Читать книгу Gebrochenes Schweigen - Oliver Trend - Страница 6

2

Оглавление

Berlin, Gegenwart. Draußen zwitschern unablässig Vögel, die den neuen Tag begrüßen. Durch die Ritzen der geschlossenen Fensterläden dringt spärliches Licht in das Zimmer hinein. Ich kann kaum noch meine Augen offen halten. Ich habe die ganze Nacht durchgearbeitet und erkenne nur mühsam die flimmernde Schrift auf dem Monitor vor mir. Mein Schädel pocht heftig, meine Finger schmerzen, aber die verstorbene Seele kümmert es nicht: Sie spricht unaufhörlich zu mir, unentwegt vernehme ich ihre geflüsterten Worte.

Eine Weile versuchte ich, sie zum Schweigen zu bringen, bat sie gar darum, ohne Erfolg. Darauf weigerte ich mich, weiterzuschreiben …, aber ihre Worte durchziehen meine eintönigen Gedanken in einem steten Strom, ohne dass ich es zu verhindern vermag.

Ich bin erschöpft, fühle mich hilflos und alleine. Döse indessen sogar zeitweise weg, ohne es zu merken. Dabei träume ich von Marc, meinem Beinahe-Ehemann, träume davon, wie es hätte sein können. Und für einige Augenblicke bin ich glücklich und zufrieden. Doch dann schrecke ich auf, mir bewusstwerdend, dass er tot ist. Ich frage mich unweigerlich, warum ich das hier überhaupt alles tue! Ich kann nicht mehr, halte das nicht mehr länger aus! Im Hintergrund registriere ich ständig die flüsternde Stimme, die mir unerschütterlich ihre Lebensgeschichte preisgibt. Aber plötzlich hört das Flüstern in mir auf, und ihre Stimme verstummt ohne erkennbaren Grund.

Endlich! Endlich ist sie still!



Castillo de la Tolleda in der Provinz de Lleida, nahe dem malerischen Städtchen El Pont de Suert im nordwestlichen Katalonien, Spanien. Residenz des Patrons von La Fraternitis, Felipè Melidas, Mitgliedern der Loge, einigen Angestellten und Dienern.

Sofía, eine jung wirkende, zierliche Frau mit weißer Bluse und einem passenden marineblauen Rock, gebunden an ihren Patron und Herrn, durch unsichtbare, wie unüberwindbare Stricke, sitzt an ihrem antiquierten Schreibtisch vor dem Computer und tippt im spärlichen Licht, das durch ein vergittertes Fenster hinter ihr in den Raum dringt. Sie wirkt müde, was wohl den Umständen ihres Lebens zu verdanken ist.

Bisher gelang es mir, die Angelegenheiten von La Fraternitis aus sicherer Distanz mehr oder weniger objektiv zu beobachten, ohne hindernde Emotionen. Es ist wichtig, pragmatisch an die Sache heranzugehen, damit die richtigen Entscheidungen getroffen werden können! Rechtfertigt sie sich gegenüber sich selbst. Sie erinnert sich an früher, an die Zeit, als ihr die zahlreichen Maximen von La Fraternitis und deren Logenpolitik eingetrichtert wurden. Wieder und wieder hatten sie Mitglieder des inneren Zirkels der Loge geprüft und sie ungeduldig korrigiert, wenn sie falsch antwortete. In kontinuierlicher Regelmäßigkeit wurde sie ermahnt, den Grundsätzen La Fraternitis zu folgen und nie den vorgeschriebenen Pfad zu verlassen! Sie hatte es gehasst, fürchtete sich gar zeitweilig vor den strengen Befragungen und Prüfungen. Doch sie ließ es sich nie anmerken, erledigte die ihr aufgetragenen Pflichten mit Sorgfalt und Umsichtigkeit, ohne zu maulen oder anderswie aufzubegehren. Sie beklagte sich nie, nicht einmal bei ihrem Mentor Felipè Melidas, der sie von Beginn an nahezu wie eine Tochter behandelte. Ihr Fleiß und ihr Pflichtbewusstsein sorgten unter anderem dafür, dass sie schon nach einigen Jahren in die Loge aufgenommen wurde. Seit jener Zeit arbeitet sie für den Herrn von La Fraternitis, Señor Melidas, persönlich, der von ihr stets Höchstleistungen erwartet und kein Versagen duldet. Sie ist seither quasi seine rechte Hand. Anfangs agierte sie noch oft direkt am Ort des Geschehens, indessen erledigt sie alles von hier aus. Bis gestern stellte sie nie eine Anordnung infrage, weder die Maximen der Loge noch die Anweisungen von Felipè Melidas, der in gewisser Weise auch heute noch als ihr Mentor und Patron des Castillo de la Tolleda fungiert.

In der ganzen Zeit habe ich nie wirklich daran gedacht, nach meiner Mutter zu suchen … oder meiner Tochter! Und jetzt! Meine Mutter ist tot! Sie saugt gedankenverloren an ihrer Unterlippe. Seit gestern fühle ich mich, als wäre mein Inneres nach außen gekehrt! Ich empfinde Scham, Reue! Vielleicht hätte ich mich nicht so sehr von meiner Arbeit vereinnahmen lassen sollen? Wenn ich mein vergangenes Leben so betrachte, macht es im Augenblick den Eindruck auf mich, als habe ich mich die ganzen Jahrzehnte nur vor meiner Verantwortung versteckt! Sie seufzt schweren Herzens und dem Wissen, dass das der Tatsache sehr nahe kommt. Habe ich doch tatsächlich geglaubt, dass mir mein verlängertes Leben – die beinahe „ewige Jugend“ automatisch mehr Zeit gibt! Sie kneift elegisch die Lippen zusammen: Jetzt ist es zu spät! Jegliche Chancen sind vertan, haben sich in Nichts aufgelöst! Am schlimmsten empfinde ich, dass ich in all den Jahren nie darüber nachdachte! Nicht bemerkte, dass ich mich wie ein feiges Huhn in Arbeit verkroch, um nicht über die unangenehme, schmerzliche Vergangenheit nachzugrübeln, mich ihr zu stellen! Erinnerungen drängen in ihr Bewusstsein, wie sie damals vor fast fünfzig Jahren in den Armen eines Deutschen erwachte.

Ich kann mich vage an ihn erinnern! Walter Berthold Brül! Seit ich von Tirpakna weggegangen bin, habe ich ihn nie wieder gesehen. Ob er noch lebt? So wie ich? Ihr Blick wandert zu einem kleinen, eingerahmten Bild. Das Foto ist verblasst und nicht mehr so gut erhalten. Dennoch erkennt sie darauf ein lächelndes Baby mit einem unförmigen, roten Mahl am linken Ohr. Unten im Bild steht in verblichener Schnörkelschrift: Mi ángel Carmen. Aber das Bild weckt keine Muttergefühle in ihr, stattdessen spürt sie tief in sich eine ungewohnte Unruhe. Fragmentarische Bilder aus der Zeit, als sie noch in einem katholischen Internat nahe Medellín lebte, flammen in ihr auf. Ein Gesicht, erst unscharf, dann …

„Paulo!“, flüstert sie sinnierend. Wie lange ich schon nicht mehr an dich gedacht habe! Wir waren damals so furchtbar verliebt! Ein Lächeln stiehlt sich in ihr Gesicht. Es war eine harte Zeit, aber auch eine vergleichsweise unbeschwerte, schöne Zeit. Ihr Blick wandert erneut zum Bild. Ob Paulo je erfahren hat, dass er ein Kind hat? Dass ich ihm eine Tochter geboren habe, die mir wenige Wochen nach der Geburt von Soldaten der Regierung weggenommen wurde! Geraubt!

„Oh, Carmen!“, murmelt sie und seufzt wehmütig. Könnte ich zurück, ich würde keinen Tag verschwenden und sofort nach dir suchen!

Die Räumlichkeiten, in denen sie arbeitet, sind alt, sehr alt; eine eigenartige Kälte scheint sich im steinernen Gemäuer festgefressen zu haben; obschon verschiedene, in Öl verewigte Porträts des einstigen Hofmalers des spanischen Königs Phillip, Diego Velázquez, die sonst eher karg wirkenden Wände zieren.

Da klopft es leise hallend an der schweren Holztür; ein elegant gekleideter Herr mittlerer Größe, der seinen linken Arm in einer schwarzen Schleife trägt, tritt ein. „Señora Sofía?“, fragt er mit italienischem leicht schleppenden Akzent. Seine Stimme verklingt gedämpft in dem hohen, irgendwie düster wirkenden Gewölbe, während er ungeduldig wartet und ein an den Rändern zerfleddertes Bildnis studiert. Es ist immer dasselbe: Ein mit Kohle gezeichnetes Bild, das schon sehr verblasst ist. Dennoch erkennt er darauf den Herrn dieses Anwesens und einen Indio. Zwischendurch späht er flüchtig zu Sofía herüber, fragt sich, ob sie seiner begangenen Taten würdig ist.

Was macht das für einen Unterschied? Ich sitze mächtig in der Scheiße! Ich kann froh sein, wenn sie mich nicht durchschauen und ich lebend von hier weg komme!

Über die transatlantische Verbindung konnte er bislang nicht Bericht erstatten, da es momentan aus irgendwelchen technischen Gründen sehr schwierig ist, eine offene Leitung zu kriegen. Soweit er sich schlau machen konnte, handelt es sich um ein Problem mit einem im Atlantik verlegten Kabel. Solche Unterbrüche kommen auch heutzutage regelmäßig vor und sind von daher nichts Besonderes. In diesem Fall sind sie vor allem äußerst unangenehm.

Er ist innerlich zum Zerreißen angespannt, hat Angst, muss sich immerzu ins Gedächtnis rufen, weshalb er hier ist – in der Höhle des Löwen sozusagen. Er ist sich sicher, dass die Räumlichkeiten allesamt überwacht werden. Sein Unbehagen wächst, und er presst verbissen seine Lippen aufeinander, während seine Kiefermuskulatur beharrlich zuckt. Ich sehe keine andere Möglichkeit, Zeit herauszuschlagen, als diese! Eventuell komme ich so noch an nützliche Informationen, die mir bei meinem Vorhaben weiterhelfen könnten! Wenn ich mich schon aus dem Staub machen muss, dann so gut vorbereitet, wie nur irgend möglich! Außerdem möchte ich Señora Sofía vor dem Alten warnen! Es darf nichts schief gehen, sonst bin ich tot! Auf seiner Nase glitzert Schweiß, und er kratzt mit dem Fingernagel des Zeigefingers der rechten Hand mehrmals über den Nasenrücken. Während er vor Nervosität sein Gewicht von einem Bein auf das andere verlagert und wieder zurück, nimmt er tief unter der zum Zerreißen gespannten Oberfläche Trauer wahr. Immerhin ist er mehr oder weniger hier aufgewachsen, erzogen worden. Hier wurde er geformt, zu dem gemacht, was er heute ist. Mit diesem Ort sind die meisten seiner Erinnerungen verbunden. Die Guten, ebenso wie die Schlechten. Hier ist er zum Mann herangereift, der er heute ist.

Dann habe ich die Sache in Venezuela aus einem dämlichen Impuls heraus verbockt, und jetzt ist alles anders! Trotzdem! Niemand hier, außer mir, kennt gegenwärtig die Wahrheit bezüglich Venezuelas. Ich habe sozusagen einen kleinen, sagen wir, vorläufigen Trumpf im Ärmel. Erneut verlagert er sein Gewicht und kratzt sich den Nasenrücken.

Sofía tippt den begonnenen Satz zu Ende und schaut blinzelnd auf, mustert ihr Gegenüber – die schwarze Schleife –

und furcht ihre Stirn. Sie weist den Mann mit kühler, aber dennoch angenehmer Stimme an: „Setzen Sie sich bitte, Señor Faretti!“ Sie beobachtet ihn schweigend dabei, wie er mit verbissenem Gesichtsausdruck vor ihrem Schreibtisch behutsam auf dem einzigen Stuhl Platz nimmt. Ihre dunklen Augen haften unangenehm auf ihm, ohne dass sie es selbst bemerkt.

Er hat sie kennengelernt, meine Mutter! Hätte ich vielleicht selbst gehen sollen? Wenn ich gegangen wäre, hätte sie mich erkannt? Ich sehe nicht aus, als wäre ich schon über fünfzig Jahre alt! Andererseits trug sie das Amulett bei sich. Vielleicht verstand sie ja, welche Macht sie mit sich führte. Sie sammelt einen Moment ihre Gedanken, indem sie tief durchatmet und fährt laut fort, ohne den Blick von ihm abzuwenden: „Erst einmal …“, beginnt sie überlegt und prüft, ob ihr hochgestecktes Haar nach wie vor richtig sitzt, wobei seine Aufmerksamkeit auf ihr Feuermahl am linken Ohr fällt.

Sein Herz pocht schnell und laut. Sein Magen verkrampft sich, was er zu ignorieren versucht.

Was ist, wenn sie es irgendwie trotzdem in Erfahrung brachten, die Wahrheit? Dass, was in Venezuela wirklich geschehen ist?

„… Bin ich froh, Sie heil wiederzusehen, beziehungsweise lebend!“, durchbricht sie seine Gedanken. „Wie kam es dazu?“, sie nickt Richtung Schleife.

„Die Schulter? Nun mhm … Sie mögen es mir nicht glauben“, lächelt er gequält, „aber ich wurde in der Casa de la Bondad sobre la Tierra überrumpelt.“

„Wie überrumpelt und von wem?“

„Mhm“, räuspert er sich, „auf den Punkt gebracht, Señora“, er sucht denn Blickkontakt zu ihr, „der Makler …, er war schneller als ich, vermutlich militärische Ausbildung!“

Sofía nickt verstehend, während sie ihn weiterhin stechend mustert. Ich habe keinen Grund ihm zu misstrauen, bisher war er der Loge stets loyal ergeben! „Sind die Schmerzen schlimm?“, erkundigt sie sich mit gekrauster Stirn.

„Ich habe gut verträgliche Schmerzmittel bekommen, und solange ich keine hektischen Bewegungen mache, geht es, danke der Nachfrage.“

Sofía fährt abgeklärt fort: „Nun gut, wie mir vorab schon mitgeteilt wurde, ist Señora Ortiz letzte Nacht ums Leben gekommen.“

Faretti bestätigt kraftlos: „Ja, diese Information habe ich auch.“

„Und Sie sind sich sicher, dass sie das Amulett des Tipirikitape um den Hals getragen hat …, einfach so?“, verklingt ihre ungerührte Stimme im Raum.

„Sie machte nicht den Eindruck auf mich, als wüsste sie, welchen Schatz sie da um den Hals trägt.“

„Wie kommen Sie zu dem Schluss?“

„Als ich sie darauf ansprach, reagierte sie nicht sonderlich darauf, versteckte es aber danach auch nicht. Mehr kann ich nicht sagen ... Es ist lediglich mein Eindruck von der Sache.“

Er stiert in ihre funkelnden Augen, riecht ihr wunderbares Odeur, während sich sein Magen anfühlt, als wäre er mit scharfkantigen Steinen gefüllt worden.

Was mache ich hier nur? Ich hätte nie wieder herkommen sollen! Ich muss verrückt sein!

„Und wo befindet sich das Amulett jetzt?“, zerschneidet ihre klare Stimme seine Gedanken.

„Keine Ahnung!“, antwortet er kaum hörbar, „ich nehme an, noch immer an ihrem Hals!“

Sie mustert ihn eindringlich, sein kurzgeschorenes, graumeliertes Haar, das kantige, sauber rasierte Gesicht. „Na gut, Sie dürfen sich zurückziehen, ruhen Sie sich aus, Señor Faretti! Das übliche Zimmer wurde bereits für Sie hergerichtet. Danke, dass Sie so schnell gekommen sind!“, lächelt sie matt.

„Keine Ursache!“, er erhebt sich langsam, verneigt sich knapp, aber höflich vor ihr. „Señora“, verabschiedet er sich mit dünner Stimme und verlässt mit leisen Schritten die Räumlichkeit.

Hinter sich schließt er sorgsam die schwere Holztür.

Sofía blickt ihm in Gedanken nach und fährt sich mit der Hand über das Feuermahl: Ich hoffe, du hast deinen Frieden gefunden, Mutter! Das wünsche ich mir von ganzem Herzen. Auch, wenn du mich nicht, wie du wahrscheinlich erwartest, auf der anderen Seite wiedersehen wirst! Vielleicht hätte ich nach dir suchen sollen, vielleicht auch nicht! Fakt ist nun mal, dass ich es nicht getan habe! Eine Stimme tief in ihr flüstert ihr kaum verständlich zu: Du hast eine Tochter, die du suchen kannst!

„Carmen“, murmelt sie in sich hinein.

In der gegenüberliegenden Ecke, die vom spärlichen Licht nicht beleuchtet wird, raschelt es plötzlich. Das reißt sie aus ihren Gedanken.

„Glaubst du ihm?“, will eine zittrige männliche Stimme aus dem Hintergrund wissen.

Sofía entgegnet, ohne sich umzudrehen. „Ja, das tue ich, Señor Melidas.“

„Du weißt, warum das Amulett so wichtig für La Fraternitis ist … für mich!“ Der eher kleine, schmächtige Mann mit polierter Glatze schlurft nicht mehr ganz so sicher auf den Beinen ins schwache Licht der Tischlampe. Er ist in eine Art saphirblaue Kutte gehüllt mit goldenen Verzierungen an den Ärmelenden. Seine Bekleidung schürt den Eindruck, er stamme aus einer anderen Zeit, ja gar aus einer anderen Welt.

„Ich möchte, dass Faretti herausfindet, wo es jetzt ist und es mir bringt. Er soll in Berlin mit der Suche beginnen.“ Er legt eine Hand auf die angenehm warme Schulter von Sofía und räuspert sich, während er mit seinen tiefgrünen Augen in den Bildschirm starrt.

Sie verbirgt es vor mir, ihre Trauer um ihre Mutter, die sie meinetwegen nie kennengelernt hat! Eine Erinnerung blitzt in ihm auf, an die Zeit, als er ihrer Mutter an ihrem neunten Geburtstag im Floresta Negro begegnete. Ob sie die Wahrheit ahnt? Leider muss ich meine Fassade um jeden Preis aufrechterhalten. Sie wird es verstehen, wenn es soweit ist! Ich habe sie nicht umsonst die letzten Jahrzehnte behutsam in die Geheimnisse der Loge eingeweiht! Früher oder später wird sie über ihren Verlust hinwegkommen!

„Soll er sich nicht erst etwas von den vorangegangenen Strapazen erholen, Señor?“, erwidert sie zögerlich.

Strapazen! Jetzt geht es in die vorletzte Runde! Seine Augen blitzen dabei auf, und seine weißen Brauen ziehen sich zusammen, während er schmatzend erwidert: „Nein, er ist hart im Nehmen, er wird es überleben! Außerdem brauchen wir zurzeit jeden Mann und jede Frau. Alle müssen sie nach dem Amulett suchen. Ausnahmslos!“ Er strafft seine Schultern, so gut er das in seinem hohen Alter noch vermag. Darauf knackt es mehrfach.

„Mhm“, schmatzt er nachdenklich, „du bereust es, deine Mutter nie kennengelernt zu haben, nicht wahr?“, orakelt er.

Sie nickt aufrichtig: „Ja, das tue ich!“

Einen Augenblick Schweigen, nur das schwere Atmen des alten Mannes ist zu hören.

Wenn ich dir nun sagen würde, erklären, dass ich dich darauf vorbereitet habe … Er schüttelt kaum merklich seinen Kopf. Nein, das würde meine ganze Arbeit mit dir zunichtemachen! Zudem würde ich wohl in arge Erklärungsnot geraten, fürchte ich!

„In Ordnung, ich will dich nicht länger von deiner Arbeit abhalten.“ Er nimmt seine Hand von ihrer Schulter, dreht sich um und schlurft mit unsicherem Schritt in die gegenüberliegende Ecke zurück.

„Wie lange noch, Señor Melidas?“, unterbricht ihre klare Stimme das schleifende Geräusch. „Wie lange, denken Sie, werden Sie ohne die Kraft des Amuletts leben können?“

Der Mann dreht sich langsam, schon fast bedächtig um und lächelt gepresst, „höchstens zwei Wochen, mein Kind, allerhöchstens!“

Und dann bist du am Zug … Du weißt es nur noch nicht! Ein kaum wahrnehmbares Lächeln umspielt seine spröden Lippen.

„Wir finden es, da bin ich mir sicher!“ Hört er ihre Stimme durch seine dicht verwebten Gedanken hindurch. Er schaut unter gesenkten Lidern zu ihr herüber, dann verlässt er, ohne zu antworten, das Gewölbe.

Sofía blickt ihm müde nach. Manchmal habe ich den Eindruck, er will gar nicht, dass wir es finden! Sie gähnt und streckt ihre Arme nach oben. Wenn ich schon so viel gesehen und erlebt hätte … so viele Gräueltaten, ich weiß nicht, ob ich da noch leben würde wollen! Ihr Blick fällt auf den Bildschirm. Sie kehrt in Gedanken zu ihrer verstorbenen Mutter zurück.

Später. Sofía hockt noch immer an ihrem Schreibtisch. Sie durchforstet das Internet nach Berichten über den Tod ihrer Mutter, hofft, dadurch etwas mehr Gewissheit zu erlangen.

Als ob das die verlorenen Jahre wieder gut machen würde! Ungeschehen macht, dass ich mich feige verkrochen habe!

Viel entdeckt sie allerdings nicht darüber, da sich der Unfall erst vor Stunden ereignete. Sie lehnt sich erschöpft zurück und gähnt laut. Morgen finde ich wahrscheinlich mehr darüber! Ich sollte mich etwas hinlegen, statt mir eine Gewissheit zu beschaffen, die in Wahrheit gar nichts zu bedeuten hat. Ich habe es verpatzt, damit muss ich leben! Ein wenig Schlaf wird mir sicher gut tun. Sofern ich schlafen kann … So viele Dinge geschehen im Augenblick, und ich habe Angst, dass mir etwas entgeht, das wichtig ist! Sie schürzt überlegend die Lippen. Aber jetzt sollte ich mich dringend etwas ausruhen! Müde und erschöpft nütze ich niemanden!

Gerade als sie sich erheben will, klopft es hohl an der Tür.

Sie sinkt sogleich wieder in ihren warmen Sessel zurück. Es sollte wohl nicht sein! Ein Gähnen entfährt ihr, dass ihre Kiefer knacken. „Ja, herein.“

Die Tür öffnet sich: Faretti streckt seinen Kopf hinein, der im Schein der Tischlampe ebenso verbissen wirkt, wie schon beim letzten Zusammentreffen.

Vermutlich die Schmerzen! Überlegt sie und schiebt den Gedanken beiseite.

Señora Sofía? Störe ich Sie gerade bei der Arbeit?“, erkundigt er sich mit leicht bebender Stimme.

„Nein, schon gut, kommen Sie ruhig herein!“ Dabei kann sie ein weiteres Gähnen nicht unterdrücken und hält sich die Hand vor den Mund.

Er tritt etwas unsicher an den Tisch heran und räuspert sich.

„Nun, ich wollte Sie fragen, ob Sie morgen mit mir zusammen frühstücken wollen? Selbstverständlich lade ich Sie ein …, wie gefällt es Ihnen im Restaurant Villa María nicht weit von hier?“

Señor Faretti, ich …, es tut mir leid, aber ich treffe mich nicht mit Angestellten der Loge, außer es bezieht sich auf die Arbeit.“ Ihr Blick verharrt regungslos auf ihm.

Faretti schüttelt sachte den Kopf, „entschuldigen Sie, Señora, ich habe mich ungeschickt ausgedrückt“, lächelt er erzwungen leutselig. „Ich dachte mir, dass Sie vielleicht über Ihre Mutter sprechen möchten“, er zuckt unbedacht mit den Schultern, was seine Linke gleich mit einem stechenden Schmerz quittiert. Er fährt mit verkrampftem Gesichtsausdruck zusammen. Dabei lässt er unauffällig ein zusammengeknülltes Stück Papier vor ihren Schreibtisch fallen.

Sofía sitzt da, ihre Müdigkeit ist wie weggeblasen, und einen Moment sieht sie irritiert zu Faretti. Erst, als er sich an die linke Schulter fasst, begreift sie. Sie schießt hoch und macht einen Satz um den Tisch. Das Papier zu ihren Füßen bemerkt sie nicht.

„Geht es? Kann ich etwas für Sie tun?“, erkundigt sie sich warmherzig und legt Faretti ihre Hand auf die Schulter.

„Nein, aaahh …, nein, danke, es geht schon wieder“, presst er schnaubend hervor. „Nun, was denken Sie?“, will er stattdessen wissen.

„Unter den gegebenen Umständen würde ich tatsächlich eine Ausnahme machen. Allerdings …“, äußert sie nachdenklich, während sie sich an die Tischkante anlehnt, „gibt es da bereits einen neuen Auftrag für Sie … Sie müssen morgen früh nach Berlin reisen!“, sie beißt sich auf die Unterlippe und kraust die Stirn. „Es tut mir leid! Leider können wir uns im Moment keine Aufschübe leisten, Sie wissen das, Señor Faretti. Wir brauchen dieses Amulett …, dringend!“

Faretti nickt konsterniert, „verstehe! Na, dann später, kein Problem! Geben Sie mir Bescheid, wenn Ihnen danach ist!“ Sein Blick wandert gedankenabwesend an ihr herab und bleibt beim zusammengeknüllten Papier wenige Zentimeter von ihrem linken Schuh hängen, während er sich am Hinterkopf kratzt.

„Entschuldigen Sie die Störung, Señora.“ Er dreht sich zu Tür um. „Gute Nacht, schlafen Sie gut!“, er verlässt ohne ein weiteres Wort ihr Büro.

„Gute Nacht!“, erwidert Sofía und schaut ihm mit einem flauen Gefühl im Magen nach. Die Müdigkeit lullt sie wieder ein, während sie noch immer auf die geschlossene Tür starrt.

Nicht weit von Sofías Büro entfernt. Melidas sitzt in einem kleinen, dunklen Raum, dessen Wände mit flimmernden Bildschirmen tapeziert sind. Es gibt kein einziges Fenster, insofern verwundert es nicht, dass es stickig hier drinnen ist. Aber das nimmt der Alte kaum wahr und wenn, würde es ihn vermutlich nicht interessieren. Er starrt gebannt auf einen der Bildschirme, auf dem flackernd Sofía zu erkennen ist, wie sie an ihrem Schreibtisch hockt und im Begriff ist, einzunicken. Leider konnte er das Gespräch zwischen ihr und Faretti eben nicht mithören, lediglich visuell verfolgen.

Das macht nichts, ihre Gestiken haben mir schon genug verraten! Er schüttelt energisch seinen Kopf. Soweit kommt es noch, dass sich meine sorgfältig vorbereitete Raupe mit einer niederen Kanalratte zusammentut!

„Es wird offensichtlich Zeit, um zu handeln!“ Er erhebt sich behäbig und keuchend aus dem Stuhl, schaut noch einmal schmatzend zu den still flimmernden Bildschirmen und verlässt den kleinen Raum.

Faretti ist auf dem Weg in sein Quartier, während er in Gedanken versunken ist. Bis jetzt klappt alles soweit, wie geplant. Bleibt zu hoffen, dass es Señora Sofía auch findet … am besten erst nachdem ich bereits abgereist bin. Es verhindert Missverständnisse, und dass der Alte davon Wind bekommt! Er bleibt stehen, fährt sich mit der Rechten vorsichtig über die linke Schulter. Er denkt an den Inhalt, der nur aus Zahlen, sogenannten Binärcodes, besteht. Ich habe ihn so kurz wie nur möglich gehalten. Ich weiß, dass sie sich gelegentlich damit beschäftigt. Sie sollte nicht lange brauchen, um ihn zu decodieren. Er setzt sich wieder in Bewegung, lenkt seine Aufmerksamkeit auf die gegebene Situation; er analysiert sie zum wiederholten Mal. Er prüft, wie seit Venezuela öfters, alle ihm zur Verfügung stehenden Optionen. So wie ich den Alten kenne, ist er nicht begeistert von meinem Versagen. Ein tiefer Seufzer entfährt ihm. Er betritt sein Quartier nicht weit von Sofías Büro. Der Alte möchte jeden kontrollieren. Es steht also außer Frage, dass er alles mit vollem Bewusstsein tut.

Ihm ist schon lange klar, dass der Alte nicht mit offenen Karten spielt, spätestens aber, seit der Sache mit Señora Vélez. Ich kann bis heute nicht verstehen, was in sie gefahren ist? Ich war noch beinahe zwei Meter von ihr entfernt, als der Fensterrahmen unter dem Druck nachgab! Er schüttelt sachte den Kopf, „ich verstehe es nicht! Sie muss mit ihrem ganzen Gewicht daran gelehnt haben! Noch nie zuvor hat ein Mensch solche Angst vor mir gehabt!“

Ob es der Alte wusste? Aber wie sollte er das machen? Wie könnte er gewusst haben, dass sie so auf mich reagiert? Er ist erschöpft vom Flug von Venezuela hierher, ihn quälen pochende Schmerzen in der linken Schulter.

Soweit ich hörte, sitzt Carmen seither im Rollstuhl.

Er legt seine Geldbörse auf das Nachttischchen und schlüpft umständlich aus seinen Kleidern.

Auch wenn ich nur für den Alten arbeite und selbst nicht zur Loge gehöre, kann ich deutlich spüren, dass hier etwas nicht stimmt … Mit dem Alten! Er kratzt sich nachdenklich den Nasenrücken. Er verfolgt ein Ziel, das er vor allen geheim hält, da wette ich drauf. Über das Weswegen kann ich allerdings lediglich spekulieren. Was ich aber mit Sicherheit weiß, ist, dass ich ein Teil seines Planes bin! Und diese Tatsache gefällt mir ganz und gar nicht! Etwas in mir sagt mir, dass er mich dabei über die Klinge springen lässt! Er streicht sich mit der rechten Hand über die Stirn.

„Leider hilft mir das alles nicht weiter. Ich habe mich in Venezuela von einem Impuls hinreißen lassen und gegen die direkten Befehle des Alten verstoßen. Jetzt muss ich zusehen, dass ich bei der nächsten Möglichkeit, die sich mir bietet, von der Bildfläche verschwinde.“

Bilder, wie er der alten Ortiz seine Waffe an die Nase hält, blitzen in seinem Geist auf. Das Amulett in ihrer Bluse … Bilder, die er sofort verdrängt. Trotzdem bin ich ein Idiot! Rügt er sich, nicht lange, und ich muss beim Alten antraben und dafür geradestehen …, erklären, weshalb ich sie nicht getötet habe! Warum ich mich stattdessen anschießen ließ! Ich hoffe nur, dass er mir meine Geschichte abkauft! Ihm wird bei dem Gedanken speiübel. Die Kälte ignorierend, tappt er barfuß über die Steinplatten ins Bad und putzt sich die Zähne. Wieder spürt er tief in sich die Trauer, die mit seinem Entschluss, abzuhauen, einhergeht.

Als er fertig ist, setzt er sich seufzend auf den Bettrand und fährt sich mit der rechten Hand durch das Haar.

Ich brauche ein Zeitfenster von einigen Stunden, wo mich niemand vermisst, oder gar sucht. Dessen ungeachtet wäre es mir lieb, Señora Sofía findet das Papier, interpretiert es richtig und greift zum Hörer und ruft mich an. Jetzt hört es sich auf einmal dämlich an; er kraust die Stirn und legt sich steif aufs Bett.

Ich hätte verschwinden sollen, solange noch Zeit dafür war! Mit diesem Gedanken deckt er sich halbwegs zu. Mir ist verdammt noch mal nicht mehr wohl in meiner Haut! Fühle mich geblendet, missbraucht! Den einzigen Ausweg, den ich noch sehe, ist … abzuhauen, wie ein kleiner Feigling! Wenn ich Pech habe, sitzt der Alte plötzlich vor mir, wenn ich die Augen aufmache! Er hat schon immer wenig von meiner Privatsphäre gehalten. Mit diesen Gedanken döst er weg, fällt nach und nach in einen unruhigen Schlaf.

Plötzlich fühlt Faretti sich beobachtet und öffnet blinzelnd seine schweren Lider. Leicht verschwommen, erkennt er den Patron des Hauses – den Alten, der seinen schrumpeligen Körper in ein smaragdgrünes Gewand gehüllt hat. Er riecht seine Ausdünstung, der Geruch vom nahenden Tod.

„Ich habe noch keinen Bericht von La Fraternitis in Venezuela erhalten“, spricht er mit zittriger Stimme, seinen lauernden Blick auf Faretti gerichtet. „Erklären Sie mir bitte, weshalb Sie versagt haben?“

Faretti setzt sich kerzengerade hin und streckt sich knackend.

Und schon muss ich geradestehen!

„Können Sie nicht anklopfen?“

„Nein, und jetzt antworten Sie mir!“

„Weshalb haben Sie mir vorenthalten, dass es sich dabei um die Mutter von Sofía handelt?“, forscht er mit bebender Stimme, „warum sollte ich sie töten? Ich habe zuvor noch niemals für Sie getötet. Ich bin kein Mörder, Señor Melidas, und das wissen Sie genau!“

Ein maliziöses Grinsen zeichnet sich im faltigen Gesicht des Alten ab, das gleich wieder verschwindet. „Sie werden dafür bezahlt, zu tun, was ich Ihnen auftrage, nicht zu hinterfragen, warum ich wem was nicht mitteile, Señor Faretti. Oder warum ich Ihnen einen Auftrag erteile, oder eben nicht! Auch nicht, wenn er sich scheinbar gegen Mitglieder oder Angestellte von La Fraternitis richtet!“

„Wenn Sie aus mir einen Mörder zu machen versuchen, dann denke ich, habe ich durchaus das Recht, zu hinterfragen!“, opponiert Faretti aufgebracht. „Weiß Señora Sofía davon? Weiß sie, dass Sie dabei sind, hinter ihrem Rücken ihre Familie auszumerzen?“

Die grünen Augen des Alten blitzen unter gesenkten Lidern unheilverkündend auf. „Sie haben keine Rechte, Señor, wirklich keine, nur Pflichten mir gegenüber“, schüttelt er den Kopf, ohne auf Farettis letzten Teil der Frage einzugehen, „denen Sie unglücklicherweise nicht nachgekommen sind … nicht so, wie ich es von Ihnen verlangte. Sie haben der Loge damit erheblichen Schaden zugefügt! Außerdem sind Sie schon längst ein Gehilfe für unsere Attentäter! Wir tun es vielleicht nicht offenkundig, doch wir tun es! Wie glauben Sie, lässt sich heute Macht gewinnen – und erhalten? Geld alleine reicht da bei Weitem nicht! Glauben Sie allen Ernstes, dass Ihre früheren Aufträge nicht oft Vorbereitung dessen waren, was Sie mir jetzt bigott vorwerfen wollen?“ Der alte Mann kichert belustigt, „lächerlich!“

„Das habe ich nicht gesagt!“, protestiert Faretti fauchend.

„Nein, aber gedacht! Nun“, schmatzt der Alte, „ich bin nicht für Ihre Moral zuständig, sondern Sie selbst, Señor Faretti!“ Merklich kühler fährt er fort: „Und jetzt erklären Sie mir freundlicherweise, weshalb Sie Señora Ortiz nicht wie befohlen töteten?“, er zeigt mit seiner Hand auf die linke Schulter: „Stattdessen haben Sie sich anschießen lassen, wie ich hörte und sehe!“

Faretti reibt sich mit den Fingerknöcheln das Kinn. Gedanken rasen durch seinen Kopf; er versucht krampfhaft, die Worte des Patrons zu verarbeiten! Von seiner Stirn perlt Schweiß, obschon es hier drin nicht sonderlich warm ist.

„Hat es Ihnen die Sprache verschlagen? Haben Sie Ihre Zunge heruntergeschluckt oder warum antworten Sie mir nicht? Ich mag es nicht, auf etwas warten zu müssen!“

„Ich“, keucht Faretti mit gedämpfter Stimme, „war nicht schnell genug, Señor! Dieser Makler zog schneller als ich und schoss mir zweimal in die linke Schulter, dann sind sie abgehauen, verschwunden … alle beide!“ Dabei sucht er den Augenkontakt zu Melidas. Jetzt bin ich dran, das glaubt er mir nie! Was habe ich mir nur dabei gedacht, noch einmal herzukommen?

„Verschwunden, hä!“, knurrt der alte Mann ärgerlich, „nachdem Sie sich haben anschießen lassen … von einem Makler!“, er hebt mahnend seinen Zeigefinger, „Sie machen zu viele Fehler! Zuerst stoßen Sie Señora Vélez aus dem Fenster, und jetzt das!“

„Es war ein Unfall, verdammt noch mal!“, insistiert Faretti wütend! „Das habe ich Ihnen schon mehr als ein Dutzend Mal erklärt!“

„Das hätte aber nicht passieren dürfen!“, konstatiert Melidas ungerührt, „Sie wissen um die Wichtigkeit dieser Angelegenheit – um die Macht des Amulettes und deren Attribute! Und was tun Sie? Sie lassen sich anschießen, statt Ihren Auftrag auszuführen!“

„Es tut … tut mir leid, Señor … ich habe einen Augenblick nicht aufgepasst!“

Der Alte richtet sich, so gut er es noch vermag, auf und dreht sich schlurfend Richtung Tür. Dabei keucht er, als wäre er eben um das Anwesen gerannt.

„Sofía hat Ihnen bestimmt mitgeteilt, dass Sie morgen nach Berlin fliegen werden. Hernando wird Sie vor der Abreise über alles Nötige instruieren. Ich rate Ihnen dringend, sich keinen weiteren Fehler zuschulden kommen zu lassen!“, Melidas steht schwankend unter dem Türrahmen und schürzt seine Oberlippe, dann schmatzt er überlegend. „Wenn Sie den Auftrag nicht vermasseln, können Sie anschließend hier Ihre Wunde kurieren lassen.“ Er zögert merklich, fügt barsch hinzu: „Und lassen Sie gefälligst die Finger von Sofía, sie ist nichts für Sie! Suchen Sie sich eine Dame Ihres Formats, klar!“ Mit diesen Worten verlässt er mit staksigen Bewegungen das Quartier, ohne sich nochmals umzudrehen.

Faretti hockt noch immer kerzengerade auf dem Bett, Wut wallt in ihm auf. Seine pochende Schulter ignoriert er.

Ich hasse ihn! Ich hasse diesen alten, runzligen Kerl! Aber immerhin hat er mich nicht durchschaut, und ich weiß jetzt, wo die Reise hingeht! Wenn es so bleibt, habe ich nach dem Auftrag genügend Zeit, um zu verschwinden! In Berlin habe ich einige wertvolle Kontakte, von denen La Fraternitis nichts weiß!

„Hoffe ich zumindest!“

Der Drang, sich in Luft aufzulösen, ist so stark, wie noch nie zuvor in seinem Leben, doch er wiedersteht ihm und legt sich wieder hin. Sein Körper ist gespannt, als erwarte er im nächsten Augenblick einen heimlichen Angriff, doch nichts dergleichen geschieht. Seine Gedanken kommen langsam zur Ruhe, er lauscht nach einer Weile seinem Atem, dem einzigen Geräusch hier.

Nach und nach versinkt er in Erinnerungen an die Zeit in Sizilien, als er als mittelloser Bursche einem gutgekleideten Mann die Brieftasche klauen wollte und ihn dieser dabei erwischte. Doch anstatt ihn der Polizei zu übergeben, reichte er ihm etwas zu essen. Er erinnert sich daran, wie der mysteriöse Mann ihn eine ganze Zeitlang mit sich nahm, ohne ihm je seinen Namen zu verraten. Nach etwa einem Jahr des Handlangens, dessen Lohn ein Platz zum Schlafen und regelmäßiges Essen war, reisten sie zusammen nach Spanien, genauer gesagt, nach Katalonien. Es war das erste Mal, dass ich ein anderes Land betrat und auch kennenlernte. Damals war ich schwer beeindruckt von der ganzen Geheimniskrämerei, dem gehobenen Auftreten von Señor Melidas, der über alles Bescheid zu wissen schien! Dem sichtlichen Reichtum der Loge und der Macht, die sie besaß. Plötzlich war aus mir jemand geworden, dem Reisen rund um den Globus bezahlt wurden, für den die Welt nicht mehr unerreichbar groß, sondern zahlbar klein geworden war! In meiner Naivität dachte ich doch allen Ernstes, das Leben sei ab nun perfekt! Endlich waren da Leute, die an mich glaubten, die mir eine Ausbildung ermöglichten. Bilder, wie er damals stolz vor der Privatschule La Fraternitis stand, zusammen mit einer kleinen Klasse von Kindern, die ein ähnliches Schicksal zu erzählen hatten, wie er. Einige von ihnen schafften gar den Sprung zur Uni, nennen sich heute stolz Mitglieder La Fraternitis. Der Rest, zu dem auch er gehörte, wurde von der Loge zu einem Eignungstest geladen, wo ausgewählte Mitglieder alle nach strengen Kriterien prüften, zu was sie taugten, ob sie für La Fraternitis einen Nutzen besaßen oder nicht. Damals war ich etwa dreizehn, vierzehn vielleicht! Niemand von uns verstand wirklich, was da genau passierte und was das für unsere Zukunft bedeutete! Die Mitglieder behandelten uns stets freundlich, und …, ich muss zugeben, korrekt! Wir bekamen immer reichlich zu essen. Ich glaubte doch allen Ernstes, die schlechten Jahre seien vorüber! Faretti blinzelt und öffnet seine Augen, stiert in die Dunkelheit.

Ich wünschte, er hätte mich nie zur Mutter und Tochter von Sofía geschickt, dann wäre alles in Ordnung! Leider werden Wünsche nicht einfach so erfüllt, weswegen dies meine letzte Nacht hier ist … in diesen kalten und zugleich schützenden Gemäuern.

Während der Alte zurück in seine Gemächer schlurft, sinnt er über seine getroffenen Entscheidungen nach: Darüber, ob es richtig war, Faretti mit den Aufgaben um Sofías Familie zu betrauen, ihn zur Tochter und Mutter zu schicken?

Die Aversion gegen süße Düfte, die Sofías Tochter an den Tag legte, brachte mich auf Faretti. Er schien damals geradezu prädestiniert für mein Vorhaben zu sein. Melidas kann sich noch gut daran erinnern, wie schnell sich die Meinung von Carmens Psychiater änderte, wie sich ein gierendes Glitzern in seine Augen stahl, ein selbstgerechtes Grinsen auf die Lippen, als ihm eine halbe Million geboten wurde, damit er die gewünschten Informationen preisgab. Melidas grinst mephistophelisch. Anschließend klappte alles, wie ich es plante! Jetzt allerdings scheint der Wurm in der Sache zu stecken … Wie es so schön heißt! Allerdings muss ich eingestehen, dass ich wusste, dass es so kommt …, sogar darauf hin gearbeitet habe!

Schon so lange bereitet er seinen eigenen Tod vor. In aller Stille und Heimlichkeit. Er will endlich sterben können, jedoch ohne dabei gleich sein Vermächtnis zu Fall zu bringen. Dummerweise kann Faretti ihm mit seinem Wissen gefährlich werden, auch wenn er höchstens entfernt erahnen kann, was Melidas wirklich vorhat.

Es besteht die Gefahr, dass er mit Sofía das Gespräch suchen wird, und sie mein Vorhaben sabotieren! Er denkt an den kleinen Raum mit den zahlreichen Bildschirmen. Wenn sie sich näher kommen, wird er es ihr garantiert erzählen! Das darf unter keinen Umständen geschehen. Er schmatzt nachdenklich, erinnert sich an den renitenten Tonfall, der ihm vorhin bei Faretti aufgefallen war. Es wird Zeit, dass er von der Bildfläche verschwindet, mit all den kleinen Geheimnissen, die er indirekt für mich hütet! Leider kann ich ihn mir nicht so einfach entledigen, wie ich es gerne wollte … noch nicht. Erst muss er noch etwas für mich beschaffen. Ich habe nur ihn; es ist wichtig, damit mir das Ganze gelingen kann! Er kichert heiser, ein stockendes Hüsteln folgt. In der Zeit seiner Abwesenheit wird mir La Fraternitis in Venezuela bestimmt Bericht erstatten. Sofía entsende ich nach Venezuela, so kann sie sich nicht mit Faretti sprechen und mir nicht in die Quere kommen.

Er öffnet zittrig die Tür zu seinen Gemächern, tritt glucksend ein und schließt sie behutsam hinter sich. Mal sehen, was meine Karten dazu verraten! Die Berichte meiner fleißigen Schatten kenne ich ja bereits!

Berlin. Als ich vorhin im Bad war, um mich etwas frisch zu machen – mein verkrüppeltes Selbst, mein Gesicht mit dem störenden roten Feuermahl am linken Ohr, angewidert im Spiegel betrachtete, geschah es; gerade in dem Augenblick, als ich wieder in meine altbekannte Lethargie zurückfallen wollte, mir einredete, alles wäre nur schlichte Einbildung – offenbarte sich mir die verstorbene Seele: mit einem kalten Grinsen im faltendurchzogenen Gesicht, welches ihre obere Zahnreihe zum Vorschein brachte. Ihr groteskes Angesicht sprang förmlich aus dem Spiegel heraus auf mich zu. Ihr Gekicher hörte sich an, als würde Schleifpapier grob aneinander gerieben. Bildete mir gar ein, ihren fauligen Atem wahrzunehmen – ein schwerer Geruch nach Verwestem, der mich das zuvor eingenommene Frühstück hochwürgen ließ, während ich reflexartig vom geschmolzenen Quarzsand zurückschreckte. Mein Herz hämmerte fest in meinen Kopf, als ich ihre raue Stimme in mir vernahm: Schreibe … schreibe … jetzt! Schreibe … schreibe … jetzt … schreibe, schreibe! Polterten ihre Worte fordernd in meinem Schädel.

Ich rollte benommen weiter vom Spiegel weg und heulte fürchterlich. Schrie und verfluchte die Seele, die mich in meinem verkrüppelten Körper und meinem Geist gefangen hält.

„Was willst du? Oh, du verfluchtes, gottloses Gespenst, lass mich in Ruhe!“, kreischte ich mit überdrehter Stimme in das leere Bad, was mir selbst noch mehr Gänsehaut bescherte.

„Ich will sterben, verstehst du? Mir ist deine Lebensgeschichte scheißegal, kapierst du? Lass mich endlich in Ruhe!“ Ich suchte hektisch den kleinen Raum ab, ohne die geringste Spur von diesem grausamen Wesen zu entdecken! Trotzdem spürte ich deutlich ihre Anwesenheit, die sich unendlich tief anfühlende Kälte, die stets von ihr ausgeht, wenn sie zugegen ist! Die Luft, die ich des Schreckens wegen nicht mehr aus meinen gefüllten Lungen weichen lassen konnte, drängte – wollte wieder heraus. Aber ich ließ es nicht zu. Stattdessen konzentrierte ich mich auf meinen unregelmäßig galoppierenden Herzschlag.

Denk nicht mal dran! Fuhr mich die raue Stimme brüsk in mir an. Du wirst schreiben … schreiben … nichts als schreiben!

Als ich panisch zum Spiegel hochblickte, zeigte er erst ein gewohntes Bild, als sie plötzlich nochmals kurz darin aufblitzte – unheilvoll, dämonisch! Der Drang, auszuatmen, gewann überhand, ich pustete laut zischend aus. Schweiß brannte in meinen Augen, ich wischte ihn unbeholfen aus den Augenhöhlen.

JETZT! Hallte die Stimme befehlend in meinem Schädel, dass ich glaubte, er würde jeden Moment unter enormen Schmerzen bersten. Anstelle meines Hauptes barst keine Sekunde später der Spiegel mit einem furchtbar lauten Knall. Unzählige Splitter wurden durch das Bad geschleudert und hagelten gegen den Emaillebelag der Badewanne, die glasierten Wandplatten und mich.

Ich schlug voller Panik die Hände vor den Kopf und kreischte eingeschüchtert: „Aufhören, aufhören …! Bitte, bitte – ich … ich tue, was du willst!“, während ich meinen Oberkörper, soweit ich das in meiner Situation noch vermochte, in die Rollstuhllehne drückte.

„Ich tue, was du willst!“, wisperte ich, als die Splitter wie von Geisteshand ihre Wucht verloren und kraftlos auf den Plattenboden prasselten.

„Ich tue, was du willst!“, hörte ich meine jämmerliche Stimme, wie sie resigniert im Badezimmer verklang, „ich tue, was du willst!“

Ich weiß! Donnerte es hallend in meinem pochenden Schädel, sodass ich meine Hände ruckartig an meine Ohren schlug.

Ich weiß, Kleines! Und jetzt, schreibe … schreibe … schreibe!

So sitze ich wieder – nachdem ich meine Schnittwunden versorgt habe – an meinem Schreibtisch, wie schon die letzten Stunden, und tue, was von mir verlangt wird: Ich schreibe!

Gebrochenes Schweigen

Подняться наверх