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3. AKT: NELLIE
ОглавлениеFünfundzwanzig wurde ich, als die letzten Kapitel meines Lebens begannen. Und die wohl aufregendsten fingen einen Tag nach meiner Geburtstagsfeier an.
Ob das Schicksal es so gewollt hätte? Ob all das im endlosen Buch des Schicksals niedergeschrieben wurde?
Eine neue Schwester kam ins Bordell. Ihren realen Namen habe ich jedoch nie erfahren. Ich lernte sie als Lady Nellie kennen. Offenbar hatte ihr Madam Aurora diesen Namen gegeben, da ihr gebürtiger Name angeblich die Libido eines jeden Mannes gestohlen hätte.
Sie war neu, wirkte jedoch alles andere als nervös. Und so war es zu meiner Aufgabe geworden, ihr alles zu zeigen. So wie Madam Aurora es damals bei mir gemacht hat.
Nellie bezog ihr kleines Zimmer. Sie hatte nicht viel Gepäck bei sich. Tatsächlich besaß sie nur einen Koffer, den sie mit leeren Glasflaschen befüllt hatte. Sie besaß keine Kleider und nichts, was sie an ihr Zuhause erinnerte.
Madam Aurora gab mir ein wenig Geld und den Auftrag, für und mit Nellie eine passende Abendgarderobe zu besorgen. Sie sollte ihre Kunden verzaubern, damit sie so lange wie möglich abgelenkt sein würden, sodass ich ihnen ein wenig Geld stehlen konnte.
Wir wollten in einige Londoner Boutiquen gehen; nur wenige gewährten uns jedoch Eintritt. Die Kleider und sämtliche Garderoben, die wir erblickten, waren entweder viel zu teuer oder viel zu gut bewacht, um sie entwenden zu können. Nellie und ich gingen daher in die unterschiedlichsten Schneidereien, in der Hoffnung, dass es dort einige wenige Probekostüme oder Kleider gab, die der Schneider nicht mehr haben wollte.
Als wir die nächste Schneiderei betraten, kam sie mir bekannt vor. So als ob ich sie in einem anderen Leben besucht hätte oder zumindest in meinen Träumen. Während der alte Schneidermeister aus seiner Stube kam, schoss es mir durch meinen Kopf wie ein Blitz an einem warmen Sommergewitter.
Schneidermeister: Du! Wie kannst du es wagen, meine Schneiderei zu betreten! Du widerlicher Bastard! Hinaus!
Nellie und ich verließen sogleich die Schneiderei, gingen durch die Straßen Londons und hielten weiterhin Ausschau nach einer Möglichkeit, um sie angemessen einkleiden zu können. Madam Aurora hatte uns gewarnt. Bevor wir ihr kein Kleid, das ihren hohen Ansprüchen gerecht wird, präsentieren können, dürfen wir nicht zurückkommen.
All die Zeit, die wir auf den Straßen Londons verbracht hatten, um Nellie die perfekte Garderobe zu suchen, gab uns die Möglichkeit, uns näher kennenzulernen. Wir erzählten uns, woher wir kamen, wovon wir träumten und was wir uns von diesem Leben erhofften. Obwohl ich Nellie für ein einfaches, wenn auch naives junges Mädchen hielt, war sie doch eine raffinierte und clevere Frau. Als kleines Gör lebte sie bei ihrer wohlhabenden Familie. Etikette, gutes Benehmen und Gehorsam zählten zu den obersten Prioritäten – ohne Fragen zu stellen und ohne Widerspruch. Fesseln, die jedoch eine junge Blume wie sie am Erblühen hinderten. Sie galt bereits früh als Enttäuschung. Nellie wurde sogar bei besonderen Veranstaltungen
oder Partys in ihrem Zimmer eingesperrt. Vor der Tür hielt ihre fette Gouvernante Wache. Dieses ungezogene Mädchen sollte den guten Ruf ihrer Familie nicht in den Dreck ziehen. Aber egal, was sie auch versuchten, wie streng und skrupellos ihre Lehrer und Erzieher auch waren, Nellie weigerte sich nachzugeben. Es war daher wenig verwunderlich, als ihre Familie beschloss, sie auf eine Privatakademie zu schicken, bei der es sich jedoch – so erzählte sie mir – um eine Nervenheilanstalt handelte. Ein Irrenhaus, aus dem sie nie wieder herauskommen sollte.
Nellie: Sie alle, meine ganze Familie, sagten, das Mädchen sei verrückt. Nicht bei Sinnen. Wir haben alles versucht, aber ihre Seele scheint verloren. Nicht einmal der Herr könnte ihr helfen. Vielleicht wäre es dann das Beste, für sie und für uns alle, wenn wir sie wegbringen lassen würden. An einen Ort, von dem sie nicht mehr zurückkommt.
Arthur: Und wo wäre das gewesen? Eine private Schule? Eine Akademie für junge Mädchen? Eine Besserungsanstalt?
Nellie: St. Larramays Nervenheilklinik. Eine Irrenanstalt. Ich hörte, wie meine Familie – Mutter, Vater, meine Schwestern Margaret und Catherine –, meine Gouvernante, meine Privatlehrer, ja sogar unsere Butler davon sprachen, dass sie mich dorthin bringen würden. Etwas stimme nicht mit mir und sie können nicht zulassen, dass ich den guten Namen meiner Familie verunglimpfe. Sie alle wollten mich beseitigen. Für immer wegsperren. Mich für verrückt erklären lassen.
Nellie erzählte mir, dass an jenem Tag, als ihre Eltern sie in die Kutsche lockten und ihr erzählten, dass sie sie auf eine private Akademie schicken würden, der Tag war, an dem ihr Leben einen neuen Anfang nehmen würde. Aber um ein neues Dasein beginnen zu können, musste das alte dahinweichen. Sterben .
In der Nacht vor ihrer Abreise hatte Nellie eines der Räder ihrer Kutsche angesägt. Sie versteckte ein in ein Tuch gewickeltes Gewicht in ihrem Koffer, bevor sie einstieg. Auf halbem Weg, während sie gerade durch ein idyllisches Fleckchen Land fuhren, öffnete Nellie das Fenster der Kutsche, lehnte sich hinaus und warf das Gewicht auf das angesägte Rad. Es brach weg, die Kutsche kam ins Schwanken, die Pferde wieherten und binnen weniger Augenblicke überschlug sich das Gefährt und rollte einen Hang hinunter. Es versank im Fluss und während der Kutscher um seine Kutsche und die arme kleine Nellie trauerte, tauchte sie hinab und einige Meter flussabwärts weiter, um außer Sicht zu sein. Die Zeitungen waren am nächsten Morgen mit ihrer Todesanzeige übersät, obwohl ihre Leiche nie gefunden wurde.
Nellie: Anstatt mich zu suchen oder zu hoffen, dass ich den Unfall überlebt hätte, erklärten sie mich für tot. Ich habe einige Jahre nach diesem Vorfall mein angebliches Grab besucht. Ich sah keine Blumen. Nur Wildwuchs. Es war ein ungepflegtes und vergessenes Grab.
Nellie hatte sich all die Jahre als Diebin durchgeschlagen. Und lernte die unterschiedlichsten Tricks und Techniken von ihren zwei Rettern: Pistol Peter und Jolly Jane .
Arthur: Wenn sie dich doch vor dem Hungertod gerettet und dir alles beigebracht haben: Wieso bist du dann von ihnen weg? Wo sind die beiden heute?
Nellie: Jolly Jane wurde beim Stehlen einer teuren Vase erwischt und vor meinen Augen erschossen und Pistol Peter wurde verhaftet und für seine Taten gehängt. Das ist jetzt ein Jahr her.
Arthur: Wie lange haben sich denn die beiden um dich gekümmert?
Nellie (überlegt) : Ich glaube, es waren sechs Jahre.
Als sich die Nacht langsam über die Stadt legte und unsere knurrenden Mägen uns in Richtung Bordell zogen, blickten wir besorgt auf unsere leeren Hände. Madam Aurora hätte uns damals bestimmt keinen Zutritt gewährt.
Ich fragte Nellie, ob sie eine Idee habe. Für einen Moment, der mir beinahe wie eine Ewigkeit vorkam, schwieg sie. Als wir an einem Pub vorbeigingen, aus dem der Nikotinqualm strömte und in dem der Alkohol reichlich floss, kam ihr eine Idee.
Wir gingen hinein und sahen eine tanzende und trinkende Menge vor uns. Jeder war schon sturzbetrunken. Ihr Gelächter und ihr Gesang wurden nur dann unterbrochen, wenn die Gäste einen kurzen Schluck von ihren Getränken nahmen.
Nellie (flüstert in Arthurs Ohr) : Wir bestehlen hier die Gäste, indem wir uns ein paar Kleidungsstücke heraussuchen, die mir gefallen und gut stehen würden, und entwenden diese, ohne dass es ihnen auffällt. Ein paar Straßen weiter nähen wir dann daraus ein Kleid. Du würdest dich wundern, was man alles aus einer Jacke, einem Schal, ein paar Strümpfen und Bändern zaubern kann.
Arthur: Aber wir haben doch weder eine Nadel, einen Faden noch eine Schere.
Nellie: Diese Dinge habe ich dem alten Schneidermeister geklaut. Ein Glück, dass er so über dich erzürnt war. Ohne dessen Wutanfall hätte ich diese Dinge nie unbemerkt stehlen können.
Arthur (sichtlich überrascht) : Du wusstest also, dass wir kein Kleid kaufen, sondern nähen werden?
Nellie: Selbstverständlich! Mit den wenigen Pfund, die uns Madam Aurora mitgegeben hat, kann man sich doch nicht einmal ein angenehmes Unterhemd kaufen.
Arthur: Ich kann aber weder nähen noch stehlen.
Nellie: Das zeig ich dir schon!
Geschwind schritten wir zur Tat. Nellie blickte sich im Raum um und erblickte die Stoffe und Kleidungsstücke, die sie für ihr Kleid benötigen würde. Sie war wahrhaftig eine Meisterin: Wie eine Gefängniswärterin ging Nellie ihre Runden, schenkte der betrunkenen Menge ihr Lächeln und ehe man sich’s versah, stibitzte sie hier ein Kleidungsstück, dort einen Mantel und da einen Schal. Stück für Stück stellte sie so ihr zukünftiges Kleid zusammen. Es schien fast so, als ob man einer reichen Adelsfrau beim Kauf ihrer Stoffe beobachten würde. Während die Stimmung im Pub immer ausgelassener wurde und mir sogar zwei Gläser Wein spendiert wurden, zog mich plötzlich Nellie an meinem Hemd hinaus ins Freie.
Arthur (aufgebracht) : Vorsicht! Das ist mein gutes Hemd. Madam Aurora häutet mich bei lebendigem Leibe, wenn ich es ruiniere. (Streicht die Falten aus seinem Hemd.) Und hast du alles?
Triumphierend hielt sie ihre Beute vor meine Nase, ehe wir, so schnell es eben möglich war, den Tatort verließen.
Nellie schleppte mich ein paar Straßen weiter in einen verlassenen Hinterhof. Im Schutz der dutzenden Sperrholzkisten und leeren Fässer war es der ideale Ort, um ihr Kleid anzufertigen. Sie war nicht nur eine begnadete Diebin, sondern auch geschickt im Umgang mit Nadel und Faden. Ich verstand nicht viel – um ehrlich zu sein gar nichts – von der Kunst der Schneiderei. Ständig wies sie mich an, meinen Finger hierhin zu halten, dies und das festzuhalten
oder den Faden zu durchtrennen. Jedes Mal, wenn ich hinblickte, verwandelten sich die Lumpen nach und nach in ein Kleid.
Nellie (begeistert) : So, blicke auf! Ich habe mich selbst übertroffen!
Obwohl ich keinen Geschmack oder Interesse für Mode hatte, hatte es diese junge Frau dennoch geschafft, aus all den unterschiedlichen Fetzen und Lumpen ein reizendes, knappes Kleid zu nähen.
Nellie: Hier werde ich es noch einfärben und da noch etwas kürzen, doch für den Anfang wird Madam Aurora begeistert sein. Nun ja, vielleicht nicht entzückt, aber sie wird uns ins Haus lassen. Gehen wir, bevor wir noch verhaftet werden!
Sie hielt ihr Kleid wie einen Schatz ganz dicht an sich. Als wir uns Zutritt ins Bordell gewährten, wartete dort bereits Madam Aurora. Mit strengem Blick musterte sie uns und sah auf das Kleid in Nellies Armen.
Madam Aurora (grob) : Es wurde auch höchste Zeit, dass ihr kommt. Obwohl ich ehrlich sagen muss, dass ich mich an eure Abwesenheit durchaus gewöhnen könnte. Los Mädchen! Zeig mir das Kleid, das du für deine Arbeit erwählt hast!
Sie riss es ihr aus den Händen und blickte es sich genau an.
Madam Aurora: Nun, ich muss sagen, es ist nicht perfekt und deine Nähkunst lässt noch einiges zu wünschen übrig, aber für deine ersten Kunden wird es schon reichen. Wir werden darauf achten, dass du die besoffenen und armen Seelen mit schlechtem Sehvermögen abbekommst. Bete zu unserem Herrn, dass sie nicht wählerisch sind! (Sie gab ihr das Kleid zurück.) Aber sobald du genug Geld auf die Seite gelegt hast, wirst du dir ein anständiges Kleid kaufen. Hast du mich verstanden? Sonst jag ich dich nochmals auf die Straße, bis du deine Lektion gelernt hast. Was ist von meinem Geld übrig? (Nellie gibt das gesamte Geld mit zitternden Händen Madam Aurora zurück. Sie hält inne und zählt es.) Gut, alles da. Geht nun auf eure Zimmer. Und wagt es nicht, auch nur eines der Mädchen zu wecken. Während ihr den ganzen Tag getrödelt habt, haben sie gearbeitet.
Als wir langsam die Treppe emporstiegen und uns alle Mühe gaben, nicht zu kichern, wandte sich Madam Aurora ein letztes Mal an uns. Wir zuckten zusammen, beinahe so, als ob wir das Bellen eines blutdürstigen Hundes gehört hätten.
Madam Aurora: Sag mir doch, mein Kind, mir gefällt dein Kleid, das muss ich schon sagen. Ich finde die Kombination aus Farben und Mustern gewagt, aber dennoch reizend. Hast du es genäht?
Wir beide blickten uns an und ich wusste, dass wir in diesem kurzen Moment den gleichen Gedanken hatten.
Arthur: Nein, Madam, ich habe es genäht.
Madam Aurora: Dann hasse ich es. Es ist eine Schande, so einen Lumpen ein Kleid zu nennen.
(Sie ging in ihr Zimmer und schlug die Tür zu.)
Erst als wir uns in der Sicherheit unserer Zimmer wogen, wagten wir es, still und leise zu lachen.