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7. Die Kraft wächst am Widerstand

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Napoleon erzählt von seinem großen General Massena, er habe sich bei Schlachten stets zurückgehalten, bis sich Verwundete und Tote um ihn häuften; dann erst sei der Löwe in ihm erwacht, und er habe wie der Teufel dreingeschlagen.

Viele Naturen entdecken ihre wahre Kraft und finden sich selbst nicht eher, als bis sie Widerstand und Misserfolge erleben. Die Quelle ihrer Kraft liegt so tief in ihnen verborgen, dass das gewöhnliche Leben sie gar nicht berührt. Werden solche Menschen aber von andern lächerlich gemacht, verspottet, hintergangen und beleidigt, dann scheint eine neue Kraft in ihnen zu erstehen, und sie vollbringen Dinge, die ihnen vorher niemand zugetraut hätte.

Drückende Verhältnisse, verzweifelte Umstände, Armut und Entbehrungen haben oft die größten Menschen herangebildet. Napoleon war nie so ruhig und sicher, nie so sehr im Vollbesitz seiner Geisteskräfte und seiner Feldherrngaben, als zuzeiten, wo seine Lage schwierig, ja verzweifelt schien. Bei vielen Menschen bedarf es einer schweren Krise, einer großen Not, damit ihr inneres Feuer sich entzündet.

Ein ausgezeichneter Geschäftsmann sagt mir, dass er in seiner langen Laufbahn jeden Sieg nur hartem Kampf verdanke, und dass ihm daher ein leicht erreichter Erfolg geradezu unbehaglich sei. Er habe das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt, wenn er eine wichtige Sache ohne Mühe durchsetzt. Sich seinen Weg erobern, Hindernisse und Schwierigkeiten aller Art überwinden, das ist seine Hauptfreude. Schwierigkeiten sind ihm ein Stärkungsmittel. Er liebt sie, weil er an ihnen seine Kraft, seine Gaben und Fähigkeiten erproben kann. Leichte Arbeit dagegen hat keinen Reiz für ihn, weil sie in ihm nicht die innere Freude und Befriedigung auslöst, die man nach siegreichem Kampf empfindet.

Ich kannte einen jungen Mann, der sich als Student selbst durchbringen musste und so arm war, dass die wohlhabenderen jungen Leute sich über ihn lustig machten. Sie hänselten ihn ständig wegen seiner kurzen Hosen, seiner ausgewachsenen Röcke und wegen seines ganzen schäbigen Äußeren. Ihre Bemerkungen verletzten ihn so sehr, dass er sich schwor, nicht nur keinen Anlass zum Spott mehr zu geben, sondern sich eine einflussreiche Stellung in der Welt zu erringen.

Dieser selbe junge Mann hat es denn auch sehr weit gebracht, und er betont immer wieder, dass gerade die Dornen auf seinem Weg, der Spott, mit dem er als Student überhäuft wurde, seinen Ehrgeiz, weiterzukommen, stets von neuem anstachelten.

Gerade durch diese verzweifelte Anstrengung, etwas zu leisten, was der Mühe wert ist, werden unsre verborgenen Kräfte ans Licht gebracht und entwickelt. Ohne diesen Kampf würden viele Menschen ihre wahren Fähigkeiten nie entdeckt haben.

Wäre Lincoln in einem Herrenhaus geboren und auf die Universität gegangen, wäre er wahrscheinlich nie Präsident geworden und wäre nicht zu der geschichtlichen Größe geworden, die er ist. Denn dann hätte er wahrscheinlich nie so sehr alle seine Kräfte angespannt, wie er es tat, um sich aus seiner gedrückten Lage zu befreien und sich emporzuarbeiten. Der heldenhafte Kampf mit niedrigen Umständen war es, der den Riesen aus ihm machte.

Der Mensch ist von Natur träge. Wir tun alles aus gewissen Beweggründen, und die Stärke dieser Beweggründe bestimmt den Erfolg unsrer Mühe.

Viele Menschen verdanken alles, was sie sind, dem Umstand, dass die Natur sie in irgendetwas zu kurz kommen ließ und sie dadurch ständig anspornte. Wo das Kapital ihrer Fähigkeiten unter gewöhnlichen Verhältnissen höchstens fünfundzwanzig Prozent Zinsen getragen hätte, haben sie es, dank diesem ungeheuren Ansporn, fertiggebracht, fünfundsiebzig Prozent herauszuschlagen.

So oft ein Beweggrund recht kräftig, eine Not recht dringend, eine Verantwortung recht drückend ist, öffnen sich in uns verborgene Quellen der Kraft, und wir nehmen alle Hindernisse im Sturm.

Die Geschichte hat unzählige Beispiele dafür, wie Menschen, die körperlich irgendwie behindert und benachteiligt waren, in ihrem Ringen, es zu überwinden, ganz wunderbare Eigenschaften entwickelt und herrliche Leistungen vollbracht haben. So manches Mädchen, das sich seiner äußeren Reizlosigkeit, ja Hässlichkeit bewusst war, nahm all ihre Kraft zusammen, um darüber wegzukommen und diesen Nachteil durch andre Vorzüge auszugleichen; sie entwickelte Fähigkeiten, brachte Leistungen zustande, die sie nie erreicht hätte ohne den Entschluss, ihre äußeren Mängel zu überwinden.

Von einem bekannten Engländer, der ohne Arme und Beine zur Welt gekommen war, erzählt man sich, dass er einst einen neugierigen Besucher, der sehen wollte, wie er äße und sich bewegte, so fesselte durch seinen glänzenden Verstand und seine Redegabe, dass dieser den eigentlichen Zweck seines Besuchs ganz vergaß.

Wenn es vielen nicht gelingt, körperliche Behinderungen zu überwinden, so zeigt das nur, wie wenige von uns sich hier selbst entdecken und ihre besten, größten Eigenschaften entwickeln. Wir haben ja keine Ahnung von dem Reichtum und der Schönheit unsres inneren Menschen und sterben, ohne ihn auch nur annähernd entdeckt zu haben.

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