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Salvatore de la Sourcas Truppe stürmten die paramilitärischen Milizen die Mauern der Brigado Libertad de Credibilidad. Sie kamen mit drei kleinen Flugzeugen, die sie von einem Militärstützpunkt nahe der Stadt Cartagena de Indias entwendeten: Einem Stützpunkt, der bis anhin dem direkten Befehl von General Morillias unterstellt war. Lastwagen mühten sich mit laut heulenden Motoren die schlammige Straße hoch. Dazwischen bewaffnete Jeeps mit Maschinengewehren auf den Heckflächen montiert, die mit ihren Rädern immer wieder im Matsch durchspulten. Die Flugzeuge drehten auf einmal alle ab und zogen sich in Richtung Tiefebene zurück. Es gab überall in und vor der Festung kleinere Scharmützel, die meist von de la Sourcas Leuten gewonnen wurden. Alle waren in einen an Benzin erinnernden, weißen Dunst eingehüllt, der sie bittersüß einlullte und antrieb, ihr Bestes zu geben. Beide Seiten fühlten sich unschlagbar, meinten, sie seien stärker und besser!

Nicht gerade das, was sich Morillias vorstellte, als er die Säcke mit de la Sourcas Kokain füllen und vor dem Eingangstor auftürmen ließ. Doch als Nachteil empfand er es auch nicht, da er das Zeug selbst mit tiefen Zügen einatmete, während er sich hinter einem Pfeiler verschanzte, der die Decke des Esssaales stützte. Die Decke knackte und knarrte bedrohlich, als es heftig und laut rumpelte, weil ein Panzer irgendwo in der Nähe eine der Mauern durchbrach.

Morillias schaute sich mit schnellen Blicken um, ließ sich dadurch aber nicht aus der Ruhe bringen. Bis zum Augenblick, als er deutlich vorsichtig abtretende Stiefel auf dem Boden hörte und wie sich fast schleichend knirschend das Gewicht auf dem Schutt der Erde verlagerte. Der General wartete einen Atemzug, schnellte darauf hervor und feuerte einige Schüsse in die Richtung ab.

Coño!“, zischte er zwischen seinen schmalen Lippen durch, als er mit weiten Augen erkannte, dass er einen seiner eigenen Leute erwischt hatte, was besser nicht geschehen wäre; denn danach wurde er plötzlich von de la Sourcas Leuten umstellt, die alle ihre Läufe auf seinen Kopf richteten. Sie waren einfach da, wie aus dem Nichts aufgetaucht.

Morillias erhob vorsichtig die Hände über sein Haupt und sackte danach auf die Knie, mitten in die unzähligen Splitter und Trümmer hinein, ohne einen Laut von sich zu geben. Seine Augen blitzten; er schien wirklich wütend zu sein.

Zur selben Zeit drangen mehrere Gruppen paramilitärischer Kämpfer von den nördlichen Anden zur provisorischen Festung herab. Sie überwältigten die Männer von General Morillias ohne nennenswerte Probleme. Sie nahmen die vermeintlich kaum einzunehmende Festung – die ehemalige Iglesia del Cielo zusammen mit den paramilitärischen Milizen binnen kurzer Zeit ein, weil Morillias sich von seinen eigenen Leuten täuschen ließ, die ihm mitgeteilt hatten, Salvatore sei tot, ohne dass er dies mit eigenen Augen überprüfte hatte! Oder waren sie gar in Wirklichkeit Anhänger de la Sourcas? So oder so, Morillias verfluchte diesen Tag inbrünstig und voller Leidenschaft: Der Tag seiner Niederlage, und dabei hatte die verdammte Violencia noch nicht einmal richtig begonnen!

Als Salvatore dann höchstpersönlich mit einem Gehstock stolz im Esssaal erschien, breit grinsend und mit einer teuren Zigarre in der rechten Hand, sackte Morillias in sich zusammen. Mein Onkel ganz in Weiß gekleidet, wie sein prächtiger Hut, trat elegant zum General hin, und seine Leute machten einen Schritt zurück.

Noch immer den Zeigefinger am Abzug, nur auf den geringsten Befehl ihres Patrons wartend, um dem General das Licht auszulöschen.

„So sieht man sich also wieder, Bruderherz!“, grinste Salvatore gefährlich und rieb sich das sauber rasierte Kinn, „im Schoße der missglückten Kindheit, die wir hier in der Iglesia del Cielo deinetwegen verbringen durften, und … am Tag deines Todes! Es war noch nie gut, einen Halbbruder zu haben, vor allem keinen wie dich!“, seine Miene wurde ernst. Er senkte seinen Kopf und schickte seine Leute mit einem leisen Befehl hinaus, die ihm anstandslos gehorchten und sich aus dem Saal verzogen. Er nahm den Hut vom Kopf und legte ihn sorgsam auf einen Tisch, der ihm dafür noch stabil genug schien. Sein ergrautes Haar schimmerte sanft im Esssaal und ließ ihn weise wirken.

Die Sonne drang teilweise durch den dichten Dunst aus Kokainstaub.

Lucia, Maselda und ich kauerten mucksmäuschenstill über dem Esssaal in der Decke, genau über den beiden Halbbrüdern: Denn, als der Panzer vorhin eine Mauer durchbrach, gab es hier einen Riss, und wir konnten deswegen nicht mehr weiter. Waren gefangen und gezwungen, mit anzusehen, wie eine Fehde zwischen zwei Halbbrüdern ihren Lauf nahm.

Lucia hatte uns befohlen, uns unsere Taschentücher, die wir von ihr geschenkt bekamen, vor die Atemwege zu halten.

Maselda fluchte noch immer, aber so leise, dass ich es kaum noch hören konnte.

„Du hast meine Soldaten gekauft, nicht wahr!“, drang die tiefe Bassstimme des Generals gepresst zu uns herauf.

„Ja, das habe ich, und noch mehr!“, antwortete ihm Salvatore mit einer eisigen Ruhe, die mich schaudern ließ.

Onkel Salvatore, dachte, nein schrie eine Stimme immer wieder in mir auf, aber ich war still. Still, wie es mir Lucia befohlen hatte!

„Du hast deine ganze Familie, dein ganzes Dorf, welches du beschützen sollst, dafür geopfert, dass du mich kriegst? Mich?“, Morillias keifte jetzt brüllend, was wahrscheinlich eine Wirkung des Kokains war.

Mir zumindest war inzwischen ganz komisch, ich fühlte mich leicht, die Schmerzen in meinen Knien, Oberschenkeln und meinem Kopf waren wie weggeblasen. Mein Rachen kribbelte stark, mein Mund war trocken. Meine Nase lief ununterbrochen; ich versuchte immer wieder, leise den Rotz in mir zu behalten. Ich schwitzte und hatte kaltnasse Hände.

Da klatschte es unten schallend.

Morillias war augenblicklich still.

„Ja, ich habe meine Familie … ja, selbst meine Frau und meinen einzigen, geliebten Sohn Chevaron für dich geopfert, denn hier wird es ein für allemal enden, Bruderherz!“ Salvatore hob seinen Gehstock und schrie in den Saal hinein, als wolle er es allen mitteilen: „Dieser ganze Zirkus wird heute, hier und jetzt enden! Ich werde deine gesamte Sippschaft ausrotten und denunzieren lassen. Sie werden verfolgt, egal, wo sie sich in Kolumbien verstecken, wir finden sie!“, er beugte sich kurz vor, „ich werde es richtig zu Ende führen, kleiner Brandstifter, das verspreche ich dir!“, er richtete sich zu seiner vollen Größe auf und grinste höhnisch: „Es wird mein ganz persönlicher Tag der Rache sein!“, es wurde einen Augenblick still, ehe der Patron zögernd zu Ende sprach: „Du hast schon zu viel Unheil und Leid über das einfache Volk gebracht …, deine Zeit ist abgelaufen!“, dabei zeigte er mit dem rechten Zeigefinger an seine eigene Kehle und schnitt sie symbolisch durch und nickte, während sein Blick den seines Halbbruders traf.

General Morillias erhob sich und knurrte mit gesenktem Kopf: „Si, dann tue es doch, wenn du … gggnn!“, weiter kam er nicht, da ihm Salvatore den Gehstock mit voller Wucht in den Hals rammte. Der General versuchte mit dem rechten Arm, den Stock abzuwehren, schaffte es aber nicht.

Si, ich tue es, siehst du“, er drehte seinen Gehstock im Fleisch seines Bruders herum, der gurgelnd in die Knie ging.

Der Schock war ihm ins Gesicht geschrieben; er starrte in das aufbrausende Antlitz meines Onkels.

„Du denkst, es ist mir so leicht gefallen, wie dir, alles aufzugeben, um weiterzuleben, si, General!“, er zog seinen Gehstock abrupt aus dem Hals Morillias und verpasste ihm einen schallenden Tritt in den Oberkörper. Der General wehrte sich nicht mehr, konnte es vielleicht nicht, oder wollte nicht, keine Ahnung.

Er wurde von der Wucht nach hinten geschleudert, während dunkelrotes Blut aus seiner Wunde am Hals spritzte. Er versuchte, sich die Wunde mit seinen dreckigen Händen zuzudrücken, was ihm auch halbwegs gelang. Der rote Lebenssaft spritzte darauf nicht mehr, doch es quoll zwischen seinen Finger durch und tropfte lautlos auf den Boden.

„Du warst ja immer so diszipliniert, Bruderherz!“, warf Salvatore Morillias lauthals vor und spuckte abschätzig in sein Gesicht. „Du musstest in Santafè Bogotha ja den Großen vor den Cámara de representante markieren, du Held! Glaubtest du wirklich, ich hätte das nicht mitgekriegt? Wir sind Halbgeschwister, ich kann nicht glauben, dass du dachtest, ich würde diese überhebliche Ansprache nicht vernehmen!“

Anschließend schritt Salvatore zu seinem sichtlich resignierten Bruder hin und stieß den Stock noch einmal mit aller Wut in dessen Fleisch und schrie: „Du hast mir damit mit deinem überheblichen Stolz die Chance gegeben, endlich Rache an dir zu üben! Für alles, was du meiner Familie angetan hast, unserer Familie!“

Dann einige Sekunden Stille, nur ein unstetiges Gluckern des Generals war zu hören, der gebannt in die Augen seines Halbbruders glotzte.

Einige Atemzüge wurde es fast schon unheimlich ruhig, und ich dachte, dass wir im nächsten Moment entdeckt werden würden, doch es kam anders.

General Morillias hielt verkrampft die Hände an seinen Hals, trotzdem war ein deutliches Gurgeln zu hören.

„Stirb, du elendiger asesino …, verdammter Mörder!“, hallte es zu uns hoch, wir beobachten, wie Salvatore wie ein Wahnsinniger mit seinem Stock auf Morillias einschlug, bis dieser endgültig tot war. Danach richtete sich Salvatore zur vollen Größe auf, straffte sein Hemd und seine Hosen. Wischte das Blut seines Gehstocks an seines toten Bruders Hosenbeinen ab, holte seinen Hut vom Tisch, zog sich ihn tief ins Gesicht und verließ den demolierten Esssaal. Dabei sprach er ein kurzes Gebet zur heiligen Maria, während er mit knirschenden Schritten zu seinen Leuten nach draußen ging.

Morillias lag tot am Boden, kein Zucken, nichts ging mehr von ihm aus. Er starrte genau zu uns herauf, zu mir, in meine Augen. Schwarz und dunkel wirkten sie auf mich, und ich scheue die Erinnerung an diese Augen, bis heute in den Tod, der mich beharrlich in seinen düsteren Hallen gefangen hält!

Vor den eingeschossenen Toren der verlorenen Festung trat Salvatore vorsichtig durch den Matsch auf einen großen Mann zu und sprach kurz mit ihm, zeigte mit dem Gehstock Richtung Gemäuer. Dieser winkte daraufhin einem Panzer, der zehn Meter weiter hinten wartete und sogleich auf uns zusteuerte. Wir hörten, in der Decke über dem Esssaal eingeschlossen, wie der Panzer seine lange Kanone ausrichtete. Danach ertönte ein gleichmäßiges, aber schrilles Summen, ehe ein gewaltiger Knall erschallte und die Decke, in der wir unbeweglich kauerten, mit einem gewaltigen Grollen einstürzte. Wir fielen kreischend in den Esssaal hinunter – ich genau auf den toten General, der mir wohl das Leben rettete. Es hagelte Gesteinsbrocken aller Größen, die uns teilweise unter dem Geröll begruben. Der Kokainstaub vermischte sich mit dem Staub der einstürzenden Decke; es war mir nicht möglich, etwas zu sehen. Ich hielt mich am toten General fest, bis es vorbei war.

Insgesamt schoss der Panzer mehr als fünfmal, während ich in Gedanken immer wieder betete, wie es mir Schwester Lucia beigebracht hatte.

Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden. Unser tägliches Brot gib uns heute. Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.

Derweil wurde es ruhig, und ich richtete mich vorsichtig auf, beobachtete, wie sich der Staub um mich herum legte. Mir war schwindelig; ich fühlte mich trotz des Sturzes irgendwie gut. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.

Als sich der Staub zum großen Teil gelegt hatte und Lucias Körper wieder freigegeben wurde, erschrak ich dermaßen, dass ich kreischte, bis es mich selbst in den Ohren schmerzte. Lucias Rückgrat musste beim Aufprall gebrochen sein. Sie lag halb auf einem lädierten Tisch und halb auf dem Boden, völlig unnatürlich verdreht. Ich suchte durch den Staub Schwester Maselda, während ich schrie, dass mir beinahe das Trommelfell platzte. Überall Zerstörung, die ich durch einen seltsam matten Nebelschleier wahrnahm! Jetzt entdeckte ich Maselda endlich: mit eingeschlagenem Schädel, halb von Schutt verschüttet. Ihr noch vorhandenes Auge starrte grotesk nach oben. In ihrer rechten Hand hielt sie verkrampft die kleine Schnapsflasche, die fast leer war, umklammert.

Ich kann nicht mehr sagen, wie lange ich auf Morillias erstarrendem Leib hockte und mir die Lungen herausschrie; wie mir der bittere Saft die Kehle herunterlief und eine Spur kribbelige Betäubung hinterließ.

Auf jeden Fall stand da plötzlich mein Onkel am Rande des Gemäuers und starrte mich mit einem Gesicht an, das fast so weiß wie sein Anzug war, als hätte er einen Geist gesehen.

In dem Moment, als ich ihn entdeckte, verstummte ich.

Wir blickten uns einige Sekunden an – Auge in Auge – während sich seine Männer mit Maschinengewehren neben ihm aufstellten. Seine Augen schienen zu glühen, erst vor Mitleid, so empfand ich es, danach voller Kälte.

„Onkel“, wimmerte ich unsicher und streckte meine zerkratzten, an mehreren Stellen blutigen Arme nach ihm aus. Mein dreckiges Kleid raschelte leise zu meinen Bewegungen. „Onkel Salvatore?“

Salvatore zog stattdessen nur emotionslos seinen weißen Hut tiefer ins Gesicht, wohl damit er mir nicht mehr ins Angesicht blicken musste und gab trocken den Befehl, mich zu eliminieren!

Eliminieren, pah, dabei wusste ich nicht mal, was dieses blöde Wort bedeutete noch konnte ich es richtig aussprechen! Trotzdem, nennen wir es im Nachhinein den weiblichen Instinkt, sprang ich wie auf Kommando vom schlaffen Leib Morillias hoch, während die Männer auf mich feuerten, als wäre ich ein wildes Tier. Ich schlüpfte gehetzt, aber nicht in Panik, keine zwei Meter neben dem General unter ein großes Stück Gemäuer, welches zuvor von der Decke heruntergebrochen war. Ich weiß nicht, ob sie mich nicht treffen wollten oder nicht getroffen haben, weil sie schlecht im Zielen waren. Tatsache war, dass ich mich unter den Trümmern vor ihnen verstecken konnte. Ich zitterte am ganzen Leib, war überall zerkratzt und aufgeschürft. Die Wunden surrten angenehm, so als würden sie schlafen. Ich fühlte mich seltsam beschwingt, obschon ich Angst hatte.

Die paramilitärischen Einheiten von Salvatore suchten einige Stunden vergebens nach mir. Immer, wenn sie mir wieder zu nahe kamen, kroch ich tiefer unter die Trümmer. Irgendwann hörte ich sie nicht mehr und schlief erschöpft irgendwo unter dem einstmaligen Esssaal ein. Dabei träumte ich wirres Zeug, erwachte immer wieder in kalten Schweiß gebadet und döste darauf frierend sowie unruhig wieder ein.

Keine Ahnung, wie lange ich unter dem Schutt der einstigen Iglesia del Cielo geschlafen hatte. Nach meinen Schmerzen zu urteilen, musste es sehr lange gewesen sein! Ich versuchte langsam, unter den großen Trümmern hervorzukrabbeln. Alles tat mir weh: Meine Beine, meine Arme und mein Rücken, einfach alles. Trotzdem kroch ich in Gedanken bei meinen Qualen aus dem Versteck. Mir war schlecht, ich fühlte mich hundeelend. Als ich meinen schmutzigen Kopf aus den Trümmern streckte, erstarrte ich augenblicklich zu Stein.

Ein ausgewachsener Puma stierte mich schnurrend an, schnupperte an mir, ohne dass ich mich bewegen konnte.

In jenem Moment schoss nur ein einziger Gedanke durch meinen Kopf: Jetzt bin ich tot!

Aus seinem Maul, welches höchstens fünf Zentimeter von meinem Kopf entfernt war, drang ein fauliger Gestank zu mir herüber. Während ich kaum hörbar zu beten begann, leckte der Puma plötzlich über mein Gesicht.

Ich zuckte zusammen und schreckte sofort zurück, wollte mich panisch unter die Trümmer zurückziehen. Die Worte meines Onkels hämmerten in meinen Ohren, als stünde er leibhaftig neben mir! Sie sehen niedlich aus, doch der Schein trügt, bonita! Sie sind bekannt dafür, dass sie sich in unbeobachteten Augenblicken gerne Kinder holen, um sie dann an ihre Jungen zu verfüttern!

Da die Wildkatze mir aber nicht folgte, mir stattdessen nur nachglotzte, stockte ich mitten in der Bewegung.

Vielleicht hat mein Onkel gelogen! Ja, vielleicht … stimmt das mit den Kindern gar nicht! Die vorangegangenen Geschehnisse flammten in mir auf: Ich nahm allen Mut zusammen. „Bist du ein Geist?“, fragte ich nach einigem Zögern mit brüchiger Stimme, ohne meinen Blick von der Großkatze zu nehmen.

Der Puma starrte mich nur ruhig, beinahe schon bedächtig an. Er schnurrte friedlich; als es ihm mit mir zu langweilig wurde, ließ er sich auf dem Geröll nieder und leckte sein Fell.

Irgendwo in der Nähe hörte ich Affen herumtoben. Auch den Gesang der Vögel nahm ich wieder wahr; es beruhigte mich ein klein wenig. Ich starrte noch immer gebannt auf die Raubkatze, während unzählige Gedanken mein kleines Gehirn marterten. Die Übelkeit wurde schlimmer: Ich musste mich krampfhaft übergeben. Ich würgte bittere Magensäfte herauf, die mir dabei den Rachen verätzten. Schweiß tropfte mir von der Stirn, ich konnte nicht aufhören, zu würgen. Meine aufgeschürften Hände hielten sich verkrampft an den losen Steinen fest, die sie gerade fanden. Da konnte ich plötzlich deutliche Schritte nebst meinem Würgen hören, die von hinten näher kamen, und mein Herz schlug noch schneller. Onkel Salvatore! Dachte ich so erschrocken, dass ich aufhörte, zu würgen. Ich zog mich ein wenig unter die Trümmer zurück und lauschte einem kaum hörbaren Klatschen. Die Wildkatze reagierte nicht darauf, pflegte weiter ihr Fell, als wäre niemand sonst hier.

„Catori! Ito mi“, sprach eine männliche Stimme in einem mir fremden Akzent, und ich schrak wiederholt zusammen.

Ich verstand kein Wort davon, wusste nicht, ob sie an mich gerichtet waren. Aber Onkel Salvatore war es nicht, glaubte ich jedenfalls, obschon der Klang der Worte fast derselbe war.

Statt meiner schien die Großkatze die fremden Worte zu verstehen und erhob sich gemächlich von den Trümmern. Sie sperrte ihre Schnauze auf und ließ müde die Zunge herausrollen. Schließlich glotzte mich der Puma noch einmal schnurrend an, drehte sich um und verschwand aus meinem Blickfeld.

Ich lauschte steif den sich von mir entfernenden Schritten, dem matten Klatschen, welches immer schwächer wurde. In meiner Nase kitzelte es plötzlich; ich nieste ungewollt heraus. Worauf ich lautstark den Rotz aus meinen Nasenlöchern pusten musste. Es kitzelte noch immer; ich nieste wieder und wieder. Mir wurde dabei schwindelig, mir liefen Tränen aus den zusammengekniffenen Augen. Als der Niesanfall endlich vorbei war und ich meine Augen öffnete, guckte ich in das dunkle Gesicht eines Yukpa-Indios.

Er glotzte mich verdutzt an, ohne einen Ton von sich zu geben. Er besaß tiefliegende, dunkle Augen, ähnlich denen von General Morillias, mit einer Güte darin, wie ich sie bei Schwester Lucia gesehen hatte. Seine Lippen waren voll und fleischig, sie bewegten sich, als ich sie gebannt fixierte. „Mmmhh …, kann ich dir … helfen?“, fragte er mit etwas schleppendem Akzent, während hinter ihm der Puma auftauchte und neugierig zu mir herunterblickte. Sein Gesicht war groß, und irgendwie … flach, ebenso seine Nase. Der Indio streckte mir, nach einem Augenblick reiflichem Überlegens, helfend seine kräftigen Arme entgegen und hievte mich ohne Mühe aus den Trümmern heraus. Er achtete sehr darauf, mir dabei nicht weh zu tun.

Der Mann war riesig! Er stellte mich behutsam auf den Schutt neben die Großkatze und verneigte sich lächelnd vor mir. Er schob seine lederne Tasche, die er umgehängt hatte, hinter seinen Rücken, während er sich noch immer vor mir verneigt hielt. Die Sonne kroch gerade über die mächtigen Steilhänge der Ostkordilleren, als er erneut zu sprechen begann: „Ischo nem Tabbenoca!“, dabei nickte er und entblößte mir seine löchrigen Zähne. Sein schwarzes, langes Haar hing ihm ins Gesicht; er schob lachend eine Strähne beiseite. Danach wies er auf den Puma neben mir und meinte ernst werdend: „Catori! Catori!“, schließlich zeigte er zum Morgenhimmel hinauf, „Catori mmmhh, pa o`hah!“

Der Puma machte sich derweil unbekümmert daran, mein Erbrochenes zu fressen. Dabei schmatzte er zufrieden, blickte zu mir hoch und fraß weiter.

Der Indio zog seine Stirn kraus, als er registrierte, dass ich nicht reagierte.

„Mein Name ist Tabbenoca“, er zeigte auf den Puma, „das Catori! Catori … mmmhh heilig!“ Er beobachtete die Raubkatze einige Zeit, ehe er sich schmunzelnd dem unwirtlichen Gebirge zuwandte.

Gebrochenes Schweigen

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