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ОглавлениеCastillo de la Tolleda. Der alte Mann blickt sehnsüchtig aus dem gewölbten Fenster, während er umständlich eines seiner weiten Purpur-Gewänder mit antiken Verzierungen an den Ärmelenden an den Hüften zuschnürt. Erinnerungen längst vergangener Tage suchen ihn seit einiger Zeit anheim. Erinnerungen an eine glorreiche Epoche, in die er damals große Schande brachte.
Und trotzdem ist es eben diese Schande, die mich zu dem machte, was ich heute bin! Seine zittrigen Hände schieben den schweren rostroten Vorhang beiseite; er beobachtet, wie Faretti vom hauseigenen Butler zum Taxi im Innenhof des Castillo de la Tolleda gebracht wird.
Ich bin ein entseelter Strippenzieher, der die Menschen nach seiner Pfeife tanzen lässt, wie es mir beliebt! Habe jegliches Mitgefühl verloren, sehe nur noch meine Ziele vor Augen. Nickt er zittrig und hüstelt. Einen winzigen Augenblick tut es ihm beinahe Leid, wie er mit dem Italiener umspringt. Doch Melidas hat schon vor sehr langer Zeit gelernt, solche Anwandlungen von Mitgefühl im Keime zu ersticken, in dem er sich sofort wieder seinen Zielen widmet. Faretti wird in Berlin hoffentlich finden, was ich will! Heute werde ich Sofía mitteilen, dass sie nach Venezuela reisen wird. Er grinst lautlos in sich hinein.
Der pittoreske Hof ist von säuberlich gestutzten Olivenbäumen und Zypressen umgeben und grenzt ihn vom Garten und dem Steilhang weiter hinten ab.
So viele Ränke, nur um heimlich sterben zu können. Sein Atem ist hektisch und flach; es fällt ihm von Tag zu Tag schwerer, zu stehen. So lange alle nötigen Anstrengungen unternommen werden, um das Amulett und das Tagebuch zu finden, ist das Leben La Fraternitis in Ordnung; niemand sollte Verdacht schöpfen. Ich muss sie glauben lassen, ich wolle tausend Jahre alt werden! Nur um sicherzustellen, dass mein Vermächtnis … La Fraternitis weiter existiert. Ein heiseres Kichern dringt aus seiner trockenen Kehle.
„Bald ist es nicht mehr möglich, den Lebensfunken noch einmal zu schüren, darauf muss ich vorbereitet sein!“, flüstert er mit einem von Sehnsucht geprägten, inneren Drängen schwach zu sich selbst. Er kann das fremdartige Funkeln in dem einst geborgenen Gestein deutlich vor seinem geistigen Auge sehen, es drängt sich ihm förmlich auf.
„Dieses Mal nicht!“, hüstelt er stockend, „dafür werde ich Sorge tragen! Warum sonst sollte ich einen solchen Zirkus um den Verbleib des Amuletts und das Tagebuch veranstalten!“
Nur die Angelegenheit mit Faretti und Sofía bereitet mir Kopfzerbrechen. Aber wenn Faretti einmal aus dem Weg geschafft ist, kann mir niemand mehr in die Quere kommen. Auch wenn er es sich nicht bewusst ist, besitzt er nicht unerhebliche Informationen über meine heimlich gesponnenen Pläne. Wenn er diese Sofía offenbart, könnte sie beim inneren Zirkel intervenieren. Das darf auf keinen Fall geschehen!
Plötzlich klopft es zweimal hohl an der Tür: Sofía tritt ein und schließt die Tür hinter sich. Sie trägt eine schwarze Jeans und eine rosa Bluse. Ihr schwarzes Haar hat sie hochgesteckt, wie so oft.
„Señor Melidas“, begrüßt sie ihn knapp, verneigt sich und verharrt in der Haltung, bis sie angesprochen wird.
Der alte Mann dreht sich zu ihr um und macht eine wegwischende Handbewegung: „Schon gut, Sofía, komm zu mir!“
Ich muss auf der Hut vor ihr sein, sie hat einen ausgeprägten Sinn für geheime Dinge! Wenn sie Verdacht schöpft, fängt sie an, nach Beweisen zu suchen. Und Spuren gibt es immer irgendwelche!
Der Raum ist bis auf die Vorhänge, ein antikes Bett und einen alten Schreibtisch, die auf dem kalten Steinplattenboden stehen, leer. Dennoch wirkt das private Gemächer stets anmutig auf Sofía, und sie fragt sich, während sie auf ihren Patron zugeht, ob er selbst der Grund dafür ist.
Der Alte, der sie beobachtet, wie sie in Gedanken auf ihn zuschreitet, kichert abermals und nickt. Dann werde ich mal meine letzten Karten ausspielen!
„Du fragst dich, ob diese Gemäuer meine energetische Präsenz weitertragen, wenn ich nicht mehr bin, nicht wahr?“
Sofía bleibt nichts übrig, als zu bejahen. Wie macht er das bloß? Manchmal denke ich, ich bin ein offenes Buch in seinen Augen.
„Und, warum wir dieses Amulett nicht nachschmieden können?“, er breitet raschelnd seine Arme aus, „ein solch mächtiges Werkzeug wie La Fraternitis, und trotzdem gelingt es uns nicht! Selbst mit den bedeutendsten Kunstschmieden und Physikern erreichten wir bis anhin nichts, außer, dass es weitere Fragen aufgeworfen hat!“, seine Arme sinken, begleitet von dem raschelnden Geräusch seines Gewandes.
„Nun, so einfach ist das leider alles nicht. Obschon wir in Besitz des fremdartigen Gesteins sind, sind wir nicht in der Lage, das daraus gewonnene Metall so zu verarbeiten, dass es dieselbe Wirkung entfaltet wie das Original. Seit Jahrhunderten versuchen wir es unten in den Katakomben, aber bisher leider nur Fehlerfolge!“, schmatzt er, „trotzdem will ich noch nicht glauben, dass es schon so weit gekommen ist, dass ich sterben werde. Deshalb setzen wir auch immer noch sämtliche verfügbaren Kräfte ein, um es zu finden.“ Wieder schmatzt er einige Male. Abrupt fragt er gutgelaunt: „Magst du mit mir frühstücken, Sofía?“
„Ja, gerne“, erwidert sie zögerlich, sich an Faretti erinnernd, der auch heute mit ihr frühstücken wollte.
Ich hätte mich wirklich gerne mit ihm über meine Mutter unterhalten.
Sie folgt Melidas gedankenverloren in den Speisesaal.
Der Tisch ist wie jeden Morgen üppig mit Speisen gedeckt und würde für ein gutes Dutzend hungriger Bauarbeiter reichen. Doch nur der Alte und Sofía sitzen miteinander am langen Tisch und lassen sich vom glatzköpfigen Butler Hernando heißen Kaffee eingießen.
Nun ist es Zeit, dass ich meinen so lange vorbereiteten Schatz loswerde, damit sich aus der Raupe ein fähiger Schmetterling entfalten kann. Der alte Mann seufzt schweren Herzens. Es macht ihm mehr zu schaffen, als er zugeben will.
Leider bleibt mir keine andere Wahl! Die Wahrheit darf unter keinen Umständen ans Licht kommen, solange ich lebe! Keiner darf wissen, dass ich weiß, wo sich das Amulett und das Tagebuch befinden!
Sofía isst stumm ihr Frühstück und nippt am dampfenden Kaffee, ohne auf ihn zu achten. Sie ist mit sich selbst beschäftigt, mit dem tragischen Tod ihrer Mutter und dem Umstand, dass sie all die Jahre nicht versuchte, sie zu kontaktieren. Die einzige Möglichkeit, über sie mit jemandem zu sprechen, ist Faretti, und der befindet sich bereits auf dem Weg zum Flughafen.
„Der Grund, weshalb ich heute mit dir frühstücken wollte“, bricht der Alte das Schweigen am Tisch, „ist, dass ich möchte, dass du nach Venezuela reist.“
Sofía schaut überrascht auf, direkt in seine leuchtend grünen Augen. Was? Was soll ich dort?
Als hätte er ihre Gedanken gelesen, antwortet er: „Ich möchte, dass du die Hacienda der Familie Ortiz aufsuchst. Wenn jemand etwas über die Kraft des Amuletts weiß, dann du. Außerdem wirst du seine Gegenwart spüren, da bin ich mir sicher!“, kichert er, „schließlich fließt ein Teil von seiner einmaligen Kraft durch deine Adern, mein Kind!“
Ihre Gedanken schießen ihr wie Pfeile durch den Kopf und martern sie. Sie ist nicht in der Lage, etwas zu erwidern, glotzt nur in das runzelige Gesicht ihres greisen Mentors.
„Ich will, dass du morgen früh mit dem Privatjet nach Maracaibo fliegst und dich auf die Suche begibst!“ Der Alte schließt seine hutzligen Lider. „Mach dir keine Sorgen, La Fraternitis ist überall, dir wird nichts geschehen!“ Er tupft mit seiner Serviette seine hängenden Mundwinkel ab und steht umständlich auf.
„Fürchte nie deine Vergangenheit, Sofía!“, kichert er mit heiserer Stimme und schlurft auf sie zu. „Es ist immer der Weg in die Zukunft! Glaube mir ruhig, ich weiß, wovon ich spreche. Schau mich an!“, zeigt er zittrig gestikulierend auf sich, „ich bin total verknittert und bestehe nur noch aus Haut und Knochen. Meine Kleidung wirkt heute eher grotesk als erhaben!“, konstatiert er nickend, und auf seiner hohen Stirn bilden sich noch mehr Falten, als er sie sowieso schon sein Eigen nennt.
„Es gelang mir wohl, die Aussprache der heutigen Zeit anzupassen, aber mit der modernen Kleidung tue ich mich schwer … Sie zwickt mich immer so, vor allem diese … Shorts.“ Er entblößt seine gelblichen Zähne und kichert erneut: „Aber ich komme vom Thema ab … mmmhh, äh … Peinlicherweise ist mir gerade entfallen, was ich dir eben mitteilen wollte!“ Er schmatzt überlegend, verdreht seine blutunterlaufenen Augen und schmatzt wieder. Dann zuckt er mit den Schultern, „ich sollte wohl mehr Vitamine zu mir nehmen, was meinst du?“
Sofía lächelt verkrampft und wird gleich wieder ernst: „Darf ich offen sprechen?“
„Natürlich, mein Kind.“
„Sie verheimlichen mir irgendwas, ich spüre es ganz deutlich.
Laut Farettis Aussage befindet sich das Amulett in Berlin, nicht in Venezuela!“ Ihre Blicke treffen sich, ohne dass einer wegschaut. Sofía hebt herausfordernd das Kinn. Sie presst ihre Lippen aufeinander. „Stimmt´s?“
Melidas saugt nachdenklich an seiner Unterlippe. Einen Moment ist er gar versucht, ihr alles zu beichten und einen kläglichen Versuch zu starten, es ihr zu erklären!
Ich will endlich sterben! Ich habe endgültig genug von diesem Leben, von der immerzu gleichen Leier! Aber wie erkläre ich das jemandem, der nicht mal einen Zehntel der Zeitspanne lebt, wie ich es tue? Er holt Luft, „Sie verheimlichen mir irgendwas“, äfft er sie nach und schüttelt entrüstet den Kopf, „absurd! Ich wünsche, dass du nach Venezuela reist und dort nach dem Amulett suchst, mein Kind. Wir müssen jede Möglichkeit in Erwägung ziehen, auch die, dass deine Mutter das Amulett in Venezuela liegen gelassen hat!“
Stellen neuerdings alle meine Befehle infrage? Ein neuer Trend, den ich verschlafen habe?
„Wenn es Ihr unabdingbarer Wunsch ist“, entgegnet sie reserviert, „so werde ich selbstverständlich gehorchen, Señor Melidas!“, sie deutet eine Verneigung an.
„Ja, ist es! Hier habe ich im Augenblick keine Verwendung für dich“, winkt er brüsk ab. Er gibt ihr damit zu verstehen, dass das Thema beendet ist.
Sofía legt den Kopf schief und mustert ihn nachdenklich.
„Weshalb haben wir das Amulett schon wieder verloren?“, sie streckt sich, schiebt eine Haarsträhne hinters rechte Ohr, „ich meine, wie konnte es überhaupt dazu kommen?“
„Das habe ich dir schon unzählige Male erläutert, mein Kind! In den Wirren der Bürgerkriege in Lateinamerika nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es geraubt! Es wurden nie Forderungen oder dergleichen gestellt, weshalb ich vermute, dass es damals dem Militär in die Hände fiel und sich heute möglicherweise in Privatbesitz befindet.“
„Und Sie schicken mich nach Venezuela, weil …“, sie zuckt die Achseln und starrt ihn provokativ an, „… weil Sie … was?“
„Weil, mhm“, Melidas macht eine wegwerfende Handbewegung, „warum glauben neuerdings alle, sie können meine Anweisungen anzweifeln oder gar ignorieren, mhm?“ Er stakst um den Tisch herum auf sie zu, „das muss aufhören, klar?“
Sie nickt nur, ohne darauf zu antworten.
„Du begibst dich nach Venezuela, ohne Widerrede! Verstanden?“
Sie senkt demütig ihr Haupt und antwortet leise: „Ja, verstanden, Señor Melidas.“
Faretti sitzt im Taxi, das ihn zum nicht weit entfernten Aeropuerto Internacional el Prat de Barcelona bringt.
Bin ich froh, dass ich hier weg kann! Bis jetzt verläuft alles, so wie ich es plante! Er schaut gähnend zurück, beobachtet, wie der Hauptsitz von La Fraternitis rasch kleiner wird. Er ist hundemüde, weil er sich die ganze Nacht über den Kopf zerbrach: Über sein bisheriges Leben, die verzwickte Situation, über die Nachricht an Sofía, das Gespräch mit dem Alten, sogar über La Fraternitis und deren Zweckmäßigkeit.
Als er mir am Ende unseres Gesprächs mitteilte, dass ich meine Finger von Sofía lasse solle, hätte er mir da nicht verbieten müssen, mit ihr über ihre Mutter, ihre Tochter zu sprechen? Stattdessen mahnt er mich, meine Finger von ihr zu lassen! Schüttelt er langsam den Kopf. Als hätte er uns lediglich gesehen, aber nicht gehört! Sinniert er und gähnt, bis seine Kiefer laut knacken. So viel Kohle, aber keinen Ton! Versteh den Alten, wer will, ich tu es nicht!
Das Taxi durchquert gerade den alten Stadtteil Ciutat Vella; er guckt noch etwas verschlafen aus dem Fenster, registriert, wie das Viertel langsam zum Leben erwacht. Faretti lässt das Gespräch mit Sofía gestern, noch einmal bildlich Revue passieren, einfach ohne Ton.
Er fühlt sich beobachtet. An sich nichts Besonderes, bis auf das Phänomen, dass es sich bei den Beobachtern um die Loge selbst handelt; um den Gründer La Fraternitis, den Mann, der ihn vor vielen Jahren unter seine Fittiche nahm, ihm indirekt beibrachte, was er heute weiß und kann – mehr oder weniger.
Eben das macht die ganze Sache so kompliziert. Ich komme mir vor, als wäre ich in einem falschen Film! Ich hoffe nur, dass Sofía meine Nachricht findet und sie auch richtig entschlüsselt. Mit ihren Kenntnissen über Binärcodes sollte sie es eigentlich schnell encodiert haben. Und viel ist es nicht! Bald werde ich es wissen, entweder sie ruft mich an, oder nicht, und ich weiß, dass es ein Scheißplan war!
Die Altstadt zieht an ihm vorbei, während das Taxi abbiegt.
Ein anderes Taxi folgt ihm tatsächlich. Er späht flüchtig nach hinten. Hier gibt es Taxis wie Sand am Meer, es könnte ein Schatten von La Fraternitis sein oder auch nicht! Sein Blick wandert zum Seitenfenster; er lässt die Gebäude, Läden und alten Häuser auf sich wirken. Er versucht, die erdrückenden Gedanken beiseite zu schieben – wenigstens eine kurze Weile, dabei nagt er nervös an der Unterlippe.
Ich mag diesen mittelalterlichen, gotischen Baustil der Altstadt. Das bringt mich auf einen anderen Gedanken: Hier muss irgendwo die Sagrada Familia sein, die unvollständige Kathedrale, welche von Antoni Gaudi konzipiert wurde. Nun komme ich schon so viele Jahre nach Katalonien und habe es noch nicht einmal geschafft, sie zu besuchen. Ich bin früh genug dran, vielleicht könnte ich …
„Entschuldigen Sie bitte?“, spricht er den Taxifahrer an, der nur kurz den Kopf zu ihm nach hinten dreht, um den Verkehr nicht aus den Augen zu verlieren.
„Ist es möglich, dass Sie mich erst noch zur Sagrada Familia bringen?“
„Wenn Sie bezahlen, ist alles möglich, Señor. Allerdings muss ich dann ein ganzes Stück zurückfahren.“
„Das ist schon in Ordnung.“
Dann weiß ich schon einmal, ob ich beschattet werde! Sobald ich am Flughafen angekommen bin, setze ich mich mit meinen Kontakten in Berlin in Verbindung. Ich brauche eine neue Identität und ein Konto auf den neuen Namen.
„Also ist Ihr nächstes Ziel die Sagrada Familia?“
„Ja.“
Das Taxi lenkt kurze Zeit später in die Schnellstraße ein, und der Wagen beschleunigt rasant. Die Häuser ziehen wieder an ihm vorbei, während er in Gedanken nach Venezuela und zu Sofía abschweift. Zwischendurch späht er nach hinten.
Das Taxi folgt ihnen noch immer.