Читать книгу Nach Höherem streben - Orison Swett Marden - Страница 17
12. Das allbeherrschende Ziel
ОглавлениеWenn Wasser Dampf bilden soll, so muss es erst auf hundert Grad erhitzt sein. Neunzig Grad genügen nicht, auch nicht neunundneunzig – genau hundert müssen es sein. Das Wasser muss sieden, wenn es Dampf erzeugen soll, der eine Maschine treibt oder einen Eisenbahnzug in Bewegung setzt. Wasser, das noch nicht siedet, laues Wasser, setzt überhaupt nichts in Bewegung.
Es gibt nur zu viele Menschen, die den Eisenbahnzug ihres Lebens mit lauwarmem Wasser in Bewegung setzen wollen, oder mit Wasser, das „beinahe“ siedet – und sich dann wundern, warum es nicht vorwärts geht. Sie versuchen, den Kolben einer Maschine mit Wasser von neunzig oder neunundneunzig Grad zu bewegen, und begreifen nicht, warum das nicht gehen will.
Wenn ein Mensch lau in seiner Arbeit ist, so kann es nicht wohl anders gehen, als wenn das Wasser im Kessel der Maschine lau ist. Du kannst unmöglich glauben, dass du etwas Großes in der Welt vollbringen wirst, wenn du nicht mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft bei der Sache bist.
Es ist nicht genug, wenn man bloß wünscht, etwas Rechtes zu werden. Es gibt nur einen Weg, dies zu erreichen: wenn man mit der ganzen Kraft, die man aufwenden kann, danach ringt. Wünschen kann jeder, auch der Schwächling, aber nur ein kraftvoller Wille mit energischer Zielsetzung erreicht etwas.
Jedes kraftvolle Leben muss ein allbeherrschendes Ziel haben, das allem andern vorgeht und sich so gebieterisch in den Vordergrund aller Bestrebungen stellt, dass nichts neben ihm aufkommt. Wo das fehlt, da erreicht das Wasser der Energie nirgends den Siedepunkt und der Zug des Lebens bewegt sich nicht von der Stelle.
Ein Mensch mit einer solchen Zielstrebigkeit ist eine schaffende und aufbauende Kraft. Niemand kann eigenartig, erfinderisch oder schöpferisch sein ohne starke innere Sammlung; aber seinen Geist mit gesammelter Kraft auf einen Punkt lenken kann nur der, der ein festes Ziel für sein Leben vor Augen hat. Wir können unsern Geist nicht auf einen Gegenstand sammeln, für den wir keinen inneren Anteil und keine Begeisterung haben.
Wie gehst du an eine Schwierigkeit heran? Zögernd, zaudernd, aufschiebend, furchtsam? Mit den Worten: „ich will’s versuchen“, „ich will tun, was ich kann“? Oder entschlossen, sie zu bezwingen, und mit größter Siegesgewissheit.
Es liegt eine ungeheure Kraft in einem festen, ohne jeden Vorbehalt gefassten Entschluss, mit dem man alle Brücken hinter sich abbricht, alle Hindernisse aus dem Weg räumt und ans Ziel gelangen will, wie lang auch der Weg und wie groß auch die Opfer seien.
In jeder Gemeinschaft wirkt ein Mann mit solcher Entschlusskräftigkeit förmlich elektrisierend, und jeder fühlt, dass hier der Spaß aufhört und der Ernst beginnt, vor dem alle Hindernisse weichen.
Ein solches allbeherrschendes Ziel ist für einen jungen Menschen ein wahrer Schatz fürs Leben und ein köstlicher Schutz vor tausend Versuchungen. Wenn du einen jungen Menschen siehst, der in solcher Weise entschlossen ist, komme was will, ohne Wenn und Aber seinen Willen durchzusetzen, so darfst du überzeugt sein, der ist aus Kernholz geschnitzt. So etwas wirkt stärkend und kräftigend auf den ganzen Charakter und gibt die beruhigende Gewissheit, hier wird etwas Tüchtiges geleistet.
Wenn ein neuer kraftvoller Entschluss in einem Menschen geboren ist, so wird er ein ganz neues Geschöpf und sieht alles in neuem Licht. Der Zweifel, die Furcht, die Gleichgültigkeit, alles, was gestern noch seinen Schritt aufhielt, schwindet wie durch Zauber, weggeblasen von dem Sturm, der ihn durchweht. Was vorher verworren und hässlich aussah, erscheint jetzt wundervoll geordnet. Alle seine schlummernden Kräfte erwachen zu neuer Tätigkeit.
Wenn es etwas in der Welt gibt, das des Kampfes wert ist für uns, so ist es die Freiheit, unsern eigenen Idealen nachzuleben, denn auf diesem Weg allein ist es uns möglich, unser eigenes Selbst auszuwirken und alles zu entfalten, was in uns angelegt ist; hier haben wir die einzige Möglichkeit, unser Leben zu einem reichen und vollen Ganzen zu machen und das auszuführen, was gerade uns im Unterschied von andern aufgetragen ist.
Wenn wir aber unserm Ideal nicht nachstreben und unser allbeherrschendes Ziel aus den Augen verlieren, dann ist unser Leben im Wesentlichen verfehlt, wenn wir auch sonst noch Pflichtgefühl und Widerstandskraft in leidlichem Maß besitzen.
Niemand kann erfinderisch oder schöpferisch sein, ohne dass er sich kraftvoll auf einen Punkt sammelt. Diesen Punkt kann er aber nur auf der Linie finden, auf der zugleich sein wirkliches Lebensziel liegt: ohne tiefere Anteilnahme und wahre Begeisterung ist eine solche Sammlung gar nicht möglich.
Ich kenne junge Leute, die scheinbar ganz eifrig in ihrem Beruf sind – aber man könnte sie in vierundzwanzig Stunden so weit bringen, dass sie ihn aufgeben. Sie fragen sich beständig, ob sie auch auf der rechten Spur sind und verlieren sofort den Mut, sowie sie auf ein Hindernis stoßen; wenn sie von jemand hören, der auf einer andern Bahn Erfolg gehabt hat, so fragen sie sich zweifelnd, ob sie nicht am Ende besser täten, auch jene Bahn einzuschlagen. Wenn einer aber so lose mit seinem Beruf verknüpft ist, dann darf man wohl annehmen, er hat noch nicht das richtige gefunden. Wenn du wirklich zu etwas berufen bist, wenn es die deutliche Stimme deiner Natur war, deren Ruf du gefolgt bist, dann ist dein Beruf ein Stück deines Lebens, nicht etwas von dir Getrenntes, und du kannst so wenig von ihm loskommen, als ein Panther seine Flecken loswerden kann. Wenn ein junger Mann mich fragt, ob er wohl den richtigen Beruf ergriffen habe, dann bin ich von vornherein überzeugt, dass er ihn nicht hat.
Das, was deinem Leben seinen wahren Inhalt gibt, das ist die Aufgabe, die dir, gerade dir gestellt ist. Die musst du erkennen, anfassen und allen Mühen und Opfern zum Trotz durchführen.