Читать книгу Ascheland - Oliver Kyr - Страница 12
Оглавление5 April 2023, Rheintal
„Ich bin froh, wenn sie morgens kommen. Aber wenn sie mittags gehen, bin ich auch nicht böse.“
Hilde seufzt, nippt an ihrer Porzellantasse und schaut mich neugierig an.
„Mögen Sie Kinder?“
Ihr Pudel drückt sich immer noch unter das kleine Sofa im Eck des ehemaligen Lehrerzimmers, wo wir beide sitzen und glotzt mit großen, runden Augen zu Else herüber, die zu meinen Füßen schläft und dann und wann schnarcht.
Hilde, so hat sie sich vorgestellt, die sonderbare Lehrerin mit dem magischen Blick und dem sorgfältig gepflegten Äußeren. Sie hat den Kindern den Rest des Tages freigegeben. Geordneter Rückzug aus dem Klassenzimmer, ein paar Hausaufgaben resolut hinterhergeschickt.
„Die Siebener-Reihe. Schön ordentlich, in die grünen Hefte. Kariert, ohne Rand. Und jeder bringt ein Tieralphabet mit. Neue Tiere, nicht die von heute.“
Ein schneller Blick zur Treppe, dann die Ermahnung:
„Petra, nicht auf dem Geländer rutschen. Elke kann dir sagen, wieso.“
Eine ganze Schulklasse war hinaus in den freien Nachmittag gestürmt. Die Hausaufgaben flatterten ihnen zaghaft hinterher und gaben dann auf. Sonne, Sand und Abenteuer warteten da draußen. Die Siebener-Reihe und das Tieralphabet waren chancenlos.
Hilde schaute den Kleinen mit strahlendem Blick hinterher, die Hände auf dem Rücken gefaltet. Als wäre sie die Mutter eines jeden Einzelnen.
Einzig: da waren keine Kinder.
Zwei Dutzend Phantome jagten hinunter ins Erdgeschoss, flogen wie kleine Vögel durch die großen Glastüren nach draußen und lösten sich auf wie früher Morgennebel im Glanz der aufgehenden Sonne.
Sie hatte mir ihre Hand entgegengestreckt. Förmlich und doch herzlich. Ihr Blick fing meinen und ließ ihn nicht mehr los.
Sie lächelte und wartete, die Hand erwartungsvoll ausgestreckt.
Ich legte meine rissigen und schmutzigen Finger um ihre kleine, saubere Hand. Unfähig, etwas zu sagen.
„Aber sprechen können Sie, oder?“ Hilde lachte. Das erste Lachen, das ich seit Langem gehört hatte. Wie ein bunter Vogel, der zum ersten Mal seine kleinen Flügel ausbreitet. Augenblicke vor der ersten Reise. Kind und Mutter in einem einzigen Klang. Wie der letzte Zauber in einer sterbenden Welt.
„Natürlich. Alle mögen Kinder.“ Hildes Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. Sie schüttelt den Kopf, amüsiert.
„Kinder sind doch das Einzige, was wir haben, nicht?“
Sie nippt wieder an ihrem Tee, fast versinkt sie in dem schweren, dunklen Ledersessel, der am Kopfende des langen Tisches thront.
Die Wände und die Decke des einstigen Lehrerzimmers tragen die Narben des Zerfalls. Tapetenfetzen, die den Kampf gegen Schimmel und Moos verloren haben, hängen traurig nach unten, starren auf den grau-schwarzen Linoleumboden, der in den Ecken spiegelnde Wasserpfützen trägt. In deckenhohen Regalen türmen sich Bücher, auf deren Rücken dunkelgrüne Blumen blühen, in einer Ecke steht eine Kaffeemaschine auf einer stumpf-grauen Anrichte, vom Rost umarmt.
Doch obwohl Verfall und Vergänglichkeit eingezogen sind, strahlt das Zimmer eine seltsam gepflegte Ordnung aus. Die Stühle sind ordentlich an den langen Tisch gestellt. Die sauberen Tassen und Löffel ordentlich neben der rostigen Kaffeemaschine aufgereiht. Mir fällt auf, dass die Fenster makellos sauber sind. Spiegel der Bemühungen dieser selbst so gepflegten Frau, die mir neugierig zublinzelt.
Ich habe noch kein Wort gesagt, seit ich hier bin. Kann nicht.
Zuerst dachte ich, es wäre ein Traum, ein fiebriger aber schöner. Aber aus Träumen wacht man auf.
„T: Tüpfelhyäne. F: Fremder.“ Hilde kichert und zeigt zuerst auf Else, dann auf mich.
„Wir haben selten Besuch.“
„Brandt“, sage ich trocken. Meine raue Stimme schreckt den Pudel auf, er will unter dem Sofa hervorhuschen, doch als er Elses wachsamem Blick begegnet, entscheidet er sich, in seinem Versteck zu bleiben.
Hilde schaut mich überrascht an, die Lachfältchen um ihre Mundwinkel zucken.
„Hier nicht. Nein.“
Ich schüttele den Kopf. Räuspere mich.
„Mein Name. Zacharias Brandt.“
Sie stellt ihre Tasse auf dem wuchtigen Tisch ab. Stützt die Ellbogen auf dem Holz ab und legt ihr Kinn in die Hände. Beäugt mich und legt den Kopf mal auf die eine, mal auf die andere Seite.
„Zacharias also.“ Bestimmend, ganz Lehrerin. Sie zieht die schön geschwungenen Augenbrauen hoch.
„Die Kinder nennen mich ja auch Hilde.“ Als ob das irgendetwas erklären würde.
Sie steht auf, gleitet elegant aus dem Sessel und schreitet auf die Anrichte zu. Drückt einen Knopf an einem kleinen CD-Radio. Musik aus einer anderen Zeit weht mir entgegen, tröstend, in warmen Nebel hüllend.
Ich verstehe kein Wort, es hört sich aber an wie Französisch. Weich, elegant, rund. Ein Akkordeon, die dunkle Stimme der Sängerin, eine Tür in eine andere Zeit.
„Nachmittags höre ich Chansons“, erklärt Hilde mit leiser Stimme. „Das erinnert mich an die Klassenfahrt nach Paris.“
Ihr Blick verliert sich irgendwo zwischen den rissigen Tapeten und den vollgestopften Bücherregalen. Sie deutet ein paar Tanzschritte an, hebt die Hände um einen unsichtbaren Partner, dann fixiert sie mich.
„Dein Bart, Zacharias, dein Bart …“ Sie schüttelt gespielt vorwurfsvoll den Kopf, schmollt so zauberhaft, dass ich aufstehen möchte, um sie zu küssen.
Aber natürlich tue ich das nicht.
„Und deine Frisur“, fährt sie fort. Sie schwebt auf mich zu und fährt mit ihren zarten Fingern durch mein struppiges Haar, bleibt im verfilzten Wirrwarr hängen und lacht.
„So kommst du mir nicht mit nach Paris, mein Lieber.“
Ich habe keine Ahnung, welches Spiel hier gespielt wird. Aber ich habe schon einige gemeistert und nach wie vor gilt das eherne Gesetz: Wenn du etwas bekommen willst, musst du etwas geben.
Ich räuspere mich, drehe den Kopf und schaue Hilde an, deren Gesicht lächelnd über meinem schwebt.
„Können wir was essen?“