nebentätigen Skeptikern – und so fort: am besten – für eine solche Absenz – ist es gerade, alle Philosophien zu haben oder jedenfalls möglichst viele, um immer gerade die andere zu haben. Die philosophische Kommunikation ist hier Einsamkeit mit anderen Mitteln. Die institutionelle Konsequenz ist die Organisation von Anwesenheitsverhinderungen: Auch hier ist es gut, wenn die Philosophie etwas Zentrales wird, hier ist ein Zentrum nützlich, weil es – wo Fakultäten oder Fachbereiche existieren – eine zweite Präsenzverpflichtung begründet, die mit der ersten aussichtsreich kollidiert; wer da nicht für Philosophie und nicht für die erste Philosophie zuständig ist, sondern nur für die zweite, die andere, die skeptische, ist im Zentrum wegen des Fachbereichs und im Fachbereich wegen des Zentrums verhindert und kann gerade dadurch – das ist die Evidenz des dritten Ortes – arbeiten in seiner Außenstelle für Exzentrik: zu Hause, als ein emeritus praecox, ein Sisyphus, der dort seinen Stein, ehe er ihn rollt, allererst basteln muss, und zwar mit Wörtern und aus nichts. Aber aus nichts wird nichts; und so ist, was so einer treibt, allemal die Verwandlung einer gespannten Erwartung in nichts: bekanntlich ist das Kants Definition des Lachens, und so ist diese skeptische Philosophie – tristesse oblige – vielleicht das Heitere und womöglich – im Zeitalter der traurigen Wissenschaft – das letzte Exil der Heiterkeit, ein trauriges: denn wer so lacht, hat nichts zu lachen.
Wo – und dies ist jetzt meine Nachbemerkung – wo die Philosophie kompetenzunsicher, wo sie zunehmend inkompetent und kompetenznostalgisch wird: da will sie schließlich entweder alles sein oder nichts. Beide Möglichkeiten – die weitaus mehr identisch miteinander sind, als ihnen lieb sein kann – hatte ich anvisiert; sie sind Kompensationsarrangements unterm Eindruck von Kompetenzreduktionen bei der Philosophie: sie sind Inkompetenzkompensationen. Rechtfertigt das die Rede von einer Kompetenz, einer Inkompetenzkompensationskompetenz der Philosophie? Man könnte an jenen begriffsgeschichtlich ausgezeichneten Gebrauch des Wortes Kompetenz denken, der sich im Bezirk der kirchlichen Rechte findet: dort ist die Kompetenz der terminus technicus für jene Klerikeralimentation, die zur Führung eines standesgemäßen Klerikerlebens erforderlich und darum unpfändbar ist. Denn diese Bedeutung – bei der ein durch die Schule des Verdachts bei Marx und Nietzsche und Freud und Heidegger und Adorno Gegangener mit gelehrigem Argwohn sich fragt, warum eigentlich unsere gegenwärtigen Kompetenztheoretiker von ihr in ihren wissenschaftlichen Performanzen keine Notiz nehmen – diese Bedeutung von Kompetenz kann akzentuiert werden entweder in Richtung auf die Bedingungen der Möglichkeit von Priesterschaft, von potestas clavium, oder in Richtung auf die Minimalapanage desjenigen, der nicht am aktiven Leben teilnimmt: und das sind ja die beiden von mir skizzierten Möglichkeiten, durch die die Philosophie ihre Inkompetenz kompensiert: absolute Schlüsselgewalt oder vita postuma. Freilich: Kompetenz lässt an Leistung denken; doch was ich beschrieb, waren Fehlleistungen. Die Philosophie: vielleicht hat sie – ich lasse das offen und sage es mit Vorbehalt – heute keine Chance, keine Fehlleistung zu sein; vielleicht hat sie nur die Chance, dies sich einzugestehen. Sie hätte dann keine Vollmacht und wäre nicht sie selbst, sondern bestenfalls täte sie etwas statt dessen. Wo sie das in Rechnung stellt: vielleicht würde sie da menschlich, denn Menschen sind ja die, die etwas statt dessen tun.
Ich hatte hier – auf Geheiß – das Referat über Kompetenz und Inkompetenz der Philosophie zu halten; statt dessen habe ich das vorgebracht, was ich statt dessen vorgebracht habe: ein Antireferat. Malraux hat in seinen Antimemoiren die Frage aufgeworfen, ob Memoiren ähnlich sein müssen in einer Zeit, in welcher nicht einmal Portraits mehr Ähnlichkeit wollen. Ich dehne – indem ich im Zeitalter der Totaltransparenz an das Grundrecht auf Ineffabilität erinnere – diese Frage aus nicht auf Referate schlechthin, aber auf dieses Referat2, bei dem ich im Übrigen eigens betonen muss, dass ich es jetzt beende, damit Sie nicht auf die fürchterliche Idee verfallen, ich würde es aus irgendwelchen Prinzipien ewiger Wiederkehr des Gleichen jetzt sofort noch einmal halten, wenn ich folgendermaßen schließe: Bei einem chinesischen Henkerwettstreit – so wird erzählt – geriet der zweite Finalist in die Verlegenheit, eine schier unüberbietbar präzise Enthauptung durch seinen Konkurrenten, der vor ihm dran war, überbieten zu müssen. Es herrschte Spannung. Mit scharfer Klinge führte er seinen Streich. Jedoch der Kopf des zu Enthauptenden fiel nicht, und der also scheinbar noch nicht enthauptete Delinquent blickte den Henker erstaunt und fragend an. Drauf dieser zu ihm: Nicken Sie mal. Mich – sagte ich – interessiert, was dieser Kopf denkt, bevor er nickt; denn das – meinte ich – müsste doch Ähnlichkeit haben mit Gedanken der Philosophie über sich selber. Ich vermute, dass sich Ihnen in Bezug auf mich jetzt seit mindestens fünfundvierzig Minuten die Frage aufdrängt: Wann endlich nickt er?