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8. Der Segen des Unglücks
ОглавлениеZwei Räuber gingen einmal an einem Galgen vorüber. Da rief der eine aus: „Wie schön wär‘ unser Beruf doch, wenn es keine Galgen gäbe!“ „Halt’s Maul, Schafskopf!“ antwortete der andre, „die Galgen, die machen ihn ja grad‘ so lohnend! Denn wenn’s keine Galgen gäb‘, wär‘ jeder Mensch Räuber!“
Ganz das Gleiche gilt für jeden andern Beruf und jede Tätigkeit: die Schwierigkeiten sind es, die unter der Masse sichten und mittelmäßige Bewerber abschrecken. „Viele Menschen verdanken ihre Größe den riesigen Schwierigkeiten, mit denen sie zu kämpfen hatten“, sagt Spurgeon. „Echtes Gold wird klar im Feuer.“
Unzählige von Natur hochbegabte Menschen sind der Welt verloren gegangen, weil sie nie Hindernisse zu überwinden oder gegen Schwierigkeiten zu kämpfen hatten, die ihren schlummernden Kräften ein wirksamer Ansporn gewesen wären. Keine Mühe bezahlen wir zu teuer, wenn sie uns auf unserm Weg weiterhilft. Und wir leisten unser Bestes, wenn wir mit verzweifelter Anstrengung um das kämpfen, was unser Herz begehrt.
Unsern Gegnern verdanken wir unsre Siege. Sie haben in uns eben die Kräfte entwickelt, durch die wir sie überwanden. Ohne ihren Widerstand wären wir nie hart und fest geworden, wie auch die Eiche durch all ihre Kämpfe gegen Sturm und Unwetter sich festigt und stärkt. In ähnlicher Weise entwickeln uns alle Prüfungen und Nöte unsres Lebens.
In einer Schlacht im Krimkrieg durchschlug eine Kanonenkugel eine Festungsmauer und drang in einen wundervollen Garten. Aber da, wo sie in die Erde einschlug, schoss ein Wasserstrahl empor, der von nun an als lebendiger Quell weitersprudelte. So entspringen oft aus den hässlichen Wunden, die Unglück und Sorgen unserm Herzen zufügen, unversiegliche Quellen reicher Erfahrung und neuer Freuden.
So mancher Mensch findet sich selber erst, wenn er alles verloren hat. Das Unglück entblößte ihn, um ihn zu entdecken. Widrige Umstände sind der Hammer und der Meißel, die innere Stärke zu innerer Schönheit umformen. Nur durch Niederschlagen wird der Mensch hart, fest und unbesieglich.
Ein berühmter Naturforscher sagte, wenn er einem scheinbar unüberwindlichen Hindernis begegne, so sei das gewöhnlich die Vorstufe zu einer neuen Entdeckung.
„Dankend abgelehnt“ hat schon manchen zum Schriftsteller gemacht. Misserfolge helfen einem Menschen oft zum Erfolg, weil sie seine brachliegende Energie aufrütteln, ihn zu festen Zielen anfeuern und alle schlummernden Kräfte in ihm wecken. Wirklich tüchtige Menschen verwandeln Enttäuschungen in Hoffnungen, wie die Perlmuschel den Sand, der sie stört, in eine Perle verwandelt.
Die Adler werfen ihre Jungen, sobald sie fliegen können, aus dem Nest und säubern es zugleich von Federn und Daunen. In dieser harten Schule wächst der junge Adler zum kühnen Beherrscher der Lüfte heran, der es versteht, seine Beute klug und beharrlich zu verfolgen.
Knaben, die vom Leben stiefmütterlich behandelt werden und gleichsam „draußen“ stehen, bringen es gewöhnlich zu etwas, während die, die in ihrer Jugend nichts Schweres kennenlernten, später häufig versagen.
Wo die Natur besonders schwere Aufgaben stellt, da sorgt sie auch für den nötigen Verstand. „Nichts freuet die Götter mehr, als wenn ein guter Mensch tapfer dem Unglück trotzt.“
Armut und Not sind keine unüberwindlichen Hindernisse, sondern sie wirken auf die von Natur Trägen oft als ein wohltätiger Ansporn und stärken ihr schwaches Rückgrat. Je härter der Diamant, desto mehr Schleifen ist erforderlich, um seinen Glanz herauszubringen, aber desto stärker wird er leuchten, zumal wenn er, wie nötig, an einem andern Diamanten geschliffen wird. So nur enthüllt er seine volle Schönheit.
Ohne Reibung würde der Funken im Feuerstein ewig schlummern, und ohne Kampf würde auch das göttliche Feuer im Menschen nie auflodern.
Im Gefängnis von Madrid war es, wo Cervantes seinen „Don Quixote“ schrieb. Er war so arm, dass er sich schließlich nicht einmal mehr Papier verschaffen konnte und auf Lederriemen schreiben musste. Man bat einen reichen Spanier um Hilfe, der aber sagte: „Befreit ihn um Himmelswillen nicht aus seiner dürftigen Lage! Seine Armut ist’s, die die Welt reich macht.“
Das Gefängnis hat schon in manchem edlen Geist den schlummernden Funken entzündet. „Robinson Crusoe“ ist im Gefängnis geschrieben worden. Die „Pilgerreise“ von Bunyan erschien im Gefängnis von Bedford. Sir Walter Raleigh schrieb seine große „Weltgeschichte“ während seiner dreizehnjährigen Gefangenschaft.
Luther hat die Bibel übersetzt, während er auf der Wartburg saß. Dante schuf seine schönsten Werke in zwanzigjähriger Verbannung und zum Tod verurteilt. Aus der Grube und dem Kerker kam Joseph auf den Thron.
Unterdrückung war das Los der Juden, fast soweit ihre Geschichte zurückreicht, und doch verdankt die Welt ihnen einige edelsten Lieder, der weisesten Sprüche und der schönsten Musik. Je mehr sie verfolgt werden, desto besser scheinen sie vorwärtszukommen, und sie gedeihen, wo andre verhungern würden. Jetzt haben sie die Finanzen vieler Länder in der Hand. Schwere Zeiten sind für sie wie ein „Frühlingsmorgen, der hell, doch kalt, den Wurm wohl tötet; doch die Pflanze lässt er leben.“
Beethoven war fast völlig taub und mit Sorgen überhäuft, als er seine größten Werke schuf. Schiller schrieb seine besten Bücher unter großen körperlichen Leiden; fünfzehn Jahre lang war er nie ohne Schmerzen. Miltons Meisterwerke stammen aus der Zeit, wo er blind, arm und krank war. Bunyan tat den Ausspruch, wenn er dürfte, würde er um noch größere Trübsal bitten, um desto reicheren Trost zu schöpfen.
Gibt es etwas Erhebenderes als das Bild eines Mannes, der gestählt und gefestigt aus schweren Kämpfen hervorgegangen ist und nun hocherhobenen Hauptes, ohne mit der Wimper zu zucken, dem Schicksal ins Auge blickt, bereit, auch das Schwerste auf sich zu nehmen? Von ihm gilt das Dichterwort:
„Wenn etwas ist gewalt’ger als das Schicksal, -
So ist’s der Mut, der’s unerschüttert trägt.“