Читать книгу Einführung in den Bildungsroman - Ortrud Gutjahr - Страница 10
2. Etablierung der Gattung Bildungsroman im 19. Jahrhundert
ОглавлениеMorgensterns Prägung des Gattungsbegriffs
In der Tat wurde Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre zum Vorbild für das literarische Schaffen nachfolgender Autoren, wie dies bereits Jean Paul (1763 – 1825) in seiner Vorschule der Ästhetik (1804 – 13) herausstellt: „Goethens Meister hat hier einige bessere Schüler gebildet, wie Novalis’, Tiecks, E. Wagners, de la Motte Fouqués, Arnims Romane.“ (Jean Paul 1974, 252) Durch den Literaturprofessor Karl von Morgenstern, der in losem Kontakt zu Mitgliedern des Weimarer Kreises stand, wurde Goethes Erfolgsroman darüber hinaus zum Grundlagentext der Gattungsbestimmung Bildungsroman. Denn erst nachdem der Goethe-Verehrer den neuen Romantypus mit dem „bisher nicht üblichen Worte[] Bildungsroman“ (Morgenstern 1988, 55) belegte, konnte Wilhelm Meisters Lehrjahre als Ursprungstext der neuen Gattung kanonisiert werden. Auch Morgenstern geht in seinem Vortrag Ueber das Wesen des Bildungsromans (1820) im Rekurs auf Blanckenburgs Versuch über den Roman davon aus, dass im Bildungsroman mit der äußeren Handlung immer auch ein Reifungsprozess als „innre Geschichte“ der Hauptfigur erzählt wird. Er spricht dem neuen Romantypus zudem eine zuvor so noch nicht formulierte wirkungsästhetische Dimension zu: „Bildungsroman wird er heißen dürfen, erstens und vorzüglich wegen seines Stoffs, weil er des Helden Bildung in ihrem Anfang und Fortgang bis zu einer gewissen Stufe der Vollendung darstellt; zweytens aber auch, weil er gerade durch diese Darstellung des Lesers Bildung, in weiterm Umfange als jede andere Art des Romans, fördert.“ (Morgenstern 1988, 64) Morgenstern legte die erste systematische Klassifizierung zum Bildungsroman vor und erhob Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre, den er zum „vorzüglichsten seiner Art, aus unserer Zeit für unsere Zeit“ (Morgenstern 1988, 71) erklärte, zum Muster der Gattung.
Bildung zur Vernünftigkeit
So wurde in den zahlreichen Analysen zum Bildungsroman, die im 19. Jahrhundert erschienen sind, immer wieder Goethes Roman als herausragendes Beispiel innovativer Erzählkunst herangezogen. Karl Rosenkranz (1805 – 1879) bleibt in seiner Einleitung über den Roman (1827) zwar noch einer aufklärerischen Idee verpflichtet, wenn er meint, dass „Bildung zur Vernünftigkeit recht eigentlich Gegenstand des Romanes überhaupt“ (Rosenkranz 1988, 100) sei, doch sieht er die Grundidee von Goethes Roman darin, „das Leben überhaupt als Kunstwerk zu begreifen und diesem gemäß auch kunstvoll zu gestalten.“ (Rosenkranz 1988, 113) Mit seinen geistesgeschichtlich orientierten Ausführungen verortet Rosenkranz Goethes Werk vor dem Hintergrund der politischen Machtlosigkeit des Bürgertums und der literarischen Bestrebungen, dessen Selbstverwirklichungsansprüchen künstlerischen Ausdruck zu verleihen. Auch Theodor Mundt (1809 – 1861) würdigte Goethe in seiner Geschichte der Literatur der Gegenwart (1842) als Dichter, der von den Zeitgenossen als „Meister des Jahrhunderts anerkannt“ (Mundt 1842, 76) wurde und in seinem Bildungsroman „das Streben nach einer vornehmen Bildung“ (Mundt 1842, 18) zum Lebensziel für den Protagonisten erklärt habe.
Popularisierung des Begriffs durch Dilthey
Erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wurde der Begriff Bildungsroman durch Wilhelm Dilthey (1833 – 1911) so populär, dass viele zunächst glaubten, er habe den Begriff geprägt. In seinem Buch über das Leben Schleiermachers (1870) schlägt er vor, den Terminus für diejenigen Romane einzusetzen, „welche die Schule des Wilhelm Meister ausmachen“ (Dilthey 1970, 299), und hat damit Werke wie Jean Pauls Titan, Tiecks Franz Sternbalds Wanderungen, Novalis’ Heinrich von Ofterdingen und Hölderlins Hyperion gemeint. Dilthey führt aus, dass der Bildungsroman als spezifischer Typus des Künstlerromans zu verstehen sei, und bestätigt in seinen Ausführungen im Wesentlichen bisherige Charakterisierungen. In Das Erlebnis und die Dichtung (1906) erklärt er die Entstehung des Bildungsromans auch aus den geistesgeschichtlichen Bedingungen des 18. Jahrhunderts und nennt als wichtigste Einflüsse die auf Leibniz fußende Psychologie der Entwicklung, das von Rousseau inspirierte Programm einer naturgemäßen Erziehung und das von Herder propagierte Humanitätsideal. Bedeutsam werden Diltheys Ausführungen für die nachfolgende Auseinandersetzung mit dem Bildungsroman, weil er diesen dezidiert als deutsche Sonderform des Romans ausweist und versucht, den Bildungsgedanken der Goethezeit für die Entwicklung eines nationalen Bewusstseins dienstbar zu machen.
Bildung als nationale Aufgabe
Der Begriff des Bildungsromans gewann durch Dilthey also just um die Zeit Popularität, als mit der deutschen Reichsgründung (1870/71) die Nachfrage nach traditionsbildenden Modellen für das nationale Selbstverständnis besonders groß wurde. Bildung stand als Fähigkeit, sich mit Kunst, Literatur und Wissenschaft durch begründetes Urteil auseinandersetzen zu können, und damit als Zugehörigkeitskriterium für das Bildungsbürgertum, hoch im Kurs (Assmann 1993; Engelhardt 1986). Der Bildungsroman wurde in diesem Zusammenhang noch stärker als Ausdruck deutscher Eigenart gefasst. So mahnt Dilthey auch an, dass sich Bildung nie nur auf das Private beschränken dürfe, sondern immer auch im Dienste gemeinschaftsstiftender Ordnung stehen müsse. Diese Position verdeutlicht, dass der Begriff Bildung eine neue Gewichtung erfährt, denn es wird argumentiert, dass mit dem besonderen Interesse an individuellen Bildungsprozessen zugleich das Selbstverständnis der deutschen Nation als Gemeinschaft Gebildeter zum Ausdruck komme (Ruppert 1981). Diltheys Ausführungen zum Verhältnis von Bildung und Nation erfuhren demnach so große Resonanz, weil sie erlaubten, rückblickend einen Zusammenhang innerhalb der deutschen Geistes- und Literaturgeschichte zu stiften und für die Gegenwart anschließbar zu machen. Hatte sich Bildung bis ins letzte Drittel des 19. Jahrhunderts vorwiegend auf den Privatbereich bezogen, so sollte sie nun mit der Etablierung der deutschen Nation zu einem öffentlich-politischen Anliegen werden.