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5. Der Traum von der Brüderlichkeit

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Im alten Rom pflegten die Matronen ihre Handarbeit zum Kolosseum und den Gladiatorenspielen mitzunehmen und dort lange Stunden mit ihren Vettern und Basen zu verplaudern, während die christlichen Märtyrer in die Arena geworfen wurden und mit Bestien, deren wilde Gier man durch tagelange Nahrungsentziehung gesteigert hatte, um ihr Leben kämpften. Auch die Kinder wurden mitgenommen, um Zeugen dieser schrecklichen Schauspiele zu sein; sie klatschten entzückt in die Hände, während ihre Mütter mit wollüstiger Freude sich an dem Todeskampf der christlichen Blutzeugen weideten, die von den Ungeheuern in Stücke gerissen wurden.

Nero ließ oft einen seinem goldenen Palast gegenüberliegenden See mit lebendigen Fackeln beleuchten, die aus zusammengebundenen und mit Teer bestrichenen Christen hergestellt waren. Es war ein weit verbreiteter Brauch, kranke oder verkrüppelte Kinder auf verlassenen Orten auszusetzen, wo sie dem Hungertod oder den wilden Tieren preisgegeben wurden. Ebenso grausam verfuhr man mit Greisen, die infolge Altersschwäche dienstunfähig geworden waren.

Trotzdem die ganze Macht des römischen Weltreichs gegen die Christen aufgeboten wurde, fuhren sie fort, das Evangelium zu predigen und das Werk Christi weiterzuführen. Und siehe, trotz aller Verfolgung, trotz Marter und Kreuzespfahl, wirkte langsam, aber sicher der Sauerteig der christlichen Lehre, bis schließlich das ehemals stockheidnische Rom der Mittelpunkt der Christenheit wurde. Heute birgt es eine unübersehbare Fülle christlicher Denkmäler.

Aber was ist zu sagen zu den Verfolgungen, die im Namen der Christenheit verhängt werden? Was zu den Greueln des Weltkriegs? Zu den unaussprechlichen Grausamkeiten und Barbareien, welche sogenannte Christen verüben? Die Antwort lautet dahin, daß trotz all dieser Untaten des Kriegs der Sauerteig der Liebe still weiterschafft.

Ein Augenzeuge, der die europäischen Schlachtfelder besucht hat, sagt: „Du siehst die Hölle weit offen auf dem Kampfplatz, aber der Himmel ist's nicht minder. Dieses Heldentum, diese Ausdauer, Hingabe, Freudigkeit auch im schwersten Leiden, die Bereitwilligkeit, das Leben zu opfern, um einen Kameraden zu retten, das sind alles Tugenden, die mehr bedeuten und höher zu bewerten sind als die Erfüllung der unmittelbaren militärischen Dienstpflichten.“ Ein anderer sagt: „Wahres Christentum zeigt sich auf dem Schlachtfeld in wunderbarer Vollendung. Das Schlachtfeld wird zum Schauplatz der Liebe.“

Obschon der große europäische Krieg der grauenhafteste der Weltgeschichte ist, so fehlt es doch nirgends an Beweisen für die fortdauernde Wirkung und Herrschaft der Liebe. Die selbstloseste Hingabe beseelt das große Heer der Helfer und Helferinnen des Roten Kreuzes, die ohne Ansehen der Volks- oder Kirchen-Zugehörigkeit, der Rassen- oder Standesunterschiede alle verwundeten Soldaten auf den Kampfplätzen der ganzen Welt als Brüder behandeln, indem sie ihnen die Wunden verbinden und durch ihre Pflege Gesundheit und Leben wieder schenken.

Wie oft kommt es vor, daß Soldaten verschiedener Nationen, die in der Schlacht grimmige Feinde waren und auf jede Weise einander nach dem Leben trachteten, Seite an Seite im Lazarett herausfinden, daß sie in Wirklichkeit eins sind in ihren Gefühlen und Empfindungen, Brüder dem Herzen nach, ohne daß sie es vorher wußten. Fern von der Stätte des Hasses und Blutvergießens schließen sie Freund- und Bruderschaft fürs Leben.

Pessimisten erblicken in dem Krieg nur die Vernichtung der Zivilisation und die Loslassung aller Dämonen des Hasses. Aber die Liebe ist stärker als der Haß und erzeugt Leben selbst aus dem Tod. Sogar auf dem Schlachtfeld streut sie die Saat eines neuen großen Lebens aus, das alles, was die Welt bisher gesehen, in Schatten stellt.

Nie seit Menschengedenken ist der Wahlspruch der französischen Revolution „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ so Allgemeingut der Menschheit geworden wie während des Weltkriegs. Das große Unglück hob alle Klassen- und Parteiunterschiede auf. Die scharfen sozialen, religiösen und politischen Grenzlinien, die vorher in den kriegführenden Ländern gezogen waren, verschwanden an vielen Orten. Die gemeinsame Not brachte die Menschen einander näher. Männer und Frauen aller Stände und Parteien wirkten zusammen auf das eine Endziel hin.

Vornehme Familien nahmen Kriegswitwen und -waisen bei sich auf. Damen von Rang und Stand verrichteten die niedrigsten Dienste der Krankenpflege, stellten sich in den Dienst der niederen und höheren Schule, arbeiteten auf kaufmännischen und behördlichen Schreibstuben und lenkten den Kraftwagen oder die Straßenbahn. In Deutschland sind Frauen, vorher an keine Art von Arbeit gewöhnt, freudig an die Stelle ihrer Männer getreten, als diese dem Ruf des Vaterlandes zu den Waffen folgten, und haben, auch als infolge der Absperrung unserer Aus- und Einfuhr die Schwierigkeiten sich bergehoch vor ihnen auftürmten, mit unerschütterlicher Treue standgehalten. Ähnliches liest man auch von anderen Ländern, die in das Völkerringen verwickelt waren.

Hoffen wir, daß die von der Liebe und dem Geist der Brüderlichkeit aufgehobenen Schranken nie wieder errichtet werden; daß der Friede — wenn er einmal wirklich seinen Einzug hält — eine Wiedergeburt der Völker auf neuer Grundlage bringen wird.

Ein denkwürdiger Vorgang hat sich in den Vereinigten Staaten am 21. Juli 1911, fünfzig Jahre nach der Schlacht bei Bull Run, zugetragen. Die Überlebenden der blauen und der grauen Armee kamen zusammen und begruben den letzten Rest feindlicher Absonderung, der aus den Tagen des Bürgerkriegs noch vorhanden war und die Beziehungen zwischen den Nord- und Südstaaten beschattete. „Die Veteranen stellten sich in Reih und Glied auf und marschierten auf der Heinrichshöhe gegeneinander, wobei sie die Gefechtsbewegungen, die sie vor fünfzig Jahren auszuführen gehabt hatten, wiederholten. Als die beiden langen Linien sich trafen, machten sie Halt und reichten sich die Hände. Ein mächtiger Jubelruf erdröhnte, und manchem alten Graubart rollten die Tränen über die Wange herab.“

Es mag lange dauern, bis die Wunden, die der Weltkrieg geschlagen, vernarbt und all die Greuel, die verübt wurden, aus dem Gedächtnis ausgewischt sind; aber der Tag wird kommen, wo alle Nationen sich brüderlich die Hand reichen und zum Besten der ganzen Welt zusammenwirken. Der Haß wird der Liebe weichen, und die Liebe wird allen Streit und Krieg, alle Rache, Selbstsucht und Raubgier aus der Welt verbannen. Jahrhundertelang haben die Menschen es mit dem Haß, dem Krieg und dem Blutvergießen versucht — umsonst; denn mit Gewalt ist noch nie etwas ausgerichtet worden. Im zwanzigsten Jahrhundert ist kein Platz mehr für Staatslenker oder Völker, die eine Säbelherrschaft gründen wollen. In unserem Zeitalter bedeutet Friede so viel wie Fortschritt.

Eine hochstehende Frau, die viele Jahre lang zusammen mit ihrem Gemahl für humanitäre Zwecke tätig war, hatte einst einen merkwürdigen Traum von einem neuen Zeitalter, das für die Menschheit anbrach. Sie erzählte ihn folgendermaßen:

„Mir träumte einst von dem Kommen einer neuen Zeit, in der Männer und Frauen gleicherweise und mit vereinten Kräften kämpfen für die Emporhebung des Menschengeschlechts und die Befreiung der Welt von allem Übel. Ich sah die Menschenkinder aller Himmelsstriche wie die Bienen arbeiten, um die Wurzeln der Übel, womit die menschliche Gesellschaft behaftet ist, bloßzulegen und das ganze Gewebe des Lasters und Elends zu enthüllen; aber auch um die besten Heilmittel gegen all diese Übel und Leiden zu entdecken.

Da erschien plötzlich ein neues, wunderbares, alles durchdringendes Licht, dessen Glanz mit menschlichen Worten sich nicht beschreiben läßt — das Licht einer neugeborenen Hoffnung und Liebesflamme. Die Quelle dieses Lichts war menschliche Anstrengung — das unsterbliche Ringen und Schaffen von Tausenden und Abertausenden von Männern und Frauen. Ich sah sie alle, Seite an Seite, Schulter an Schulter, erfüllt von demselben unwiderruflichen Vorsatz, jedes Antlitz zu erleuchten mit einem Glanz, der nicht von dieser Welt stammt. Alle stürmten auf ein gemeinsames Ziel los, alle strebten danach, einem und demselben Feind den Fuß auf den Nacken zu setzen, ein und dasselbe unvergängliche Gut zu erringen.

Und dann kam der Sieg. Alles Übel war von der Erde verschwunden. Alles Elend ausgemerzt. Die Menschheit war erlöst und gerüstet, um in ein neues Zeitalter menschlichen Verstehens, allumfassenden Mitgefühls und ewig dienstbereiter Hilfe einzutreten: das Zeitalter des unzerstörbaren Friedens und der vollkommenen Liebe, die alles Denken übersteigt.“

Das ist der Traum von Jahrtausenden, die Hoffnung des Menschen seit dem Sündenfall; und jedes Jahrhundert, jedes Jahr bringt uns seiner Erfüllung näher. Trotz widersprechenden Erfahrungen und so vielen offenkundigen Übeln in unsrer Mitte, trotz so manchen Rückfällen und Entmutigungen gewinnt der Geist Christi, der Geist der menschlichen Brüderlichkeit, langsam an Boden und durchdringt die Massen. Die Nächstenliebe hat in den letzten 25 Jahren größere Fortschritte gemacht als in den vorangehenden zwei Jahrhunderten. Das tritt uns auf allen Gebieten des Lebens entgegen. Wir sehen es daran, daß Männer und Frauen überall ihren weniger glücklichen Mitmenschen ein lebhafteres Interesse, eine wärmere Teilnahme zuwenden. In allen Teilen der zivilisierten Welt erfahren die Armen und Kranken, die Alten und Gebrechlichen, die Zerschlagenen und Verstoßenen, die Gefallenen und Verbrecher eine menschenwürdigere und freundlichere Behandlung als jemals zuvor in der Geschichte der Menschheit.

Man denke bloß an die Fortschritte in der Behandlung der Irrsinnigen. Es ist nicht allzulange her, daß diese Unglücklichen in der unmenschlichsten Weise mißhandelt, in Ketten gelegt, geschlagen, gepeitscht und auf alle mögliche Weise mißbraucht wurden, als hätten sie keinerlei Anspruch auf unsere Liebe und Teilnahme.

Ebenso sind auf dem Gebiet der Gefangenenfürsorge bemerkenswerte Fortschritte erzielt worden. In alten Zeiten wurden die Verbrecher in barbarischer Weise gezüchtigt — man riß ihnen die Ohren aus, brannte ihnen mit glühenden Zangen die Augen aus, verstümmelte ihre Körper mittelst der Folterwerkzeuge und Daumenschrauben, riß ihnen buchstäblich Arme und Beine aus und tötete sie langsam in grausamen, oft tagelangen Marterqualen.

Der Krieg hat leider oft und viel die niedersten Triebe — Grausamkeit, Mordlust und Blutdurst — entfesselt und die Menschen in reißende Tiere verwandelt. Insbesondere werden aus Gefangenenlagern Greuel und Grausamkeiten berichtet, die jeder Kultur, Zivilisation und Humanität — den hochklingenden Schlagwörtern unseres „überfeinerten“ Zeitalters — Hohn sprechen; Untaten, die um so abstoßender und unmenschlicher sind, als sie nicht an strafwürdigen Unholden, sondern an Männern verübt wurden, deren einziges Verbrechen darin bestand, daß sie ihr Vaterland mit den Waffen verteidigt haben. Aber abgesehen von diesen Kriegsgreueln trägt heutzutage in vielen unserer Gefängnisse die freundliche und besonnene Behandlung, die an Stelle des alten unmenschlichen Systems „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ getreten ist, tatsächlich dazu bei, den Verbrecher zu bessern und ihn wieder zu einem brauchbaren Glied der menschlichen Gesellschaft zu machen. Derartige Bestrebungen stammen — in der Theorie wenigstens — schon aus dem 18. Jahrhundert. Damals lehrte J. J. Rousseau, daß der Mensch von Natur gut sei und nur durch die Berührung mit der Kultur und der menschlichen Gesellschaft verdorben werde. Auf dieser Grundlage selbständig weiterbauend suchte J. H. Pestalozzi, von edelster und uneigennützigster Menschenliebe getrieben (vgl. Kap. 6), in seinem Dorfroman „Lienhard und Gertrud“ sowie in einer gleichzeitig veröffentlichten Schrift über „Gesetzgebung und Kindermord“ nachzuweisen, daß die Gesellschaft die Hauptschuld am Verbrechen trage und die Behandlung der Strafgefangenen dahin zielen müsse, sie für das soziale Leben wieder brauchbar zu machen. Das alte System tötete oder quälte die Gefangenen, brach ihren Geist und verhärtete ihr Verbrechergemüt. Selten, wenn überhaupt einmal, besserte es. Das neue System will den Missetäter dahin bringen, daß er seine Verfehlungen erkennt und wieder gutzumachen sucht.

Die Liebe lehrt uns das Verbrechen zu behandeln, wie Christus die Sünde behandelte, nämlich als eine Krankheit, die mit dem Balsam der verzeihenden Barmherzigkeit statt mit brutalem Dreinschlagen geheilt werden muß. Letzten Endes aber wird die Liebe nicht bloß das alte grausame Verfahren der Sträflingsbehandlung, sondern das Verbrechen selbst aus der Welt schaffen. Denn wenn die Menschheit sich nach dem höchsten Sittengesetz regieren läßt, so wird die Versuchung zum Fehltritt allmählich aufhören und das Laster eines natürlichen Todes sterben.

Die Ungerechtigkeit und Ungleichheit, die immer noch besteht und von der Gier nach Reichtum und Macht genährt wird, ist großenteils schuld an dem Verbrechen und dem menschlichen Elend. Wenn einmal die Gerechtigkeit regiert und jeder Mensch die gleiche Möglichkeit hat vorwärtszukommen wie sein Nebenmensch, dann werden Schulen und Arbeitsgemeinschaften an die Stelle der Gefängnisse und Armenhäuser treten.

Die Hoffnung des Menschengeschlechts auf eine bessere Zukunft beruht auf der allgemeinen Durchführung der goldenen Regel des Sittengesetzes. Die eine kurze Zeitspanne im Jahr, da fast allgemein seine praktische Anwendung versucht wird, gibt uns einen schwachen Begriff davon, wie eine nach diesem Gesetz gelenkte Welt beschaffen wäre.

Um die Weihnachtszeit können wir nämlich beobachten, wie manchmal selbst die schmutzigsten und gemeinsten Geizhälse, die unerbittlichsten Halsabschneider, die selbstsüchtigsten und verschlossensten Herzen, erfaßt von dem Geist des Wortes „an den Menschen ein Wohlgefallen“, edelmütige Impulse in sich spüren. Mögen sie auch das ganze Jahr hindurch ihre Verschlagenheit und ihren Scharfsinn aufbieten, um den andern zu übervorteilen und selbst ein gutes Geschäft zu machen; mögen sie sonst auch noch so eigennützig, kaltherzig und gleichgültig gegenüber den Leiden und Drangsalen ihrer Mitmenschen sein, an diesem einen Tag zeigen sie Spuren von Freundlichkeit, Dienstfertigkeit und Großmut. Am Weihnachtstag erwachen Herzen, die tot waren, zu neuem Leben. Die Welt kommt der Glückseligkeit näher als in den übrigen 364 Tagen.

Warum? Weil der Traum der Brüderlichkeit in Erfüllung geht.

Welch ungeheuren Fortschritt würde es bedeuten, wenn es dahin käme, daß der Weihnachtsgeist der Brüderlichkeit sich das ganze Jahr hindurch betätigte! Könnte jeder von uns sich dazu aufraffen, andern gegenüber zu handeln, wie er wünscht, daß man ihm gegenüber handle, so würde dieser Traum bald zur Wahrheit werden.

Der Weg der Liebe

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