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3. Der Bildungsroman und flankierende Literaturgattungen

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Aufwertung des Theaters

Auch wenn es im ersten Moment paradox erscheint, ist die Entstehung des Bildungsromans als neue Literaturgattung im Zuge intensiver Diskussionen um die Notwendigkeit ästhetischer Erziehung zunächst einmal vor dem Hintergrund der Aufwertung des Theaters im 18. Jahrhundert zu verstehen. Denn wegen ihrer öffentlichen Wirksamkeit war die Bühne von vielen Dramatikern als Forum für aufklärerische Ideen entdeckt worden. Doch die Wanderbühnen, die größtenteils auf Jahrmärkten und großen Messen zur Belustigung des Publikums spielten, wurden bis ins letzte Drittel des 18. Jahrhunderts von den bildungsbeflissenen Bürgern nicht nur ästhetisch gering geschätzt, sondern waren auch unter moralischen Gesichtspunkten verpönt. Der Versuch des Leipziger Literaturprofessors und Dramatikers Johann Christoph Gottsched (1700 – 1766), in Zusammenarbeit mit der bedeutenden Theaterprinzipalin Friederike Caroline Neuber (1697 – 1760) literarisch anspruchsvolle Stücke auf die Bühne zu bringen, markiert einen entscheidenden Schritt hin zu einer umfassenden Theaterreform, die vom einfachen Stegreifspiel der umherziehenden Wanderbühnen bis zum ,stehenden Theater‘ und dem literarisch ambitionierten Nationaltheater führte. Mit neuen Stücken, wie Lessings bürgerlichen Trauerspielen Miß Sara Sampson (1755) und Emilia Galotti (1772), in denen die Selbstbehauptung der Protagonistin im Konflikt zwischen bürgerlichen Tugendforderungen und adliger Verführungsgewalt in Szene gesetzt wird, avancierte die Bühne zu einer „moralischen Anstalt“ (Schiller 1992), in der sich ein bürgerliches Publikum mit dem eigenen Wertekanon auseinandersetzen konnte. Damit wurde nicht nur das Schauspiel als hochstehende Kunstform gewürdigt, sondern auch das Theater als „[d]es sittlichen Bürgers Abendschule“ (Haider-Pregler 1980) zu einer Institution ästhetischer Bildung nobilitiert. So entwickelte sich die Bühne zu einem bevorzugten Medium bürgerlicher Selbstverständigung und Aufstiegsbestrebungen. Der Bildungsroman hat diese Wertschätzung des Theaters aufgegriffen und bekräftigt, insofern der Bühne als Forum der Selbsterprobung für die Hauptfiguren vielfach eine herausragende Rolle zukommt. Entscheidend ist aber, dass die Diskussion um bürgerliche Selbstbestimmung, die im Schauspiel auf unterschiedliche Dramenfiguren verteilt geführt wird, nun als „innre Geschichte“ eines Protagonisten erzählt wird.

Der Briefroman

Es ist bezeichnend, dass die Entstehung des Bildungsromans, der eine individuelle Selbstsuche entfaltet, durch narrative Gattungen flankiert wird, in denen Formen privater Verständigung literaturfähig werden. Dies trifft insbesondere für den Briefroman zu, der als Folge von fiktiven Briefen über einen individuellen Entwicklungsprozess Aufschluss gibt oder in Form eines Briefwechsels eine Lebensgeschichte von unterschiedlichen Erzählerperspektiven aus beleuchtet. Durch den gattungstypologisch gegebenen Adressatenbezug bietet der Briefroman die Möglichkeit, eine Gesprächssituation zu fingieren, bei der unmittelbare Gefühlsäußerungen und intime Geständnisse ebenso zum Thema werden können wie ästhetische Werturteile. Dass der Briefroman in besonderer Weise für geeignet erachtet wurde, weibliche Bildung im Sinne der Erfüllung von Tugendforderungen und Charakterverfeinerung zu entfalten, zeigt die Favorisierung der tugendhaften Frau als Protagonistin dieses Genres.

Richardsons Tugendromane

Zum Vorbild eines solchen Erzählens wurde vor allem der englische Schriftsteller Samuel Richardson (1689 – 1761), der in seinen Romanen bürgerliche Tugendideale und die Empfindsamkeit des Herzens gegen die unmoralische Galanterie des höfischen Adels setzte. In seinem Briefroman Pamela, or, Virtue Rewarded. In a Series of Familiar Letters from a Beautiful Young Damsel, to her Parents (1740) wird das Plotmuster der verführten Unschuld entfaltet, das später in vielen deutschsprachigen Werken aufgegriffen wurde. Die arme 15-jährige Pamela Anders kommt als Dienstmädchen in das vornehme Haus der mütterlichen Mrs. B. und wird zu einer jungen Dame erzogen. Doch nach dem Tod ihrer Förderin ist sie den Nachstellungen von deren Sohn ausgesetzt. Die junge Frau wird nach einem Fluchtversuch auf den Landsitz von Mr. B. verschleppt, doch als dem Entführer Pamelas Tagebuch in die Hände fällt, ist er von ihrer tugendhaften Unschuld so ergriffen, dass er sie gegen den Widerstand der Gesellschaft zur Frau nimmt. Um die trotz gewaltsamer Verführung unerschütterliche Tugendhaftigkeit der Frau geht es auch in einem weiteren Roman Richardsons mit dem Titel Clarissa, or, The History of a Young Lady (1748). Hier widersetzt sich die sittsame Titelprotagonistin aus bürgerlicher Familie dem Heiratsantrag eines gewissenlosen Aristokraten, selbst nachdem er sie in ein Londoner Bordell entführt und missbraucht hat. Clarissa stirbt als Märtyrerin bürgerlicher Verhaltenserwartung, denn erst nach ihrem Tod wird ihre moralische Unschuld seitens der Familie erkannt.

Gellert: Das Leben der Schwedischen Gräfin von G.

Auch in Deutschland wurde der Briefroman mit einer empfindsamen Erzählerin als Protagonistin zu einer beliebten Gattung. Christian Fürchtegott Gellert (1715 – 1769) verfasste mit Das Leben der Schwedischen Gräfin von G. (1747/48) den ersten deutschsprachigen Briefroman, in dem die Titelheldin ebenfalls als Muster christlicher Tugendhaftigkeit gezeichnet ist und auf ihr Leben Rückschau hält. Als Tochter eines Landadeligen nach aufklärerischen Idealen erzogen, heiratet sie im Alter von 16 Jahren einen schwedischen Grafen. Doch ein Prinz, der es auf die junge Frau abgesehen hat, entsendet den frisch vermählten Grafen in den Krieg. Die Gräfin flieht vor den Zudringlichkeiten des Prinzen ins Ausland und heiratet, nachdem sie vom Tod ihres Mannes erfährt, dessen Freund. Als ihr vermeintlich getöteter Mann jedoch nach langjähriger Gefangenschaft unerwartet zurückkehrt, hat für die Gräfin diese Ehe Vorrecht, jedoch bleibt das wiedervereinigte Paar auch mit dem zweiten Ehemann aufs engste verbunden. Gellert entwirft in seinem Roman ein im Folgenden häufig variiertes literarisches Modell von Privatheit, bei der von der Protagonistin auch bei größten emotionalen Verwicklungen eine an Tugendnormen orientierte, moralisch integre Lösung gefunden wird.

Bedeutung des Erziehungsromans für den Bildungsroman

Richtungsweisend für den Bildungsroman wurde aber auch der Erziehungsroman, dem für den erzieherischen Impetus der Aufklärung besondere Bedeutung zukam. Denn zunächst glaubte man noch, mit einem Tugendkanon allgemeingültige geistige und moralisch-ethische Normen als Sozialisationsziele angeben zu können. Ein seinerzeit viel gelesener Erziehungsroman war Fénelons Die Abenteuer des Telemach (Les aventures de Télémaque 1699), in dem sich – an das vierte Buch der Odyssee anknüpfend – der jugendliche Telemach auf der Suche nach seinem Vater zu einer abenteuerlichen Reise durch den Mittelmeerraum aufmacht und dabei zum Mann heranreift. Einen kaum zu überschätzenden Einfluss auf die deutschsprachige Literatur des 18. Jahrhunderts gewann dann aber Jean-Jacques Rousseaus (1712 – 1778) Erziehungsroman Emil oder über die Erziehung (Émile ou de l’éducation 1762), der als fiktive Biographie in pädagogischer Absicht konzipiert ist und mit der Jugendgeschichte des Protagonisten Emil einen exemplarischen Entwicklungsgang in genau festgelegten Erziehungsschritten entfaltet. Demnach soll das Kind nach einer Phase körperlicher Kräftigung in einem naturverbundenen Leben die Sinnesorgane stärken und seine Verstandeskräfte frei entfalten, um dann seine altersgemäße Begeisterungsfähigkeit mit dem Lesen lehrreicher Bücher wie Daniel Defoes Robinson Crusoe (1719) zu verbinden. Außerdem sind eigene wissenschaftliche Studien und das Erlernen eines Handwerks vorgesehen. Schließlich soll das sittliche und religiöse Bewusstsein ausgebildet, die Einordnung in die Gemeinschaft unterstützt und die Ichbezogenheit in Nächstenliebe überführt werden. Im Zentrum der Erziehungsvorstellungen steht zwar der Protagonist Emil, doch das fünfte Buch enthält neben allgemeinen Betrachtungen über Frauen und ihre Erziehung auch die Entwicklungsgeschichte Sophies, die dem Jüngling zur Frau bestimmt ist. Auch wenn gelegentlich vermerkt wird, dass Mann und Frau bei allen körperlichen Unterschieden von Natur aus geistig ebenbürtig sind, werden die Differenzen in ihrer ,natürlichen‘ Bestimmung deutlich hervorgehoben. Aus Sophies zukünftiger Aufgabe, Kinder zu gebären und aufzuziehen, folgt auch ihre häusliche Rolle. Sie soll zu einer liebevollen Mutter und hingebungsvollen Gattin erzogen werden, denn die anthropologische These Rousseaus lautet, dass die Frau geschaffen ist, um dem Mann gefällig zu sein. Für den Bildungsroman ist Rousseaus Emil oder über die Erziehung nicht nur ob der hier formulierten Erziehungsvorstellungen in hohem Maße prägend geworden, sondern auch im Hinblick auf die Stufenfolge der Entwicklung und die Ergänzungsfunktion der Frau für den männlichen Selbstfindungsprozess.

Autobiographie als individuelle Lebensgeschichte

Die Gattung Autobiographie, die es in unterschiedlichen Ausformungen bereits seit der Antike gibt, veränderte sich im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts entscheidend (Wagner-Egelhaaf 2005). Die erzählte Lebensgeschichte eines Autors war zuvor religiöse Lebensbeichte, Berufsautobiographie oder Abenteuergeschichte gewesen, doch nun wurde sie zur Darstellung einer individuellen Lebensgeschichte, deren Einzigartigkeit nachdrücklich betont wird. Auch hier wirkte Rousseau mit seiner postum erschienenen Autobiographie Bekenntnisse (Les Confessions 1782/88) prägend auf die Romane der Zeit. Geradezu programmatisch kündigt Rousseau zu Beginn des ersten Buches eine rückhaltlose Offenheit seines Erzählens an: „Ich will vor meinesgleichen einen Menschen in aller Wahrheit der Natur zeigen, und dieser Mensch werde ich sein.“ (Rousseau 1985, 37) Mit seiner schonungslosen Selbstanalyse wollte er zur Erkenntnis über den menschlichen Charakter beitragen, denn über exemplarische Lebensläufe sollte die Leserschaft für das eigene Leben lernen. So formulierte auch Herder in Bezug auf die Autobiographie: „Hätte ein einzelner Mensch nun die Aufrichtigkeit und Treue, sich selbst zu zeichnen, ganz wie er sich kennet und fühlet […]: welche lehrende Exempel wären Beschreibungen von der Art!“ (Herder 1994, 341) Der Wunsch, individuelle Existenz zur Anerkennung zu bringen, wie er der neuen Form der Autobiographie zugrunde liegt, prägt auch die Gestaltung des Bildungsromans. Während die Autobiographie aber meist aus der Altersperspektive geschrieben und mit einer Lebensbilanz verbunden ist, wird im Bildungsroman ein jungendlicher Protagonist in der Phase suchender Selbsterprobung zur Hauptfigur.

Spezifik des Bildungsromans

Somit geht es bei der Darstellung eines Lebensweges im Bildungsroman immer auch darum, ihm in seiner unverwechselbaren Individualität gerade durch die Entfaltung des inneren Erlebens seinen signifikanten Ausdruck zu verleihen. Vor dem Hintergrund der sozialgeschichtlichen Entwicklung der ,Sattelzeit‘ mit der wirkungsmächtigen Diskursivierung humantitätsphilosophischer Bildungsvorstellungen und der Favorisierung individualitätsexplizierender Literatur gibt der Bildungsroman der epochalen Veränderung in der Bestimmung des Menschen ästhetische Form. Die Entstehung des Bildungsromans verdankt sich zweifelsohne der herausragenden künstlerischen Blütezeit um 1800, in welcher die deutschsprachige Literatur überzeitliche Bedeutung und in dieser Klassizität auch Weltgeltung erreichte. Auch wenn in späteren Epochen die humanitätsphilosophische Bildungsidee nur noch als historische Reminiszenz Gestalt gewann, ist für den Bildungsroman weiterhin prägend, dass mit der Entfaltung einer individuellen Lebensgeschichte auch die Reflexion über die jeweiligen geschlechtsspezifischen Erziehungsvorstellungen und Individuationswünsche verbunden ist. Darüber hinaus bleibt die Möglichkeit ästhetischer Bildung unter sich wandelnden medialen und kulturellen Bedingungen wesentliches Ferment des Bildungsromans.

Einführung in den Bildungsroman

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