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1.Kiel als Hauptstadt

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Seit 1946 ist Kiel die Hauptstadt von Schleswig-Holstein. Wenn diese Rolle auch heute nicht mehr wesentlich in Frage gestellt wird, schaut Kiel doch auf eine bewegte Geschichte auf dem Weg zur Hauptstadt zurück. Kiel war tatsächlich keineswegs immer eine Hauptstadt im Norden. Wie aber stand es vorher um die Stadt? Um Kiels Entwicklung zur Hauptstadt nachvollziehen zu können, ist es wichtig, die regionalgeschichtliche Perspektive heranzuziehen und zu fragen: Wie sah es denn um Kiel herum aus? Ganz in diesem Sinne wird in diesem Kapitel auch nach der Funktion der Stadt für das Land Schleswig-Holstein und nach Kiels Rolle innerhalb der deutschen Geschichte gefragt.

Kiels Weg zur Landeshauptstadt war geprägt von etlichen Zäsuren und Brüchen, ein Umstand, der so schon eine Kieler Besonderheit darstellt. Dies lag an den spezifischen schleswigholsteinischen Verhältnissen: Wie der Historiker Hartmut Lehmann darlegt, gab es in Schleswig-Holstein keine Stadt, die selbstverständlich von allen als Hauptstadt angenommen und akzeptiert wurde. Von einer Hauptstadt könne man nur dann sprechen, so Lehmann, wenn von ebendieser Stadt wesentliche Funktionen ausgeübt würden, die für die Region im Ganzen bestimmt und wichtig seien und zwar in politischer, rechtlicher, verwaltungsmäßiger, ökonomischer und kultureller Hinsicht. Und dies traf keineswegs alles für Kiel zu – und tut es eigentlich bis heute nicht. Zwar ist nun Kiel Sitz der Landesregierung und des Landesparlaments, auch befindet sich hier die einzige Volluniversität Schleswig-Holsteins. Aber auch Flensburg und Lübeck firmieren mittlerweile erfolgreich als Universitäts- und Wissenschaftsstandorte. Das Oberlandesgericht als juristisches Zentralorgan, das Landesarchiv und das Landesmuseum als Gedächtnis des Landes sind hingegen in Schleswig zu Hause. In Kiel gibt es eine bunte kulturelle Szene, aber auch andernorts im Land, z. B. in Schleswig oder in Lübeck, wird ein interessantes Theater- und Kulturprogramm geboten. In Richtung Hamburg hat die Landeszentralbank, ehemals mit Sitz in Kiel und Lübeck, 2014 das Bundesland verlassen. Auch andere wirtschaftlich bedeutsame Zweige verlagerten und verlagern ihren Sitz mehr und mehr an die Elbe. So gibt gegenwärtig die Landesbausparkasse ihren zweiten Hauptsitz in Kiel zugunsten des Standortes Hamburg auf, was in der Kommunalpolitik für Unmut sorgt. Kiel ist ohne Frage auch weiterhin ein zentraler Standort für Industrie, Handwerk und Dienstleistungssektor, doch die Konkurrenz ist groß. Die Randbezirke der Metropolregion Hamburg – manche sprechen despektierlich vom »Hamburger Speckgürtel« –, wie beispielsweise der Kreis Stormarn, verfügen über vergleichbare ökonomische Potentiale. Dazu spielt die ehemalige Freie Hansestadt Lübeck am Rand des heutigen Bundeslandes Schleswig-Holstein in vielerlei Hinsicht eine so von vielen Lübeckern auch bewusst gewollte Sonderrolle. Schließlich war man dort bis 1937 selbstständig!

Schon diese erste Auflistung, die man mühelos noch erweitern könnte, macht deutlich: Schleswig-Holsteins Städtelandschaft ist nicht zentral ausgerichtet, sondern erstreckt sich über mehrere Städte, die jeweils als ein Knotenpunkt fungieren. Dies hängt ganz wesentlich mit der spezifischen Vergangenheit Schleswig-Holsteins zusammen.

Im 13. Jahrhundert begann man, das Land nördlich der Elbe zu urbanisieren. In diese Zeit fällt auch die Gründung oder vielmehr Erhebung Kiels zur Stadt. Kiels »Gründung« war tatsächlich kein isolierter Akt, sondern ein wohlüberlegter Schachzug einer weit gefassten Städtepolitik der holsteinischen Grafen aus dem Hause Schauenburg. Diese verfolgten das Ziel, ihre Landesherrschaft nachhaltig auszubauen und dauerhaft zu festigen. Zwischen 1201 und 1223/27 hatten sie diese nach einer Niederlage gegen den dänischen König Waldemar II. (*1170; †1241), der fortan den schillernden Beinamen »der Sieger« führte, verloren und wollten nun verhindern, dass sich solches wiederholte. Die gräfliche Städtepolitik sah vor, dass die frisch gegründeten Städte wichtige politische, militärische und wirtschaftliche Aufgaben wahrnehmen und zu herrschaftlichen Stützpunkten werden sollten. Gerade im Hinblick auf die ökonomische Entwicklung ging es den Schauenburger Grafen zumal darum, der Konkurrenz der damaligen »Boomtown« Lübeck Paroli zu bieten, wie der Historiker Thomas Hill nachweist. Lübeck gewann im 13. Jahrhundert als Handelspartner von Hamburg zusehends an Wichtigkeit – Hamburg an der Elbe als Tor zur Nordsee und Lübeck an der Trave mit dem Hafenzugang zur Ostsee, mit einer lediglich schmalen Landstrecke zwischen beiden –, was den Schauenburgern ein Dorn im Auge war. Kiel war offenbar gemeinsam mit der nahezu zeitgleich 1238 mit Stadtrecht versehenen Stadt Itzehoe an der Stör als ein ähnlich miteinander korrespondierendes Städtepaar gedacht, zwischen dem der Handel auf Ost- und Nordsee enger zusammenrücken sollte.

Doch eine wirkliche ökonomische Gefahr für die hansische Handelsachse zwischen Hamburg und Lübeck stellte dieses neue Städteduo Kiel-Itzehoe aufgrund seiner exzentrischen Verkehrslage zu keiner Zeit dar. Gleichwohl darf man nicht vergessen, dass Kiel vom Ausgang des 13. Jahrhunderts an – nachweislich seit 1283/84 – bis zu seinem offiziellen Ausschluss im Jahr 1544 ein mehr oder minder aktives Mitglied der Hanse gewesen ist. Allein schon die Mitgliedschaft in der Hanse sowie die für Kiel früh belegte Existenz einer eigenen Gilde von Schonenfahrern sind Ausdruck der Bemühungen, die Stadt als neues ökonomisches Zentrum im Handel zwischen Ost- und Nordsee zu installieren. Für Kiel als ein solches neues ökonomisches Zentrum sprach darüber hinaus, dass in dessen Umkreis ein Ort lag, der eine Verbindung nach Westen, zur Nordsee hin, bereits sicherstellte: Gemeint ist Flemhude, dessen Name anzeigt, dass sich hier ein Landeplatz flämischer Fernhändler befand, die, von der Nordsee über Treene und Eider kommend, mit ihren wertvollen Waren die Ostsee zu erreichen suchten – wohl weil die protektionistischen Lübecker Kaufleute dies weiter südlich erfolgreich zu verhindern wussten.

Kiel als Dreh- und Angelpunkt in internationalem Handel – um dies zu erreichen, wagte Friedrich III. (*1597; †1659) in den 1630er Jahren einen neuen Vorstoß. Er knüpfte an den mittelalterlichen Versuch an, über die »Gründung« Kiels eine weitere Handelsroute im Fernhandel zu etablieren und bemühte sich in den 1630er Jahren, Kiel gemeinsam mit dem erst 1621 gegründeten Friedrichstadt zu einem neuen korrespondierenden Städtepaar zu machen. Dieses sollte eine führende Rolle im internationalen Seidenhandel zwischen Persien und Westeuropa einnehmen. Diese ehrgeizigen Pläne Herzog Friedrichs und seiner höfischen Umgebung scheiterten, besser gesagt: Sie scheiterten nicht einfach, sondern der Verantwortliche, Kaufmann Otto Brüggemann (1600; †1640), wurde 1640 wegen vermeintlicher Inkompetenz öffentlich hingerichtet. Aber immerhin legten die Persianischen Häuser, die zwischen 1632 und 1638 am Kieler Alten Markt aus dem Holz der zunächst für den gedachten Warenumschlag am Hafen errichteten Packhäuser erbaut worden waren, bis zu ihrer Zerstörung im Bombenkrieg des Jahres 1944 in gewisser Weise ein Architektur gewordenes und namentliches Zeugnis der Fernhandelsfunktion ab, welche Kiel seinerzeit einnehmen sollte.

Solche ehrgeizigen Pläne und die durchaus längere Verortung der Stadt auch in der Hanse konnten nichts daran ändern, dass Kiels Handel und Wirtschaft stets eine allenfalls regionale Ausrichtung hatten. Diese Beschränkung auf regionalen Handel stellte ein konstantes Problem in der Kieler Geschichte dar. Noch nicht einmal durch den 1895 eröffneten Kaiser-Wilhelm-Kanal (heute Nord-Ostsee-Kanal) als Tor zur Welt vor den Mauern Kiels ließ sich dies ändern: Die Welt fuhr auf dem Kanal nur noch besser an Kiel vorbei.

Ökonomisch betrachtet ist Kiel lange Zeit und bis heute also keinesfalls ein Monolith in der schleswig-holsteinischen Städtelandschaft gewesen. Anders sah es phasenweise auf der politischen Ebene aus. Schon in seiner ersten städtischen Grundstruktur zeichnete sich Kiel durch eine feste Verbindung zur stadtherrlichen Burg aus, die den nördlichen Landzugang zur Stadt wirksam abschirmte. Hier etablierte zwischen 1261 und 1316/21 die sogenannte Kieler Linie des Schauenburger Grafenhauses ihre namengebende Hauptresidenz, wie noch näher beleuchtet werden wird. Diese Seitenlinie der Schauenburger existierte jedoch nicht lange. Mit dem Verschwinden der gräflichen Nebenlinie verlor auch Kiel seinen Status als gräflichen Hauptsitz rasch wieder. Immerhin fungierte die Burg, die in der frühen Neuzeit zum repräsentativen Schloss um- und ausgebaut wurde, nunmehr des Öfteren als Witwensitz, so etwa zur Zeit der Herzoginwitwe Friederike Amalie (*1649; †1704). Diese zog hier nach dem Tod ihres fürstlichen Gemahls Christian Albrecht (*1641; †1694) ein und lebte bis zu ihrem eigenen Ende im Jahr 1704 in Kiel. Ihr Kieler Witwenhof entwickelte sich in kürzester Zeit zum kulturellen Zentrum im Gottorfer Machtbereich.

Nach der schweren Niederlage im Großen Nordischen Krieg 1721 musste der Gottorfer Herzog seine Anteile am Herzogtum Schleswig an den dänischen König abtreten. Kiel profitierte von diesem Verlust, denn es trat nun an die Stelle der bisherigen Hauptresidenz Gottorf und wurde zur neuen Hauptstadt des Miniaturstaates Holstein-Gottorf. Zur dynastischen Grablege wurde die Kirche des ehemaligen Chorherrenstifts in Bordesholm anstelle des ehrwürdigen Schleswiger Domes erkoren. Kurz darauf, am 26. August 1727, zogen in das Kieler Schloss neue illustre Bewohner ein: Der damals 27-jährige Herzog Carl Friedrich (*1700; †1739) mit seiner schwangeren Gemahlin Anna Petrowna (*1708; †1728), einer Tochter Zar Peters des Großen (*1672; †1725), hielt feierlichen Einzug in seine Hauptstadt, nachdem er aus Russland vertrieben worden war. Hier, im Kieler Schloss, wurde wenig später sodann der einzige Sohn und Erbe, Carl Peter Ulrich (*1728; †1762), geboren. Der Kieler Zarenverein rückte dies durch ein 2014 im Kieler Schlossgarten aufgestelltes Denkmal des russischen Bildhauers Alexander Taratynov (*1956) ins öffentliche Bewusstsein. Dieser Carl Peter Ulrich machte später in Russland eine ungewöhnliche Karriere, indem er bald von seiner kinderlosen Tante, der Zarin Elisabeth (*1709; †1762), zum russischen Thronfolger erklärt und nach St. Petersburg geholt wurde. Doch die Regentschaft von Carl Peter Ulrich stand unter keinem guten Stern: Er trat zwar als Peter III. im Jahr 1762 die Nachfolge Elisabeths auf dem Zarenthron an, doch er wurde nach nur sechsmonatiger Regierungszeit gestürzt und ermordet. Seine daran nicht ganz unbeteiligte Frau und Nachfolgerin, Katharina die Große (*1729; †1796), suchte anders als ihr Gatte im Bemühen um Frieden im Norden einen Ausgleich mit Dänemark, was zum Tauschvertrag von Zarskoje Selo führte, demzufolge Holstein-Gottorf samt Kiel 1773 an den dänischen Gesamtstaat fiel.

Kiel büßte damit seine Hauptstadtfunktion wieder ein. Immerhin wurde es aber am 1. Oktober 1834 Sitz des Oberappellationsgerichts, welches in einem Gebäude in der Flämischen Straße untergebracht wurde. Diese Einrichtung, die eine endgültige Trennung von Justiz und Verwaltung im Gesamtstaat mit sich brachte, machte Kiel zum Standort eines letztinstanz- lichen Gerichts für Holstein, Schleswig und Lauenburg, das seit 1815 ebenfalls zum Gesamtstaat gehörte. Kiel erfüllte damit eine zentrale juristische Funktion für den gesamten Bereich zwischen Elbe und Königsau. Allerdings behielt es diese nur bis zur Schleswig-Holsteinischen Erhebung. 1852/54 wurde dann ein eigenes Oberappellationsgericht in Flensburg installiert. Erst im Rahmen einer Justizreform von 1879 erlangte Kiel seine wichtige Rolle innerhalb der Rechtsprechung für den gesamten Bereich der nunmehr preußischen Provinz Schleswig-Holstein zurück, indem es Sitz eines Oberlandesgerichts wurde. Dieses wurde in einem stattlichen neoromanischen Bau am Lorentzendamm untergebracht, der zwischen 1892 und 1894 errichtet wurde. Heute befindet sich darin das schleswig-holsteinische Justizministerium.

Nach dem Deutsch-Dänischen Krieg von 1864 wurde Holstein in der Gasteiner Konvention vom 14. August 1865 unter die Verwaltung einer österreichischen Statthalterschaft gestellt, die ihren Hauptsitz in Kiel hatte. Für Schleswig und Lauenburg war hingegen Preußen zuständig. Kiel selbst wurde in der genannten Konvention zur geteilten Stadt erklärt, hieß es doch im Artikel 2: Die Vertragspartner »wollen im (Deutschen) Bunde die Herstellung einer deutschen Flotte in Antrag bringen und für dieselbe den Kieler Hafen als Bundeshafen bestimmen. Bis zur Ausführung der desfallsigen Bundesbeschlüsse … wird das Kommando und die Polizei über denselben von Preußen ausgeübt. Preußen ist berechtigt, sowohl zur Verteidigung der Einfahrt Friedrichsort gegenüber die nötigen Befestigungen anzulegen, als auch auf dem holsteinischen Ufer der Bucht die dem Zweck des Kriegshafens entsprechenden Marineetablissements einzurichten. Diese Befestigungen und Etablissements stehen gleichfalls unter preussischem Kommando, und die zu ihrer Besatzung und Bewachung erforderlichen preussischen Marinetruppen und Mannschaften können in Kiel und Umgebung einquartiert werden.« Um die konkrete Umsetzung dieser Vereinbarung zu regeln, wurde eine eigene Kommission aus preußischen und österreichischen Offizieren gebildet. Unter dem Kommando dieser Kommission wurden in Kiels Westteil österreichische, in seinem Osten preußische Truppen stationiert. Die Trennlinie zwischen den Besatzungsgebieten verlief entlang der Straßen Hamburger Chaussee, Sophienblatt, Klinke, Vorstadt, Holstenstraße, Schlossstraße, Kattenstraße, weiter bis zur Wasserallee. Der Exerzierplatz, das Exerzierhaus beim Schloss, der zwischen Knooper Weg und Schreventeich befindliche Schießstand sowie die Badeanstalt in Düsternbrook standen für eine gemeinschaftliche Nutzung offen. Auf dem Marktplatz, dem heutigen Alten Markt, hatten die Österreicher das Sagen. Zudem wurden den preußischen Truppen am Ostufer der Förde alle Orte von Gaarden bis Laboe zugesprochen, auf dem Westufer noch Düsternbrook und die Wik. Damit befand sich der unmittelbare Fördebereich zum größten Teil in preußischer Hand. Kiel wurde somit zwar zur geteilten Stadt, doch die Übergänge blieben fließend. Eine Demarkationslinie, an der Personenkontrollen hätten durchgeführt werden können, wurde nicht eingerichtet. Die städtischen Bezirke wurden auch nicht unterschiedlich verwaltet, sondern blieben in einer Hand. Während der preußische Gouverneur für Schleswig, Edwin von Manteuffel (*1809; †1885), seinen Amtssitz auf Schloss Gottorf einrichtete, übernahm der verdiente österreichische General Ludwig Freiherr von Gablenz (*1814; †1874) – an den heutzutage in Kiel die 1910 errichtete Gablenzbrücke bzw. die darüber führende Gablenzstraße erinnern, die das Sophienblatt mit der Werftstraße verbinden – auf Seiten der Österreicher das Statthalteramt mit Sitz in Kiel. Im Volksmund wurde der populäre Mann als »Fürst von Kiel« betitelt.

Die österreichische Regierung über Holstein währte allerdings nur bis 1866: Durch den Deutschen Krieg gewann Preußen ganz Holstein für sich und setzte Carl Freiherr von Scheel-Plessen (*1811; †1892) zum Oberpräsidenten für die beiden Herzogtümer ein. Seinen Dienstsitz etablierte der frisch berufene Oberpräsident in Kiel, wo er bald darauf in den Mitteltrakt des Kieler Schlosses einzog. Kiel wurde damit 1866 wieder zur Hauptstadt Schleswigs und Holsteins. Dementsprechend fand auch in Kiel im großen Saal des Schlosses unter Salutschüssen und Glockengeläut am 24. Januar 1867 die feierliche Inbesitznahme der Herzogtümer durch genannten Scheel-Plessen im Namen des preußischen Königs Wilhelm I. (*1797; †1888) statt.

Doch wieder war Kiel der »Hauptstadtstatus« nicht lange vergönnt. Bereits zwei Jahre später, am 1. Oktober 1868, wurden nämlich die bisher getrennten Provinzialregierungen für Schleswig und Holstein zu einer einzigen zusammengefasst, die ihren Sitz nun nicht in Kiel fand, sondern in Schleswig. Oberpräsident Scheel-Plessen hatte hierzu seine eigene Meinung, hatte er doch schon im Juni 1866 verlautbaren lassen: »Mit Entschiedenheit ist auszusprechen, daß Kiel der passendste Sitz der Regierung beider Herzogtümer sein wird. Hier konzentriert sich das politische Leben des Landes.« Um gleichwohl die damalige Entscheidung der preußischen Regierung pro Schleswig und contra Kiel nachvollziehen zu können, sei daran erinnert, dass Kiel zu diesem Zeitpunkt nur eine mittelgroße Stadt mit rund 24 000 Einwohnern war. Flensburg beispielsweise war fast genauso groß, hier wohnten mit 22 000 Einwohnern fast ebenso viele Menschen. In Schleswig waren zwar im Gegensatz dazu lediglich 14 000 Personen beheimatet, doch hatte sich Schleswig wegen der Gottorfer Residenzzeit im Bewusstsein der Menschen stärker als rechtmäßige Hauptstadt der Lande festgesetzt. Vor allem aber gab die Nationalitätenfrage den Ausschlag: Mit dem Beschluss, den Regierungssitz nach Schleswig zu verlegen, sollte das Deutschtum im Schleswiger Landesteil gestärkt werden. Baulicher Ausdruck dieses Beschlusses wurde der bis heute architektonisch imposante Neubau des Regierungsgebäudes in Schleswig, welches bewusst genau gegenüber dem Gottorfer Schloss platziert wurde. Am 22. März 1876 erfolgte die Grundsteinlegung zu diesem »roten Elefanten« aus Backstein, der innerhalb von drei Jahren fertiggestellt wurde, sodass der Dienstsitz des Oberpräsidenten offiziell im Oktober 1879 von Kiel nach Schleswig verlegt werden konnte.

In Kiel blieben nur noch die Einrichtungen der provinziellen Selbstverwaltung zurück, bis auf den Provinziallandtag – dieser wurde im Frühjahr 1880 aus Rendsburg nicht nach Kiel verlegt, sondern ebenfalls nach Schleswig, wo er fortan im alten Ständesaal des Schleswiger Rathauses tagte. Ende des 19. Jahrhunderts jedoch wuchs Kiel zu einer Großstadt heran und übte eine immer stärkere Sogkraft auf das wirtschaftliche und politische Leben im ganzen Land aus. Folgerichtig wurden Pläne zu einer Rückverlegung des Oberpräsidentensitzes nach Kiel geschmiedet und sogar von Kaiser Wilhelm II. (*1859; †1941) unterstützt. Er bezeichnete die Schleswiger Lösung selbst als »größte Dummheit«. Ihren schriftlichen Niederschlag fanden die neuen Absichten in der Denkschrift des seit 1901 amtierenden Oberpräsidenten Adolf Wilhelm Kurt von Wilmowsky (*1850; †1941). Darin hieß es, dass der Oberpräsident nur in Kiel den Pulsschlag des Lebens fühlen und er nur hier am öffentlichen Leben der ganzen Provinz teilhaben könne. Doch das Staatsministerium beharrte in einem Beschluss vom 2. Juli 1904 auf Schleswig als Sitz des Oberpräsidenten. Anders verhielt es sich mit dem Provinziallandtag, der aus Schleswig fortzog und seit dem 19. März 1905 bis zum Ende des Ersten Weltkrieges in der Aula der Christian-Albrechts-Universität tagte. Danach zog er in den Sitzungssaal des 1911 bezogenen neuen Kieler Rathauses.

Die Pläne zu einer Rückverlegung des Oberpräsidiums nach Kiel wurden nun aber keineswegs fallengelassen, zumal die Stadt Kiel selbst Morgenluft witterte und ein lukratives Angebot unterbreitete: Die Stadt wollte ein kostenloses Grundstück für den Bau eines repräsentativen Oberpräsidiums zur Verfügung stellen und bis zu dessen Errichtung für einen Zeitraum von maximal fünf Jahren auf ihre eigenen Kosten Räume im Stadtgebiet anmieten, um einen möglichst raschen Umzug nach Kiel bereits während der Bauzeit gewährleisten zu können. Zu diesem Angebot hatte man sich in Kiel entschlossen, da ein Wiedereinzug des Oberpräsidenten ins Kieler Schloss mittlerweile unmöglich geworden war. Hier residierte seit 1888 der Kaiserbruder Heinrich (*1862; †1929) mit seinem Hof. Als Umzugsdatum wurde der 1. Oktober 1907 vorgeschlagen. Der 1906/07 amtierende Oberpräsident Kurt von Dewitz (*1847; †1925) begrüßte die Initiative. Er hatte sich krankheitshalber einige Zeit in der Kieler Universitätsklinik aufhalten müssen und seinen Worten zufolge mehr hochgestellte Leute am Krankenbett empfangen als in seiner ganzen vorangegangenen Amtszeit in Schleswig. Insbesondere liebäugelte er mit einem attraktiven Grundstück zwischen der Förde und dem Düsternbrooker Gehölz für den Neubau. Hier herrschte ein sauberes Klima, und von hier aus konnte er die großen kaiserlichen Schiffe sehen. Um von dem damals noch etwas abgelegenen Standort schnell ins Zentrum zu gelangen, hatte er die Idee eines überdachten Motorbootes, mit dem er die längere Wegstrecke problemlos zurücklegen wollte. Doch verhinderte das Preußische Abgeordnetenhaus die Umsetzung all dieser Pläne mit seinem Beschluss vom 5. März 1907. Als Kompromisslösung schlug der nachfolgende Oberpräsident Friedrich von Bülow (*1868; †1936) eine Teilung des Regierungsbezirks Schleswig-Holstein vor, wonach die Etablierung eines zweiten Regierungssitzes in Kiel möglich geworden wäre. Aber auch diese Idee stieß im Abgeordnetenhaus auf Ablehnung: Man fürchtete, einen Präzedenzfall zu schaffen, auf den sich andere preußische Regierungsbezirke berufen könnten. Vor allem aber hätte die Umsetzung dieser Kompromisslösung das schleswig-holsteinische Selbstverständnis im Kern erschüttert, verstand man sich hier doch bekanntlich als »up ewig ungedeelt«.

Erst der Erste Weltkrieg brachte Bewegung in diese verfahrene Angelegenheit. Kriegswichtige Zentralbehörden wie die Provinzialkartoffelstelle, die Provinzialfettstelle, die Provinzialeierverteilungsstelle oder die Provinzialfuttermittelstelle waren im zentralörtlichen Kiel, nicht im abgelegenen Schleswig eingerichtet worden. Diese Stellen unterstanden dem Oberpräsidenten, der jetzt immer häufiger nach Kiel reisen musste, um sie zu lenken, was eine nicht immer ganz unproblematische Aufgabe darstellte. Der Weg nach Kiel war nicht ohne weiteres zu bewältigen, denn ein eigenes Kraftfahrzeug stand für diese Fahrten nicht zur Verfügung, und der Eisenbahnverkehr zwischen Kiel und Schleswig war kriegsbedingt massiv reduziert. Um hier zu einer Erleichterung zu gelangen, beantragte der während des Krieges amtierende Oberpräsident Friedrich von Moltke (*1852; †1927) am 1. Januar 1917 die Verlegung seines Dienstsitzes nach Kiel und begründete diese als staatsnotwendig. Und tatsächlich erteilte das Innenministerium nun seine Zustimmung, lapidar in einem Telegramm, was nach dem langen Hin und Her davor schon überraschen mag. Die Entscheidung erklärt sich jedoch aus den Kriegsumständen; auch das Kriegsministerium stellte klar, dass es sich nur um eine Kriegsmaßnahme handeln könne.

Am 24. März 1917 legte der Kaiser in seinem Hauptquartier im belgischen Spa mit seinem Placet nach: »Sitz des Oberpräsidenten der Provinz Schleswig-Holstein ohne das Regierungsschulkollegium einstweilen von Schleswig nach Kiel verlegt.« Damit konnte sich Kiel wieder als Provinzhauptstadt begreifen. Um allerdings den provisorischen Charakter der Verlegung zu unterstreichen, erfolgte keine Einrichtung einer offiziellen Dienstwohnung für den Oberpräsidenten. Stattdessen wurde in der Schwanenallee 24 die Villa des Professors für Innere Medizin namens Heinrich Irenaeus Quincke (*1842; †1922) zu diesem Zweck angemietet. Auch wurden zwölf Beamte des Oberpräsidiums nur kommissarisch nach Kiel versetzt. Ihr offizieller Dienstsitz blieb Schleswig. Aber wie es sich so oft mit Provisorien in der Geschichte verhielt, entwickelte sich auch diese Zwischen- zur Dauerlösung: Der Oberpräsident residierte noch weit bis über Kriegsende hinaus in der Schwanenalle 24 und wechselte schließlich am 31. Januar 1923 in den Rantzaubau des Kieler Schlosses. Rund zehn Jahre später meinte Hinrich Lohse (*1896; †1964), NS-Gauleiter und zugleich schleswig-holsteinischer Oberpräsident, am 11. April 1933 zu dieser Frage: »Wenn auch der jetzige Zustand nicht als endgültig angesehen werden kann, so kommt doch eine Änderung durch Verlegung des Oberpräsidiums nach Schleswig in absehbarer Zeit nicht in Betracht.«

Dies war die Verwaltungssituation, auf die die britische Besatzungsmacht am Ende des Zweiten Weltkriegs in Schleswig-Holstein traf. Die alliierten Mächte waren bei der Gestaltung von Verwaltung und Gesellschaft nach dem Krieg um Kontinuität bemüht, und so knüpfte sie auch in der Hauptstadtfrage an die Vorgängerlösung an. Am 16. August 1946 teilte Colonel Ainger in einer Routinebesprechung mit dem deutschen Verbindungsmann bei der Militärregierung, Dr. Hans Müthling (*1901; †1976), den Beschluss mit, dass Kiel der Vorrang vor Schleswig gebühre. »The capital is Kiel«, hieß es wörtlich. Publik gemacht wurde dieser Beschluss mit der britischen Verordnung Nr. 46 vom 23. August 1946, worin die Errichtung eines Landes Schleswig-Holstein mit Kiel als Hauptstadt festgelegt wurde. Als Sitz der Regierung und – einmalig in Deutschland – gleichzeitig auch des Parlaments wurde die Marineakademie am Düsternbrooker Weg erkoren, die im Krieg zum Teil zerstört worden war. Diese dient seit dem 6. Mai 1947 als »Landeshaus«. Am 2. Mai 1950 konnte der Landtag dann in den neu hergerichteten Plenarsaal im Landeshaus einziehen, der im Jahr 2004 nochmals grundlegend umgebaut und durch einen gläsernen Anbau zur Förde hin erweitert wurde.

Kiels neue Stellung als Landeshauptstadt mit Landtag, Landesregierung und Landesverwaltung war eine logische Entscheidung, insofern es die Fortführung seiner Funktion als Provinzialhauptstadt bedeutete. Um den Wegfall des Regierungssitzes Schleswig gegenüber zu kompensieren und damit auch ein gewisses Gleichgewicht innerhalb des Bundeslandes zu schaffen, wurde zum 1. Oktober 1948 das Oberlandesgericht, das ja seit 1894 am Kleinen Kiel residiert hatte, nach Schleswig verlegt. Es zog in die bisherigen Räumlichkeiten des Oberpräsidiums ein und ist hierin auch heute noch zu finden. Ebenso zogen 1948 im Rahmen dieser Ausgleichslösung das Landesarchiv und das Landesmuseum nach Schleswig ins Gottorfer Schloss. Das Landesarchiv wechselte 1991 wiederum aus Platzgründen vom Schloss ins nahe Prinzenpalais, wo es seither beheimatet ist. Seit 1946 fungiert Kiel somit ganz offiziell als Hauptstadt des Landes Schleswig-Holstein, was im Sommer 2016 eine entsprechende Würdigung in der Tagespresse erfuhr. Allerdings stellt sich die Frage, ob Kiel diese Funktion auch künftig einnehmen kann und wird: Die in regelmäßigen Abständen immer wieder aufkommende Idee eines »Nordstaates«, also eines größeren norddeutschen Bundeslandes, indem sich beispielsweise Schleswig-Holstein mit Hamburg oder Mecklenburg-Vorpommern zusammenschließen könnte, beschwört nahezu zwangsläufig die Konkurrenz Hamburgs oder anderer Städte als mögliche Hauptstädte herauf.

Neben diesem geschichtlichen Überblick über die Entwicklung der Stadt Kiel zur Landeshauptstadt gibt es einige herausstechende historische Ereignisse, die mit Kiel in Verbindung stehen und weit darüber hinaus von Bedeutung waren – für ganz Schleswig-Holstein oder gar deutschlandweit. Auch diese Ereignisse unterstützten jeweils auf ihre Weise das allmähliche Hineinwachsen Kiels in seine Hauptstadtrolle. Zu denken ist hierbei z. B. an die Kieler Tapfere Verbesserung vom 4. April 1460. Einen Monat zuvor, im März 1460, hatte die schleswig-holsteinische Ritterschaft in Ripen den dänischen König Christian I. (*1426; †1481) zum neuen Herzog von Schleswig und Grafen von Holstein gewählt und sich in diesem Zusammenhang eine stattliche Anzahl an Privilegien vom neuen Landesherrn ausbedungen. In Kiel nun wurden die Bestimmungen des später berühmt gewordenen Ripener Privilegs teils bekräftigt, teils ergänzt oder weiter präzisiert. Unter anderem wurde die Einberufung jährlicher Versammlungen der Ritter Schleswigs und Holsteins zu Urnehöved bzw. Bornhöved zugesichert. Dazu ist es nicht gekommen, weil ab 1462 gemeinsame Landtage der Landstände stattfanden. Doch war die Kieler Zusage vom April 1460 ein wichtiger Baustein auf dem Weg zur politischen Partizipation von Klerus, Rittern und Stadtbürgertum.

Eine weitere Besonderheit der Stadt war – und ist bis heute – der Kieler Umschlag, der hier seit dem 15. Jahrhundert einmal im Jahr stattfindet. Der Umschlag entwickelte sich bald zum zentralen Geldmarkt für Schleswig-Holstein und den ganzen westlichen Ostseebereich und machte Kiel auf diese Weise noch bis ins 19. Jahrhundert hinein überregional bekannt. Ausführlicher wird darauf im vierten Kapitel eingegangen.

Ebenso wurde der Frieden nach Kiel benannt, der hier am 14. Januar 1814 zwischen den Kriegsparteien Schweden und Großbritannien einer- und Dänemark andererseits geschlossen wurde und eine Neuordnung Nordeuropas beinhaltete, der zufolge Norwegen, seit 1387 mit Dänemark gemeinsam regiert, an Schweden fiel und Helgoland bei Großbritannien verblieb, während Dänemark als europäische Macht aus dem Konzert der Großen ausschied und fortan den Part eines Klein-, aber immer noch Vielvölkerstaates spielte. Der Kieler Frieden gilt als wichtiger Meilenstein auf dem Weg zur erst 1905 realisierten Souveränität Norwegens, weil sich das Land damals seine Verfassung erstritt.

Für eine überregionale Bekanntheit Kiels sorgten zudem die nachweislich seit ca. 1790 nach Kiel benannten Sprotten, die im 19. Jahrhundert massenweise im Stadtteil Ellerbek, aber auch in Eckernförde angelandet und verarbeitet wurden. Außerdem wurde Kiel natürlich bekannt durch den vor allem zu Zeiten allgemeiner Marinebegeisterung zum Modetrend gewordenen Kieler Anzug mit seinem dunkelblauen, viereckigen Exerzierkragen samt drei weißen Streifen und Schlips zusammen mit Hose bzw. Rock. Die Comic-Figur Donald Duck trägt nach wie vor einen solchen in zahllosen Enten-Abenteuern.

Mit den »Kieler Blättern« etablierte eine Gruppe namhafter Professoren der Christian-Albrechts-Universität, allen voran Friedrich Christoph Dahlmann (*1785; †1860), Niels Nikolaus Falck (*1784; †1850) sowie Franz Hermann Hegewisch (*1783; †1865), ab 1815 ein wissenschaftlich-politisches Publikationsorgan, das seinerzeit seines liberalen und gemäßigt nationalen Inhalts wegen in Schleswig-Holstein und in ganz Deutschland eine positive Aufnahme fand. Die »Kieler Blätter« wurden wegen der strengen Zensur nach den Karlsbader Beschlüssen von 1819 in »Kieler Beyträge« umbenannt und noch bis 1821 in Schleswig gedruckt.

In enger Verbindung zu den »Kieler Blättern« stand die Kieler Universität, die seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts infolge einer Reform eine neue Blüte erlebte und sich im Kontext der Aufklärung zum geistig-kulturellen Zentrum des ganzen Landes entwickelte. Durch ihre Angehörigen, die in größerer Zahl in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts politisch aktiv und mehrheitlich prodeutsch gestimmt waren, wurde sie zum Sprachrohr im immer heftiger geführten nationalen Diskurs der Zeit. Nicht von ungefähr erfolgte die Ausrufung einer Provisorischen Regierung zu Beginn der Schleswig-Holsteinischen Erhebung in der Nacht vom 23. auf den 24. März 1848 gerade hier in Kiel: Kiel stand im Mittelpunkt der vorausgehenden und folgenden Geschehnisse. Erklärtes Ziel war die Etablierung einer konstitutionellen Verfassung, eine allgemeine Volksbewaffnung und der Eintritt auch Schleswigs in den Deutschen Bund. Um nicht den Anschein einer Revolution zu erwecken, wie sie sich damals in anderen Regionen Deutschlands und Europas in teils heftiger Form abspielte, wurde die Absetzung des dänischen Königs als Landesherr nicht eigens als Absicht formuliert. Vor der Proklamation war bereits ein Bürgerverein unter Vorsitz des linksliberal orientierten Juristen und Verlegers Theodor Olshausen (*1802; †1862) gegründet worden, der Presse- und Versammlungsfreiheit forderte. Am 20. März erfolgte die Aufstellung einer Bürgergarde. Schon am Morgen des 24. März 1848 fuhr ein Sonderzug von Kiel zur Garnisonsstadt Rendsburg, um diese »im Handstreich« zu nehmen. An der Aktion hatten sich auch Kieler Studenten als Freiwillige beteiligen wollen, doch verpassten sie die Abfahrt des Zuges. Nach der erfolgreichen Einnahme Rendsburgs verlegte die neu ausgerufene Provisorische Regierung am 25. März ihren Sitz dorthin aus Angst vor einem dänischen Angriff auf Kiel von See aus. Tatsächlich blockierte die dänische Korvette »Galathea« in der Folgezeit den Hafen Kiels. Ein Kaperversuch am 20./21. Mai 1848 scheiterte, weshalb die Blockade noch bis zum September dauerte. Zu diesem Zeitpunkt tagte bereits die konstituierende Landesversammlung, natürlich in Kiel, die nach dem seinerzeit freiesten und demokratischsten Wahlrecht ganz Deutschlands gewählt worden war, zur Ausarbeitung einer Verfassung für Schleswig und Holstein. Für Kiel als Tagungsort hatte man sich entschieden, weil die Versammlung bewusst unabhängig von der in Rendsburg sitzenden Regierung arbeiten sollte und weil sich Schleswig, das als weiterer Tagungsort in Frage kam, zu nah an der damaligen Kampflinie befand. Die Landesversammlung war am 15. August 1848 feierlich in der Kieler Nikolaikirche eröffnet worden und tagte seither mit ihren über 100 Abgeordneten in der ehemaligen Schlosskirche. Im September legte die Versammlung dann den Entwurf der modernsten und liberalsten Verfassung ganz Deutschlands vor. Zeitgleich vollzog sich auch auf der kommunalen Ebene eine Liberalisierung und Demokratisierung der Kieler Stadtverfassung. Indes führte das Scheitern der Erhebung ab dem Spätsommer des Jahres 1850 zur Zurücknahme dieser kommunalen Reformen; auch die Verfassung geriet über das Stadium eines Entwurfs nicht hinaus.

Spielte die konstituierende Versammlung in Kiel durch die skizzierten Vorgänge also eine demokratische Vorreiterrolle im Revolutionsgeschehen 1848/49, so wurde die Stadt durch den Matrosenaufstand, dem Ausgangspunkt der deutschen Novemberrevolution 1918, noch weitaus mehr zu einem Geburtsort der Demokratie in Deutschland. Der Erste Weltkrieg führte bekanntlich zu enormen Versorgungsengpässen an der »Heimatfront«, was vor allem für die Arbeiterschaft und ihre Familien schwerwiegende Folgen zeitigte. Je länger der Krieg dauerte, ohne zum erhofften Sieg zu führen, desto mehr kam es zu Hungerunruhen, in Kiel unter anderem im Juni und im Oktober 1916.

Ende März 1917 legten zudem die Kieler Werftarbeiter die Arbeit nieder – ein Ausstand, der als reiner Hungerkrawall begann und zum politischen Streik wurde. Die über 4000 Arbeiter, die damals in den Streik traten, forderten nicht nur eine gerechtere Nahrungsmittelversorgung, sondern auch mehr Rechte für sich. Die Mehrheitssozialdemokraten (MSPD) und die Gewerkschaften spielten dabei als Interessensvertreter der Arbeiterschaft nur eine Nebenrolle. Vielmehr waren vor allem Mitglieder der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei (USPD), die sich 1916 von der MSPD abgespalten hatten, in die Proteste involviert. Insbesondere in der kriegswichtigen Torpedowerkstatt in Friedrichsort waren sie aktiv.

Ende Januar 1918 traten dann 30 000 Arbeiter in den Ausstand, nachdem ihre Vertrauensleute zum Heer einberufen worden waren. Auf dem Wilhelmplatz fand eine Massenkundgebung statt, auf der konkrete politische Forderungen formuliert wurden. Unter anderem sollte ein Friedensschluss nicht länger von Annexionen oder Entschädigungen abhängig gemacht werden. Auch wurde die Einberufung des Reichstages, der seit Kriegsbeginn nicht mehr getagt hatte, und seine Einbeziehung in die Friedensverhandlungen verlangt, ebenso eine Reform der Volksernährung und eine Auflösung des hochkonservativen Preußischen Abgeordnetenhauses samt Neuwahlen. Überdies war von einer Aufhebung des Belagerungszustandes und der Freilassung aller politischen Gefangenen die Rede, und die Vertrauensmänner sollten nicht mehr zum Heeresdienst herangezogen werden können. Dieser Forderungskatalog blieb zunächst unerfüllt, und so machte sich im Verlauf des weiteren Jahres in der Kieler Arbeiterschaft insgesamt eine – gut organisierte – Stimmung breit, die von einer Befürwortung des Friedensprogramms des US-amerikanischen Präsidenten Wilson (*1856; †1924) bei gleichzeitigem Vertrauensverlust in die eigene Heeres- und Marineführung gekennzeichnet war.

In diesem Klima erreichte am 1. November 1918 das Dritte Geschwader der Kaiserlichen Marine seinen Heimathafen Kiel. Schon in Wilhelmshaven, wo die Schiffe zuvor geankert hatten, war es an Bord zu Befehlsverweigerungen gekommen. Diese richteten sich gegen den Plan der Marineleitung, an den von der Reichsregierung aufgenommenen Friedensverhandlungen vorbei und trotz der aussichtslosen Kriegslage ein letztes heldenhaftes Gefecht gegen die Britische Flotte zu führen. 47 Matrosen wurden als Rädelsführer inhaftiert. Durch die Rückverlegung der Schiffe nach Kiel sollte sich, so die Hoffnung der Marineleitung, die Situation wieder entspannen, doch erwies sich dies als eine krasse Fehleinschätzung der Stimmung in der Stadt, zumal der Kieler Gouverneur, Vizeadmiral Wilhelm Souchon (*1864; †1946), von der Aktion vollkommen überrascht wurde. Das Gegenteil trat ein: Die Arbeiter in Kiel solidarisierten sich mit den Inhaftierten, nachdem am 3. November weitere 57 Matrosen verhaftet worden waren und andere Matrosen deswegen beim Landgang Kontakt zu den Arbeitern und Soldaten in Kiel aufgenommen hatten. Bereits am Vortag hatte der Oberheizer Karl Artelt (*1890; †1981) von der USPD zur Entmachtung der herrschenden politischen Klasse und zur Niederringung des Militarismus aufgerufen, während der Kieler Gewerkschaftsvorsitzende Gustav Garbe (*1865; †1935) zur Besonnenheit mahnte. Nun wurde aus der kleinen Revolte in Windeseile eine Massenbewegung, wie am 3. November knapp 6000 Demonstranten – Matrosen sowie Kieler Arbeiterinnen und Arbeiter – auf dem Exerzierplatz bewiesen. Von dort bewegte sich ein Demonstrationszug in die Marinearrestanstalt in der Feldstraße, die aber nicht erreicht wurde, weil kurz davor eine militärische Patrouille das Feuer auf die Demonstranten eröffnete. Sieben Menschen wurden getötet, 29 schwer verwundet. Die Demonstranten antworteten darauf teilweise ebenfalls mit schwerer Gewaltanwendung. Der unheilvolle Zusammenstoß gilt gemeinhin als der eigentliche Startpunkt der Novemberrevolution. Am 5. November musste der in Kiel residierende Prinz Heinrich fluchtartig Schloss und Stadt verlassen, da sich Kiel schon fest in der Hand der Aufständischen befand: Unter dem Vorsitz Garbes war nach dem Vorbild bereits existierender Soldatenräte ein Arbeiterrat gebildet worden, kaiserliche Schiffe hatten die rote Fahne gehisst, und ein Vierzehn-Punkte-Programm mit weitreichenden Reformforderungen wurde in Kraft gesetzt. Um die revolutionären Verhältnisse zu klären, wurde sodann Gustav Noske (*1868; †1946) von der MSPD aus Berlin nach Kiel geschickt und am 5. November durch Akklamation zum Vorsitzenden des Obersten Soldatenrats gewählt. Zwei Tage später übernahm er von Admiral Souchon auch die zivile Gewalt in Kiel. Zur Sicherung der öffentlichen Ordnung setzte er auf die Fortführung der alten Strukturen und erstickte deswegen alle weiteren revolutionären Impulse in Kiel sofort im Keim. Allerdings hatten die Kieler Vorgänge längst Vorbildcharakter für andere Städte im ganzen Kaiserreich erlangt. Bald stand dabei nicht mehr Kiel im Mittelpunkt der Ereignisse, sondern Berlin, wo am 9. November 1918 die Republik ausgerufen wurde.

Tags darauf wurden die zivilen Todesopfer des Kieler Aufstands auf dem Friedhof Eichhof beigesetzt. Kiel selbst ging mit seiner impulsgebenden Rolle während der Revolution im Übrigen lange Zeit stiefmütterlich um. Erst spät und schwerfällig setzte ein Umdenken ein, wie die seinerzeit öffentlich umstrittene Aufstellung des von Hans-Jürgen Breuste (*1933; †2012) gestalteten Revolutionsdenkmals im Kieler Ratsdienergarten 1982 sinnfällig zum Ausdruck brachte. Heute aber steht man in Kiel der wichtigen Rolle der Stadt im Kontext von Revolution und Demokratisierung weitgehend positiv gegenüber, was z. B. daran ersichtlich wird, dass die 1930 errichtete Schiffsbrücke der Freien Turnerschaft Wassersport, die seinerzeit nach Gustav Garbe benannt worden war, unter den Nationalsozialisten diesen Namen aber wieder verloren hatte, zum Jahrestag des Matrosenaufstands am 3. November 2016 ihren ursprünglichen Namen zurückerhielt. Für 2018 plant die Stadt eine großangelegte Erinnerungsfeier unter Teilnahme des Bundespräsidenten.

Kiel entwickelte sich also im Lauf der Zeit zur Hauptstadt Schleswig-Holsteins und spielte mehrfach in der schleswig-holsteinischen und deutschen Geschichte eine beachtliche Rolle. Das war auch bei der Kieler Erklärung vom 26. September 1949 der Fall, in der die Landesregierung unter Zustimmung des Landtages erklärte, dass die dänischen und friesischen Bevölkerungsteile ohne Diskriminierungsgefahr alle demokratischen Grundrechte genießen sollten und dass eine dänische Gesinnung behördlich nicht angezweifelt oder überprüft werden dürfe. Damit war die Kieler Erklärung ein wichtiger Baustein für den Grenzfrieden im Norden und bildete den Vorläufer zu den Bonn-Kopenhagener Erklärungen vom 29. März 1955, die Grundlage für das nachbarschaftliche Verhältnis zwischen Deutschland und Dänemark wurden.

Kiel in der Geschichte

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