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2.Kiel – dreimal gegründet

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Die Geschichte einer Stadt beginnt normalerweise mit ihrer Gründung – Kiel aber ist gleich dreimal gegründet worden. Seine eigentlichen städtischen Anfänge verdankt es der Stadtrechtsverleihung durch Graf Johann I. von Holstein (*um 1229; †1263) im Jahr 1242. Auf diese erste Gründung, festgehalten in einer nicht unumstrittenen Urkunde, beruft man sich, wenn man 2017 das 775-jährige Stadtjubiläum feiert. Ab dem Jahr 1865 veränderte dann die Stadt ihr Gesicht so grundlegend, dass man heute von einer zweiten Gründung spricht. Was war geschehen? 1865 wurde die preußische Marinestation von Danzig nach Kiel verlegt: Aus einer kleinen Mittelstadt erwuchs in der Folge in kürzester Zeit eine moderne maritime Metropole. Als dritte Stadtgründung wird der Wiederaufbau der Stadt nach dem Zweiten Weltkriege gesehen. Nahezu komplett war Kiel während der Kriegsjahre zerstört worden, der Wiederaufbau glich somit eher einem Neubau aus den Bombentrümmern und einer Neugründung der Stadt. 1242, 1865, 1945 – das also sind Kiels drei Geburtsjahre!

Kiels erste Gründung wurde in einer Urkunde festgehalten, die 1242 von Johann I. auf Latein verfasst wurde. In ihr ist in feierlichem Ton vermerkt, dass Graf Johann, Sohn des legendären Grafen und Franziskanermönchs Adolf IV. (*vor 1205; †1261), kurz nachdem er im November 1241 seine Volljährigkeit erlangt hatte, Kiel das lübische Stadtrecht verlieh. Der Ort heißt darin noch nicht Kiel, sondern wird als Stadt Holsteins bzw. Holstenstadt bezeichnet. In der Urkunde wird zwar am Schluss das Ausstellungsjahr 1242 genannt, nicht aber der genaue Tag, an dem sie verfasst wurde. Die Echtheit dieser Urkunde wurde nun von der Forschung immer wieder angezweifelt, da sie nicht im Original erhalten ist, sondern nur in Abschriften des 18. Jahrhunderts. Wegen der Zweifel an der Authentizität der Urkunde verzichtete die Stadt Kiel 1904 sogar darauf, ihren historisch begründeten Anspruch auf die gesamte Förde als Hafengebiet in dritter Instanz vor dem Reichsgericht gegen die Interessen der Kaiserlichen Marine zu verfechten und womöglich auch durchzusetzen. Zwar versuchte kurz darauf der Kieler Geschichtsprofessor Carl Rodenberg (*1854; †1926), doch den Nachweis ihrer Echtheit ein für alle Mal zu erbringen. Schon 1939 aber führte Werner Carstens neue gewichtige Argumente ins Feld, nach denen die Urkunde zwar einen echten Kern habe, im Wesentlichen allerdings durch den Kieler Stadtschreiber Georg Lutzenberger zwischen 1495 und 1498 verfälscht worden sei.

Carstens Ansicht blieb die maßgebliche, bis Helmut G. Walther 1991 eine neue tiefschürfende Untersuchung der überlieferten Abschriften der Urkunde vornahm. Begründet durch dessen Ergebnisse tendierte man danach dazu, die Urkunde insgesamt doch für echt zu halten. Walther argumentiert, dass in der Urkunde vom ganzen See Kiel bis Bottsand als Weichbild die Rede sei, innerhalb dessen keine weitere Gründung einer Siedlung erfolgen dürfe. Dahinter habe natürlich die Absicht gestanden, im Bereich der Kieler Förde keinen möglichen Konkurrenzhafen zuzulassen. 1334 schenkte nun Herzog Waldemar V. von Schleswig (*1314; †1364) der Stadt Kiel auch den schleswigschen Teil der Förde bis zu deren Ende bei Bülk, was nach Walther nur Sinn machte, wenn Kiel tatsächlich davor schon, also seit der Stadtrechtsverleihung, auch den holsteinischen Teil des Fördeufers besaß. Dieser Punkt war der strittigste zwischen Marine und Stadt zu Beginn des 20. Jahrhunderts gewesen. Walther argumentiert außerdem, dass es sich bei der Benennung Kiels als Holstenstadt nicht um eine nachträgliche Hinzufügung handeln könne, denn bereits Johann I. bzw. seinem Vater Adolf IV. sei es augenscheinlich um die Anlage eines neuen herrschaftlichen, wirtschaftlichen und geistlichen Zentralorts Holsteins nach der Wiedererlangung der Grafenwürde 1225/27 gegangen. Dies würde die Gründung auch eines idealtypischen Franziskanerklosters im Stadtgebiet zeigen. Aus Kiel als Stadt der Holsten sollte der Vorort Holsteins werden, wie es Hamburg für Stormarn war und im Prinzip immer noch ist. Die Stadterhebung könne also als Zeugnis des schauenburgischen Herrschaftsanspruchs über das Land aufgefasst werden, der sich direkt gegen den über dem Grafen stehenden Herzog von Sachsen richtete, welcher sich seinerzeit auch als Herr Nordelbingens betitelte.

2008 wurden indes neue Zweifel an der Urkunde wach, als Stefan Eick darlegte, dass ihr Aufbau in rein formaler Hinsicht nicht in die Zeit um 1242 passe, sondern in den Zeitraum zwischen 1291 und 1385 gehöre. Es kann und darf also gern weiter um die Originalität der Kieler Stadtrechtsurkunde von 1242 gestritten werden, ohne dass man wohl jemals genau wird sagen können, wer Recht hat und wer nicht.

Doch tut dies vielleicht gar nicht so viel zur Sache, wenn man bedenkt, dass die dann bald als ›Kiel‹ bezeichnete Siedlung nicht erst 1242 entstanden ist, sondern einen älteren Ursprung hat. Dank archäologischer Befunde, die aus Grabungen der Jahre 1989 bis 1991 im Bereich der Kieler Altstadt hervorgingen und die Anke Feiler(-Kramer) publiziert hat, weiß man mittlerweile sogar, dass diese Anfänge nicht erst in den 1220er Jahren zu vermuten sind, wie es noch Walther 1991 dachte, sondern tatsächlich wesentlich weiter zurückliegen. Feilers Untersuchungen haben ergeben, dass es bereits im 12. Jahrhundert im heutigen Altstadtbereich eine Siedlung gab, in der Fernhandel und Handwerk betrieben wurden und für die mithin ein nicht unbedeutender Markt vorhanden gewesen sein muss. Dies kann wiederum erklären, warum die Befestigung der noch jungen Stadt im Jahr 1261 dann schon so stark war, dass sie der Belagerung Herzog Albrechts I. von Braunschweig (*1236; †1279) standzuhalten vermochte: Der Stadtbefestigung von 1261 war bereits eine ältere Befestigung aus Holz vorausgegangen. Im Spätmittelalter wurde diese Befestigung dann ausgebaut zu einem hohen Mauerring mit zahlreichen Wachtürmen und vorgelagertem Grabensystem um die gesamte Stadt. Zwei Stadttore, das Dänische Tor im Osten und das Holstentor im Westen, sicherten den Zugang zur Stadt, zusätzlich gab es die drei Hafentore namens Schuhmachertor, Flämisches Tor und Fischertor jeweils am Ende der gleichnamigen Straßen sowie die kleineren Mauerpforten des Kütertors im Norden und des Kattentors bzw. Pfaffentors im Süden und Südwesten.

Sowohl im Zentrum der Altstadt als auch an ihrem nordwestlichen Rand konnten zahlreiche Besiedlungsreste des 12. Jahrhunderts ausgegraben werden. Unter anderem stieß man in der ehemaligen Sumpfzone am Kleinen Kiel auf die Reste einer aus dem 12. Jahrhundert stammenden Gerbergrube. Im selben Jahrhundert wurde die kleine sumpfige Bucht zwischen Haßstraße und Klosterkirchhof mit Mist und Abfall aufgefüllt. Auch kippten die Einwohner ihre stinkenden Abfälle in den Bereich der später deswegen sogenannten Faulstraße. Zum Teil reich verzierte Keramik flämischer Herkunft lässt auf Fernhandel schließen, die Gerbergrube auf florierendes Handwerk, und außerdem wird bereits im 13. Jahrhundert von einer alten Kirche gesprochen, die sich in Ufernähe zwischen Papen-, Fischer- und Flämischer Straße befand und womöglich als hafennahe Kaufmannskirche fungiert hatte – all diese Befunde deuten darauf hin, dass Kiel bereits im 12. Jahrhundert eine zumindest proto-urbane Qualität hatte. Kiel war demnach 1242 alles andere als eine Neugründung auf der sprichwörtlichen grünen Wiese.

Um 1242 kam es vielmehr allem Anschein nach zu einer jetzt äußerlich urbanen Überformung der schon bestehenden, weitgehend ungeordneten Bebauung, die sich für eine weitere städtische Entwicklung als unzureichend herausgestellt hatte. Bisherige Holzbauten wurden abgerissen, Gruben und Uferzonen zugeschüttet, der Bau einer neuen repräsentativen Kirche – St. Nikolai – am ebenfalls neuen Marktplatz begonnen. Ein regelmäßiges Straßensystem entstand. Selbst eine Wasserleitung zur Versorgung der Städter mit frischem Wasser wurde noch im 13. Jahrhundert entlang der Holstenstraße gelegt. Hinter der Gesamtkomposition gibt sich unschwer das Vorbild Lübecks zu erkennen, das sich ebenfalls auf einer großenteils vom Wasser umgebenen Halbinsel befand, deren neuralgischer Landzugang – eben wie in Kiel – durch eine Burg gesichert war und das über ein Parallelwegenetz verfügte.

Dabei stellt sich natürlich sogleich die Frage, wer hinter dieser baulichen Fortentwicklung stand. Waren dies die frühen Stadtbewohner selbst oder zeichnete doch etwa die stadtherrliche Zentralgewalt verantwortlich? Sie jedenfalls verfolgte damals mit Nachdruck den Landesausbau, wozu, wie schon gesagt, auch die Anlage und Erweiterung von Städten zählte.

Die eben erwähnte Irdenware aus dem Raum der heutigen Niederlande, auf die man bei den Grabungen stieß, verweist nur zu offensichtlich auf eine frühe Verbindung des Ortes und seiner Menschen zu Flemhude, wo sich an einer seeförmigen Erweiterung des Eiderlaufs eine Landestelle der Flamen inklusive alter Pfarrei befand. Die flämischen Händler hatten einen Zugang zur Ostsee gesucht und ihn offenbar in der Nähe Kiels gefunden. Die Beziehung könnte ab 1233, als Graf Adolf IV. mit Lübeck in gewaltsamer Auseinandersetzung stand, noch vertieft worden sein, doch sie bestand, wie die Keramik andeutet, schon früher.

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