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2. Die Idee der Bildsamkeit

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Entwicklungsvorstellungen

Mit der neuen anthropologischen Vorstellung, dass das Leben in der Verantwortung des Einzelnen liegt, gewann die Idee der Bildsamkeit überragenden Stellenwert. Die prinzipielle Bildungsfähigkeit des Menschen wurde zunächst in Analogie zu einem botanisch-morphologischen Wachstumsbegriff verstanden. Wie Johann Friedrich Blumenbach (1752 – 1840) in seiner Abhandlung Über den Bildungstrieb und das Zeugungsgeschäft (1781) darlegte, kann die Entwicklung des Menschen analog dem pflanzlichen Wachstum gesehen werden, bei dem mit dem Keim bereits alle Anlagen vorhanden sind, die sich dann durch Metamorphose zur Blüte und Frucht entfalten. Dabei werden prinzipiell zwei Lehren unterschieden: zum einen die Präformationslehre, nach der Bildung als Vergrößerung und Fortentwicklung schon vorhandener Anlagen gesehen wird; zum anderen die Epigenesislehre, der zufolge Entwicklung sich als Neubildung aus der Verbindung von Anlage und Umwelteinflüssen bestimmen lässt. Goethe hat in seinen Vorarbeiten zu einer Physiologie der Pflanzen (1795) das Gesetz der Metamorphose, durch welche die Pflanze modifiziert wird, als Zusammenwirken von innerer Natur und äußeren Wachstumsbedingungen bestimmt. Wie sehr biologische Ansätze auch Erziehungsvorstellungen prägten, wird in Johann Heinrich Pestalozzis (1746 – 1827) Rede an sein Haus (1818) deutlich: „Unsichtbar liegen im Kind, schon ehe es geboren, die Keime der Anlagen, die sich in ihm durch sein Leben entfalten. Dem Baum gleich bilden sich die einzelnen Kräfte seines Seyns und Lebens durch die ganze Bildungsepoche des Menschen“ (Pestalozzi 1974, 266). Beim Rekurs auf naturwissenschaftliche Modelle wird jedoch immer betont, dass sich menschliche Entwicklung nicht als bewusstloses Ineinanderspiel von Anlage und Umwelt vollzieht, sondern als sittliche Entscheidung.

Shaftesburys Moralphilosophie

Maßgeblich für die Vorstellung, dass der Mensch nur dann zu wahrer Bildung gelangt, wenn er die Gestaltung seines Lebens als moralische Aufgabe begreift, war der Moralphilosoph Anthony Ashley Cooper Shaftesbury (1671 – 1713) mit seiner Schrift Charakteristika der Menschen, Sitten, Meinungen, Zeiten (Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times 1711), die 1738 in Deutschland erschien. Nach seinem Ansatz zeigt sich die göttliche Ordnung in den natürlichen Charaktereigenschaften, Neigungen und Verhaltensweisen. Die Kultivierung der Affekte dient der Sittlichkeit und führt zu einer inneren Bildung (inward form), die eine vollendete Persönlichkeit auszeichnet. Moralisches Bewusstsein könne erst durch die Verbindung von Gefühl und Vernunft entstehen und müsse durch Imaginationsfähigkeit angeregt werden. Shaftesburys Thesen wurden sowohl für die Wertschätzung der Einbildungskraft im Bildungsprozess richtungsweisend wie auch für die anthropologische Idee, dass der Mensch auf Vervollkommnung ausgerichtet ist.

Kant über Pädagogik

Der Gedanke der Perfektibilität beschäftigte auch Immanuel Kant (1724 – 1804) in seiner Vorlesung Über Pädagogik, die er erstmals im Wintersemester 1776/77 hielt und in der es gleich zu Beginn heißt: „Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das erzogen werden muß.“ (Kant 1968, 441) Die Betonung liegt hierbei auf dem „muß“, denn nach Kants Vorstellung kann der Mensch allein durch Erziehung kultiviert und moralisch gebessert werden, um „seine Bestimmung“ (Kant 1968, 445) zu erreichen. Demnach müssen dem Kind bereits früh Erziehungsvorgaben vermittelt werden, da es beizeiten lernen soll, dass sich Handlungen an verbindlichen Prinzipien orientieren müssen. Dem Heranwachsenden soll aber durch die Auseinandersetzung mit der Kunst die Möglichkeit geboten werden, sich Handlungsspielräume zu erschließen und Entscheidungsfreiheit zu erobern. Damit wird es dem jungen Menschen – mit dem auch hier implizit ein Jüngling gemeint ist – möglich, seine soziale Verpflichtung gegenüber dem Gemeinwohl zu erkennen und zum Bürger zu reifen. Obwohl Kant also mit seiner Philosophie für die Emanzipation des Menschen von tradierten Autoritäten eintritt, macht er sich zugleich für eine Erziehung stark, in welcher der Heranwachsende zunächst durch Disziplinierung Herrschaft über sich selbst gewinnen soll, um sich dann mit kulturellen Traditionen auseinandersetzen zu können. Selbstbildung wird demnach erst durch einen individuellen Emanzipationsprozess möglich, nämlich durch die kritische Auseinandersetzung mit verbindlichen Erziehungsvorgaben. Denn durch künstlerische Betätigung kann das an Prinzipien orientierte Gewordensein teilweise überwunden und Individualität ausgebildet werden.

Lessing über Erziehung // Wieland über Bildung

Auch Gotthold Ephraim Lessing (1729 – 1781) geht in seiner späten Schrift Die Erziehung des Menschengeschlechts (1780) davon aus, dass der Mensch auf eine Vervollkommnung angelegt ist, die zugleich auf das Telos der Menschheitsentwicklung verweist: „Eben die Bahn, auf welcher das Geschlecht zu seiner Vollkommenheit gelangt, muß jeder einzelne Mensch (der früher, der später) erst durchlaufen haben.“ (Lessing 2001, 98) In ähnlicher Weise hat Christoph Martin Wieland in seinem Aufsatz Das Geheimnis des Kosmopoliten-Ordens von 1788 seine Bildungsvorstellungen zusammengefasst: „Die Natur […] hat einem jeden Menschen die besondere Anlage zu dem, was er sein soll, gegeben, und der Zusammenhang der Dinge setzt ihn in Umstände, die der Entwicklung derselben mehr oder weniger günstig sind; aber ihre Ausbildung und Vollendung hat sie ihm selbst anvertraut“ (Wieland o. J., 134).

Herder über Humanität

Auf diesem Entwicklungsgedanken basiert auch das Humanitätsideal, wie es Johann Gottfried Herder (1744 – 1803) emphatisch dargelegt hat. Er geht davon aus, dass Bildung bei der Auseinandersetzung mit der eigenen Erziehung beginnt. Im Journal meiner Reise im Jahre 1769 fragte er sich deshalb: „Wann werde ich so weit sein, um Alles, was ich gelernt, in mir zu zerstören, und nur selbst zu erfinden, was ich denke und lerne und glaube!“ (Herder 1997, 15) Bildung wird als individuelle Aufgabe jedes Einzelnen verstanden, sich im Sinne der Humanität zu vervollkommnen. Herder beruft sich dabei auf eine Idealvorstellung von Menschlichkeit, die bereits in der Antike mit Erziehung (paideia) verbunden war. Cicero entfaltete die Idee der humanitas beispielsweise in Über den Redner (De Oratore 55 v. Chr.), indem er von der Leistung des Menschen, sich durch Sprache, Vernunft und Rechtsbewusstsein aus einem wilden, tierähnlichen Zustand herausgearbeitet zu haben, auf seine kulturschaffende Fähigkeit schließt. Von dieser als Grundbestimmung menschlichen Seins geht Herder aus und verbindet in seiner Schrift Briefe zu Beförderung der Humanität (1793 – 97) den Begriff der Humanität mit „Menschheit, Menschlichkeit, Menschenrechte[n], Menschenpflichten, Menschenwürde, Menschenliebe“ (Herder 1991, 147). Humanität meint also nicht Übernahme einer Idee, sondern aktives Wirken des Lernenden und impliziert das Vermögen, sich neue Bildungsbereiche zu erschließen. In seiner geschichtsphilosophischen Schrift Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774) fragt Herder, ob die Fortschritte in Kunst und Wissenschaft seit der Antike auch eine Verbesserung in moralischer Hinsicht bedeutet haben. Insofern er unter völkervergleichender Perspektive feststellt, dass jede Kultur eine eigenständige Entwicklung nimmt, verweist er auf die Notwendigkeit, im Bildungsprozess auch die eigene kulturelle Gewordenheit zu hinterfragen. Herder hat somit die Bildung zu einer Humanität im Blick, durch welche der Mensch sein ethisches Vermögen erweist wie auch seine Zugehörigkeit zur Menschheit realisiert.

Humboldt über Bildung

Wilhelm von Humboldt (1767 – 1835) hat eine Theorie der Bildung des Menschen entworfen, die eng mit dem Gedanken der Selbstbestimmung verknüpft ist. Nach seiner Ansicht kommt es für den Menschen darauf an, seine Anlagen auszubilden und sich den äußeren Einflüssen anzubilden. Humboldt sieht die Aufgabe des Daseins darin, „dem Begriff der Menschheit in unsrer Person, sowohl während der Zeit unsres Lebens, als auch noch über dasselbe hinaus, durch die Spuren des lebendigen Wirkens, die wir zurücklassen, einen so grossen Inhalt, als möglich, zu verschaffen“ (Humboldt 1960, 235). Wie Herder geht auch Humboldt von einer humanitätsphilosophischen Bildungsvorstellung aus, wonach es Auftrag des Menschen ist, sich zu seiner wahren Menschlichkeit auszubilden. Er fasst den Menschen als Schöpfer kultureller Objektivationen, die wiederum auf ihn zurückwirken. Da die inneren Kräfte des Menschen nur durch äußere Anregung zur Ganzheit ausgebildet werden können, kommt es im Dienste der ethischen Perfektibilität darauf an, dass durch eine Kultur auch hochwertige Bildungsmöglichkeiten angeboten werden. Dabei stellen Kunstwerke für Humboldt ein vorzügliches Bildungsmedium dar, insofern sich der Mensch erst durch die Auseinandersetzung mit künstlerisch geformten Idealen seiner Bestimmung bewusst werden und im Sinne der Humanität erfahren kann. Die Kunst legt somit nicht nur Zeugnis über die Bildung des Menschen ab, sondern wirkt auch wiederum bildungsfördernd auf ihn – und im Sinne eines kulturellen Erbes sogar auf die nachfolgenden Generationen.

Schiller über ästhetische Erziehung

Die Vorstellung, dass nur über die Kunst die Bildung des Menschen möglich ist, wurde zu einer leitenden Idee der Epoche und besonders von Friedrich Schiller theoretisch gefasst. In seiner Schrift Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795) weist er dem Künstler für die ästhetische Erziehung eine herausragende Bedeutung zu, insofern er ihm den Auftrag zuschreibt, mit seinen Kunstwerken den Weg zur Humanität vorzugeben. Ästhetische Bildung wird nicht nur durch Unterricht oder das Studium der Ästhetik erreicht, sondern durch die Beschäftigung mit Kunst und den Vergleich schöner Werke. Mit dem Gedanken der ästhetischen Erziehung verbindet Schiller eine Kultivierung der Affekte und des Geschmacks, die den Menschen befähigen soll, sich durch ästhetisches Urteilsvermögen und die Anregung der Einbildungskraft nach der humanistischen „Idee seiner Menschheit“ (Schiller 1992, 606) auszubilden.

Humanitätsphilosophischer Bildungsbegriff

Die Entstehung des Bildungsromans verdankt sich zweifellos dem humanistischen Bildungsideal des ,ganzen Menschen‘, wie es in einer überwältigenden Fülle philosophischer, anthropologischer, pädagogischer und ästhetischer Schriften entfaltet wurde (Fiedler 1972; Stahl 1970). Wie nie zuvor wurde der Mensch als Schöpfer seiner selbst aufgewertet und dafür verantwortlich gemacht, durch eigene Bildung am Projekt der kulturellen Fort- und ethischen Höherentwicklung der Menschheit mitzuwirken. Im humanitätsphilosophischen Sinne meint Bildung nun eindeutig nicht mehr Nachbildung eines göttlichen ,Urbildes‘, wie dies ursprünglich der Fall gewesen war (vgl. Kapitel I.1), sondern einen individuellen Selbstentwurf im Dienste der Perfektibilität. In diesem Sinne zielte Bildung nicht, wie dies im heutigen Sprachgebrauch vielfach gemeint ist, allein auf den Erwerb fachlichen Wissens und die Fähigkeit, sich durch begründetes ästhetisches Urteil mit Kunst auseinandersetzen zu können, sondern umfasst die Vorstellung von persönlichkeitsbildender Selbstverwirklichung. Damit wird auch deutlich, weshalb im Bildungsroman eine gesellschaftlich so hoch bewertete Bildungsinstitution wie die Universität nur eine marginale Rolle spielt. Denn die Aneignung von Fachwissen ist nach der humanitätsphilosophischen Bildungsvorstellung – im Übrigen auch bei Wilhelm von Humboldt – nur insofern unabdingbar, als sie fördernd auf den Ausbildungsprozess der im Menschen angelegten Humanität wirkt. Bildung ist somit nicht ohne den Erwerb von Wissen möglich, aber sie erfüllt sich nicht darin. Das Telos der Bildung liegt vielmehr im Menschen selbst. Doch um dieses Ziel zu erreichen, bedarf es der Entfaltung von unverwechselbarer Individualität durch die Auseinandersetzung mit der äußeren sozialen und einer künstlerisch geformten Welt. Dass dieser notwendige Weg durch lebensgeschichtliche Konkretion und Erfahrung nach humanitätsphilosophischer Anschauung als geradezu enthusiastische Suche nach dem bestmöglichen Selbst zu verstehen ist, dafür hat der Bildungsroman in großer Anschaulichkeit eine ästhetische Form gefunden.

Einführung in den Bildungsroman

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