Читать книгу Einführung in den Bildungsroman - Ortrud Gutjahr - Страница 14
1. Sozialhistorische Voraussetzungen
ОглавлениеAufstieg des Bürgertums
Die Entstehung einer Literaturgattung ist Ausdruck eines veränderten ästhetischen Ausdrucksbedürfnisses und verdankt sich der Entwicklung eines neuen Menschenbildes im Zuge sozialhistorischen Wandels. Der Bildungsroman entstand in einer Zeit forcierter bürgerlicher Selbstexplikation in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In dieser geistesgeschichtlichen Umbruchphase, die auch als „Sattelzeit“ (Koselleck 1979) bezeichnet wird, gehörten die Ideen der Aufklärung bereits zum kulturellen Wissen des sich konsolidierenden Bürgertums, und eine junge Autorengeneration suchte, dem neuen Selbstverständnis einen unverwechselbaren Ausdruck zu geben. Der Bildungsroman kann vor diesem Hintergrund als ästhetische Form der Verständigung über innovative Bildungsvorstellungen verstanden werden. Denn Basis für die zunehmende Hochschätzung, welche die Literatur in jener Zeit erfuhr, war die Etablierung einer sozialen Schicht, die sich über dieses Medium maßgeblich definierte. Sozialgeschichtlich war der Aufstieg eines städtischen Wirtschaftsbürgertums durch neue Handelsstrukturen und die Entstehung von Manufakturen begünstigt worden. Das merkantile Denken dieses Standes, das auf gewinnbringendes Kalkulieren und Investieren zielte, wurde von einem kaufmännischen Arbeitsethos getragen, das sich an Tugenden wie Zuverlässigkeit, Pflichterfüllung, Fleiß und Pünktlichkeit orientierte. Während dem Adel durch Geburtsstand und den in Zünften organisierten Handwerkern durch den Berufsstand ihre soziale Stellung zukam, musste sich das Bürgertum über spezifische Lebensstile, Repräsentationsformen und Wertvorstellungen erst als neue gesellschaftliche Schicht profilieren (Bourdieu 1998).
Bildungswesen
Das Bürgertum befand sich in einer diskrepanten gesellschaftlichen Situation, denn obwohl es wirtschaftlich erstarkt war, blieb es politisch weitgehend machtlos. Lediglich die mittleren und unteren Verwaltungspositionen konnten von Bürgern eingenommen werden, während die einflussreichen Stellen im absolutistischen Staat dem Adel vorbehalten waren. Aber das staatlicherseits verbesserte Schulsystem und die Einrichtung neuer Universitäten, in denen die zukünftigen Beamten eine gute Ausbildung erhalten sollten, kamen auch dem Bürgertum zugute. Denn dieses setzte sich nicht nur aus wohlhabenden Stadtbürgern, sondern auch aus der mittleren Beamtenschaft zusammen, zu der mit Professoren, Lehrern und protestantischen Pfarrern die geistige Elite zählte. Mit wachsendem Wohlstand und zunehmender Bildung stieg das Selbstbewusstsein des Bürgertums, mit dem es sich von den unteren Ständen wie auch vom höfischen Adel abzugrenzen suchte, der aufgrund korrupter Machtausübung und moralisch verwerflichen Lebensstils kritisiert wurde. Demgegenüber suchte sich das Bürgertum durch ein aufstiegsorientiertes Leistungsethos und moralisch verbindliche Wertvorstellungen als soziale Gruppe zu profilieren.
Die Ideen der Aufklärung
Gestützt wurden diese Abgrenzungsbemühungen durch eine epochal neue Bestimmung des Menschen. Bis ins Zeitalter des Barock war die Vorstellung prägend gewesen, dass der Mensch in eine von Gott gewollte Ordnung hineingeboren wird und dort eine ihm vorbestimmte soziale Position einnimmt. Nach christlicher Lehre war dem Menschen das Leben als Prüfung für seine eigentliche Jenseitsbestimmung aufgetragen. Die Kirche und der durch Gottes Gnaden nach Geburtsrecht eingesetzte Monarch bildeten unhinterfragbare Autoritäten. Doch mit den Ideen der Aufklärung vollzog sich im 18. Jahrhundert eine emanzipatorische Bewegung, die den überlieferten Autoritäten den bislang selbstverständlichen Gehorsam aufkündigte. Vor allem religiöse Vorstellungen wie die Lehre von der Erbsünde verloren an Evidenz, da der Mensch durch das Naturrecht, wie es Christian Thomasius (1655 – 1728) vertrat, als von Geburt an gut bestimmt wurde. Die Orientierung an der christlichen Offenbarung trat gegenüber der neuartigen Forderung zurück, seinen Verstand zu gebrauchen und durch Erfahrung zu lernen. Auch Immanuel Kant (1724 – 1804) betonte, dass das Leben nicht durch Gott vorherbestimmt ist, sondern durch den Einzelnen verändert und gestaltet werden kann. Mit dem in seiner Schrift Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784) programmatisch formulierten Aufruf, dass sich die Menschen aus ihrer „selbst verschuldeten Unmündigkeit“ (Kant 1968, 35) befreien sollen, gewann die Idee der Eigenverantwortlichkeit des Individuums überragende Bedeutung.
Selbstverantwortung des Menschen
Auf völlig neue Weise stellte sich nun die Aufgabe, das Leben selbst in die Hand zu nehmen und nach Möglichkeiten der Selbstverwirklichung zu suchen. So wurde mit der Aufklärung ein neues Selbstbewusstsein inauguriert, das den Einzelnen schließlich befähigen sollte, seine eigene soziale Situation zu überdenken, sich nach Maßgabe aller Möglichkeiten auszubilden und seinen Ort in der Gesellschaft selbst zu suchen. Die Fähigkeit, sich über neue Werte in Formen der Geselligkeit zu verständigen (Gutjahr/Kühlmann/Wucherpfennig 1993), und die Bereitschaft zu gemeinnützigem Wirken (Pikulik 1984) gewannen für das Ansehen des Menschen hohen Stellenwert. Es veränderte sich aber nicht nur die Beziehung des Individuums zur sozialen Ordnung, sondern auch seine Selbstbezüglichkeit grundlegend. Denn insofern die Entscheidungsbefugnis nicht mehr einer übergeordneten Instanz, sondern der eigenen Vernunft überantwortet werden sollte, wurde der Einzelne in die Pflicht genommen, sich selbst einen Orientierungsrahmen für moralisch vertretbares Handeln zu geben.
Kultur der Innerlichkeit und Pietismus
Da die so emphatisch geforderte Emanzipation von überkommenen Autoritäten in der „noch grundsätzlich absolutistisch-feudal strukturierten Welt“ (Ruppert 1981, 22) außer durch Kampf wie in der Französischen Revolution (1789 – 99) gar nicht umsetzbar war, blieb zumindest die Möglichkeit, bisherige Wertvorstellungen und Glaubenssysteme neu zu durchdenken. Als eine noch dem religiösen Denken geschuldete Suchbewegung nach neuer Orientierung lässt sich in diesem Zusammenhang der Pietismus verstehen, mit dem die Empfindung des Einzelnen aufgewertet und eine Kultur der Innerlichkeit fundiert wurde. Wie sehr diese durch Philipp Jacob Spener (1635 – 1705) begründete protestantische Glaubensrichtung dem Bedürfnis nach einer Neudefinition der eigenen Lebensweise entgegenkam, macht der pietistische Glaubensweg deutlich. Um auf die Zeichen göttlicher Gnade vorbereitet zu sein, sollte der Gläubige in sich hineinhorchen und seine Seelenregungen beobachten, um durch das individuelle Erlebnis göttlicher Eingebung geläutert und gleichsam als neuer Mensch wiedergeboren zu werden. Es erschienen zahlreiche religiöse Bekenntnisschriften, und in kleinen Andachtszirkeln wurde über Erweckungserlebnisse berichtet, um die eigenen Erfahrungen als lehrhafte Beispiele zu vermitteln. Durch den Spener-Schüler August Hermann Francke (1663 – 1727), der davon ausging, dass den Kindern zunächst ihre Wildheit genommen und ihr Wille gebrochen werden müsse, um sie demütig und für die göttliche Gnade empfänglich zu machen, wurde der Pietismus auch zu einer wirkungsmächtigen pädagogischen Bewegung. Franckes Erziehungsprinzipien wurden für die staatliche Schulausbildung übernommen und boten für das bürgerliche Arbeitsethos eine christliche Rechtfertigung, denn der neue Glaube sollte sich lebenspraktisch durch Fleiß und Disziplin bewähren.
,Schöne Seele‘
Dass es bei diesen Erziehungsmaßnahmen auch immer um den Versuch ging, ethisch-moralische Verhaltensanweisungen im Innern des Menschen zu verankern, wird anhand des mit dem Pietismus in Deutschland populär gewordenen Begriffs der ,schönen Seele‘ deutlich. Der Begriff ist schon bei Platon und Plotin zu finden und wurde besonders von dem Pietisten Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf (1700 – 1760) und der 1722 von ihm gegründeten Herrnhuter Brüdergemeinde verwandt. Wenn hier von der Brautschaft der ,schönen Seele‘ mit Christus als Seelenbräutigam gesprochen wird, so bezieht sich der Begriff auf die unbedingte Hinwendung zum christlichen Glauben und die Verinnerlichung seiner Gebote. Friedrich Schiller (1759 – 1805) hat in seiner Abhandlung Über Anmut und Würde (1793) die ,schöne Seele‘ nicht bloß als Anlage, sondern als Ergebnis eines Verinnerlichungsprozesses gefasst: „Eine schöne Seele nennt man es, wenn sich das sittliche Gefühl aller Empfindungen des Menschen endlich bis zu dem Grad versichert hat, daß es dem Affekt die Leitung des Willens ohne Scheu überlassen darf, und nie Gefahr läuft, mit den Entscheidungen desselben im Widerspruch zu stehen. Daher sind bei einer schönen Seele die einzelnen Handlungen eigentlich nicht sittlich, sondern der ganze Charakter ist es.“ (Schiller 1992, 370) Anhand von Schillers Ausführungen wird deutlich, dass unter dem Begriff ,schöne Seele‘ die Internalisierung einer kulturell gebotenen Verhaltensweise verstanden wird, die so vollständig erfolgen soll, dass gar kein Bewusstsein mehr darüber besteht, dass es sich um eine anerzogene Norm handelt. Vielmehr wird das eigene Handeln, Denken und Fühlen gemäß moralischer Vorschrift als ,natürliche‘ Charakterdisposition empfunden. Auch Christoph Martin Wieland suchte in der dritten Fassung (1794) seines Romans Geschichte des Agathon den Begriff zu bestimmen: „Eine schöne Seele, welcher die Natur die Lineamenten der Tugend (wie Cicero es nennet) eingezeichnet hat, begabt mit der zartesten Empfindlichkeit für das Schöne und Gute, und mit angeborner Leichtigkeit, jede gesellschaftliche Tugend auszuüben, kann durch einen Zusammenfluß ungünstiger Zufälle an ihrer Entwicklung gehindert, oder an ihrer ursprünglichen Bildung verunstaltet werden. […] Eine schöne Seele kann sich verirren, kann durch Blendwerke getäuscht werden; aber sie kann nicht aufhören eine schöne Seele zu sein.“ (Wieland 1986, 664f.) Wieland bezeichnet mit dem Begriff ,schöne Seele‘ demnach eine ,naturgegebene‘ Disposition zur Tugend. Er verbindet damit die Vorstellung von einem Charakterkern, der sich erst durch Prüfungen erweist, denn durch Tugendanfechtungen ergreife eine wahre ,schöne Seele‘ „das Verlangen sich selbst nach diesem göttlichen Ideal der moralischen Schönheit umzubilden“ (Wieland 1986, 664f.).
Empfindsamkeit
Pietistische Frömmelei wie überhaupt die völlige Versenkung in persönliche Glaubensinhalte und eine über die Grenzen der Rationalität hinausschießende Einbildungskraft wurden besonders seitens vernunftbetonter Aufklärer als ,Schwärmerei‘ kritisiert. So wurden Formen extremer religiöser Subjektivierung von der säkularen Strömung der Empfindsamkeit flankiert, bei der den Gefühlen, vor allem aber der Fähigkeit zu Liebe, Freundschaft und Empathie, eine hohe moralische Qualität zugesprochen wurde. In Zirkeln, in denen sich die Mitglieder als seelenverwandt erkennen sollten, und langen Briefwechseln, in denen sich die Partner ihre Gefühlsregungen mitteilten, etablierte sich ein ausgeprägter Freundschaftskult. In den zahlreich erscheinenden ,Moralischen Wochenschriften‘ wurden die neuen Tugenden propagiert, wobei die Darstellung des Gefühlslebens beispielhafter bürgerlicher Figuren zur Identifikation einladen sollte. Mit diesem Zusammenwirken von aufklärerischen Ideen, der Glaubensrichtung des Pietismus und der Betonung des Gefühls durch die Empfindsamkeit entstand in Deutschland eine spezifische Kultur der Innerlichkeit, mit der bürgerliche Kreise ihre politische Bedeutungslosigkeit zu kompensieren suchten.
Familienordnung
Im Zuge dieses Mentalitätswandels wurde die Familie als Ort der Privatheit aufgewertet. Da sich hier die Möglichkeit selbstbestimmter Lebensführung nach neuen bürgerlichen Tugenden eröffnete, wurde das Familienleben als Keimzelle einer neuen Gesellschaftsordnung verstanden, die politisch noch nicht realisierbar war. Auch die Vorstellung über die Ehe veränderte sich; sie wurde nicht mehr vornehmlich als Vernunftbündnis gesehen, sondern als Gefühls- und Geistesgemeinschaft, bei der für die Ehepartner die Erfüllung unterschiedlicher Geschlechterrollen vorgesehen war. In praktischer Hinsicht kam dem Mann die Aufgabe zu, durch seine Berufstätigkeit den Unterhalt der Familie zu sichern und dem Hause vorzustehen, während es Pflicht der Frau war, den Haushalt zu führen. Die Eheleute sollten aber nicht allein eine Zweckgemeinschaft bilden, sondern auch moralisch bildend aufeinander wirken. Von großer Wirkung für die Geschlechterdebatte um 1800 war Johann Gottlieb Fichtes (1762 – 1814) Grundlage des Naturrechts (1796), wonach die Ehe eine durch Natur notwendige Gemeinschaft von Mann und Frau ist, in welcher der rohe Geschlechtstrieb durch liebende Hingabe – insbesondere der Frau – zu einer Vorstufe moralischen Handelns transformiert werden soll. Aber auch der Hauptzweck der bürgerlichen Ehe, die Zeugung und Erziehung von Kindern, wurde nicht mehr nur im genealogischen Sinne als zukunftsweisende Aufgabe gesehen.
In einer Epoche, in der die Erziehung zu neuen Werten als unabdingbares Grundanliegen für das bürgerliche Gemeinwohl erachtet wurde, kam der Familie als primärer Sozialisationsinstanz tragende Bedeutung zu. Die Erkenntnis begann sich durchzusetzen, dass nur derjenige für die bürgerliche Gesellschaft nutzbringend tätig werden kann, der auch verlässlich nach den neuen Leitideen erzogen wurde. So forderte der Pädagoge Johann Bernhard Basedow (1724 – 1790), dass in den „gesitteten Ständen“ die Kinder weniger zu konkretem stofflichen Wissen denn „zur moralischen Regelmäßigkeit der Wünsche und Vorsätze“ (Basedow 1965, 112) angehalten werden sollten. Gegen Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts erschien in rascher Folge eine überwältigende Anzahl einflussreicher Erziehungsschriften (vgl. Synopse im Anhang), in denen neue Erziehungsprinzipien und pädagogische Anweisungen für Erzieher formuliert werden. Dort geht es immer auch um geschlechtsspezifisch unterschiedliche Erziehungsvorgaben, denn Mädchen und Jungen sollten auf ihre unterschiedliche Rolle in Familie und Gesellschaft vorbereitet werden.
Erziehung durch die Mütter
Waren Frauen in ihrem Wirkungskreis weitgehend auf den familiären Bereich beschränkt, so wurde ihnen gerade in ihrem erzieherischen Einfluss auf die Kinder besondere Aufmerksamkeit zuteil. Die Vorstellung, dass moralisch integre Frauen in der Erziehung eine Vorbildfunktion übernehmen sollen, findet sich bereits in der 1698 in Deutschland erschienenen Schrift Von der Erziehung der Töchter (Traité de l’éducation des filles 1687) des französischen Geistlichen François de Salignac de la Mothe-Fénelon (1651 – 1715). Sein Anliegen, einfache, arbeitsame Ammen und Kindermädchen für eine erzieherische Tätigkeit auf den Schlössern heranzubilden, um dadurch den Sittenverfall des Adels aufzuhalten, konnte für das bürgerliche Haus übersetzt werden, insofern die Frau innerhalb der eigenen Familie vorbildhaft wirken sollte, um dem eigenen Stand moralisches Ansehen zu verleihen. In zahlreichen Erziehungstraktaten wurden Ratschläge erteilt, wie Töchter zu guten Hausfrauen und Müttern erzogen werden können. Zum repräsentativen Text über Erziehungsvorstellungen des späten 18. Jahrhunderts wurde Johann Heinrich Campes (1746 – 1818) Väterlicher Rath für meine Tochter. Ein Gegenstück zum Theophron (1789). Der Schulrat schreibt darin eine getrennte Erziehung für Mädchen bis zur Verheiratung vor, die auf die vielzitierte dreifache Bestimmung als „beglückende Gattinnen, bildende Mütter und weise Vorsteherinnen des innern Hauswesens“ (Campe 1988, 16f.) abzielt. Dem Vater als Vorstand der Familie weist er die Aufgabe zu, die Erziehung grundsätzlich zu leiten, und der Mutter die Pflicht, durch vorbildliche Lebensweise die Töchter in weibliche Aufgaben und Fertigkeiten einzuführen. Angeborene Laster wie Schwachheit, Eitelkeit, Verführbarkeit und Kleingeistigkeit sollten zurückgedrängt und Tugenden wie Sanftmut, Gehorsam, Keuschheit und Sittsamkeit eingeübt werden. Bedenken erhebt Campe vor allen Dingen gegen die Beschäftigung junger Mädchen mit Literatur, weil diese sie von Bescheidenheit und Sittsamkeit abbringen könnte.
Bildung durch Lesen
Mit diesem Verdikt ist für die Bildungsmöglichkeiten von Frauen ein entscheidender Punkt angesprochen. Denn trotz aller Verpflichtung auf die weibliche Rolle wurde mit dem Mentalitätswandel im 18. Jahrhundert das Lesen zu einem Schlüssel für die Persönlichkeitsbildung. Da Mädchen keine Ausbildung an höheren Schulen und Universitäten zugestanden wurde, stellte die Lektüre von Büchern, die aus Bibliotheken entliehen werden konnten, eine wichtige Bildungsmöglichkeit im Hause dar. Frauen sollten sich jedoch nicht mit Fachwissen oder philosophischem Denken befassen, da Gelehrsamkeit vermännliche und sie ihrer eigentlichen Bestimmung als Mutter und Hausfrau entfremde. Höchstens wurde die maßvolle Lektüre schöner Literatur empfohlen, denn eine zu starke Vertiefung in die Bücher wurde wiederum als ,Lesewut‘ oder ,Lesesucht‘ verurteilt, die von den eigentlichen Aufgaben abhalte. So wurden in den ,Moralischen Wochenschriften‘, die sich teilweise direkt an die weibliche Leserschaft richteten, vornehmlich Fragen zur praktischen Lebensführung wie auch zu Ästhetik und Moral behandelt. Christoph Martin Wieland hat in seiner Schrift Weibliche Bildung (1786) jedoch hervorgehoben, dass „Imagination, Zartheit des Gefühls, Schönheit der Gesinnungen und Feinheit des Geschmackes“ (Wieland 1858, 180) bei Frauen weitaus besser ausgebildet seien als bei Männern.
Männliche und weibliche Bildung
Unter weiblicher Bildung wurde also dezidiert nicht Gelehrsamkeit und die Fähigkeit zu reflektierend kritischem Denken verstanden, sondern eine ethisch-moralische Charakterbildung. Mithin ging es um die Einübung in den weiblichen Tugendkanon und die Entfaltung von Fähigkeiten, die mit dem gesellschaftlich sanktionierten Rollenverhalten kompatibel waren. Wie in den Gender-Forschungen der letzten Jahre vielfach herausgestellt, wurde mit der Konstruktion der asymmetrischen Geschlechterrollen die Frau nicht nur „aus der Generalisierungsbewegung des Menschen hinauskomplimentiert“ (Honegger 1991, 2), sondern ihr wurde auch die Bestimmung zugesprochen, die häuslichen Voraussetzungen für die Bildungsbestrebungen des Mannes zu schaffen (Frevert 1988, 28). Es wurde erwartet, dass Frauen durch ihre einfühlende Sensitivität und vorbildhafte Sittlichkeit im privaten Kreis wirken. Männer der bürgerlichen Schicht konnten hingegen die aufklärerisch emanzipatorischen Ideen, die ursprünglich theoretisch für alle Menschen gedacht waren, in weitaus größerem Umfang umsetzen. Denn ihnen stand die Möglichkeit offen, durch schulische Ausbildung, universitäres Studium, Reisen, Freundschaftsbünde und berufliche Tätigkeit an unterschiedlichsten Bildungsmöglichkeiten auch im öffentlichen Bereich zu partizipieren. Da die Rolle des Mannes nicht mehr selbstverständlich durch die Herkunft vorbestimmt war, sollten in der Erziehung bewegliches Denken und Kritikfähigkeit gefördert und Kreativität unterstützt werden. Ziel konnte es deshalb nicht mehr sein, zu blindem Gehorsam zu erziehen. Insofern nun aber die Sozialisation nicht mehr als Einübung in bestehende Normen gefasst wurde, kam der Förderung von individuellen Anlagen besondere Bedeutung zu. Propagiert wurde ein freies männliches Individuum, das lernt, seine Erziehungsvorgaben durch Bildung teilweise zu überwinden. In der Mädchenerziehung sollten hingegen ethische Grundsätze und Kenntnisse vermittelt werden, die sich mit den pflegerischen, erzieherischen und dienenden Aufgaben im häuslichen Bereich vereinbaren ließen. Zwar gab es auch Gegenstimmen wie die von Theodor Gottlieb Hippel (1741 – 1796), der in seiner Schrift Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber (1792) die Bürgerrechte für die Frau forderte, da nur durch sie „die Menschheit ihrer großen Bestimmung mit schnellen Schritten zueilen“ (Hippel 1977, 208) könne. Betty Gleim (1781 – 1827), die eine Lehranstalt für Mädchen leitete, mahnte mit ihrer Schrift Erziehung und Unterricht des weiblichen Geschlechts (1810) an, dass jungen Mädchen nicht nur eine Erziehung zur Hausfrauenrolle, sondern auch eine Entfaltung der Persönlichkeit zugestanden werden müsse (Becker-Cantarino 2000). Doch die um 1800 so rege diskutierten Ideen zur Bildung, die über die zahlreichen Erziehungsentwürfe der Zeit hinausgingen, bezogen sich weitgehend auf das männliche Subjekt. Vor diesem Hintergrund ist es nur allzu verständlich, dass entsprechend den geschlechtsspezifischen Vorstellungen der Zeit die Hauptfigur des Bildungsromans ein Jüngling in der Selbsterprobungsphase ist, auf dessen Bildungsweg Frauenfiguren in vielfältiger Weise prüfend, leitend und unterstützend auf ihn wirken.