Читать книгу Einführung in den Bildungsroman - Ortrud Gutjahr - Страница 6
Оглавление[Menü]
I. Gattungsbegriff
1. Begriffsbestimmung Bildungsroman
Systematische Ordnungskategorie
Der Begriff Bildungsroman bezeichnet eine zentrale und lange Zeit hoch besetzte Gattung der deutschsprachigen Literatur. Als literaturwissenschaftliche Ordnungskategorie steht der Begriff für einen im Deutschland des späten 18. Jahrhunderts entstandenen Romantypus, in dem der Bildungsgang eines jugendlichen Protagonisten zumeist von der Kindheit bis zur Berufsfindung oder Berufung zum Künstler thematisiert wird. Der Gattungsbegriff Bildungsroman steht einerseits für eine literarhistorische Innovation, insofern festgestellt werden konnte, dass sich gegenüber früheren Erzählwerken ein zukunftsweisender Romantypus herausgebildet hatte. Andererseits wurde durch werkvergleichende Untersuchungen evident, dass einer Gruppe neuartiger Romane in signifikanter Weise Form- und Inhaltsmerkmale gemeinsam sind. Die Gattung Bildungsroman ist also eine nach philologischen Kriterien zusammengestellte Textgruppe, die sich sowohl durch transhistorische Konstanten als auch epochenspezifische Ausformungen auszeichnet. Bildungsromane unterschiedlicher Epochen lassen sich somit in diachroner Analyse nach zeitübergreifend konstanten Strukturmerkmalen untersuchen. Für eine synchrone Betrachtungsweise werden hingegen Bildungsromane eines definierten Zeitraums in ihren Gemeinsamkeiten hinsichtlich epochenspezifischer Modellierung und zeittypischer Diskursformationen von Interesse.
Traditionsbildendes Muster der Gattung
Mit der Begriffsfindung Bildungsroman war unweigerlich auch eine Traditionsbildung verbunden, denn es musste notwendig ein Roman bestimmt werden, der als erster die Gattungskennzeichen in vollem Umfang erfüllt. Als ein solches vorbildhaftes Muster der Gattung Bildungsroman wurde Johann Wolfgang von Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96) bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts gesehen. Ihm kommt als Begründungstext der Tradition des Bildungsromans herausragende Bedeutung zu, da sich nicht nur gattungstypologische Kennzeichnungen an ihm orientierten, sondern er auch zum Vorbild für nachfolgende Romane wurde. Jede Beschäftigung mit der Gattung ist deshalb notwendigerweise auf die Auseinandersetzung mit Goethes paradigmatischem Werk verwiesen.
Bildungsroman als ,deutsche‘ Literaturgattung
Eine Besonderheit der Gattung Bildungsroman besteht darin, dass sie weder Vorläufer in der antiken Literatur hat, da hier nur das Versepos existierte, noch auf vorbildgebende Beispiele in den zeitgenössischen europäischen Literaturen zurückgreifen konnte. Vielmehr wurde die Gattungsbestimmung zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Deutschland vornehmlich aus der Analyse deutschsprachiger Romane gewonnen. Der Bildungsroman gilt deshalb als spezifisch deutsche Literaturgattung, und bis heute wird der Begriff Bildungsroman auch in anderen Sprachen als Terminus technicus verwandt; zum Beispiel im Englischen neben Bezeichnungen wie apprenticeship novel oder novel of formation, im Französischen neben Begriffen wie roman d’éducation oder roman de formation.
Gattungstypologischer Kern und Bildungscurriculum
Bei aller Varianz in den Kriterien, die zur Bestimmung der Gattung im Laufe der Zeit entwickelt wurden, hat sich aus einem Bündel von Merkmalen gleichsam ein gattungstypologischer Kern herausgebildet. Erzählt wird demnach die Entwicklungsgeschichte eines jugendlichen Protagonisten bis ins Erwachsenenalter hinein als Weg der Selbstfindung und zugleich sozialen Integration. Der Bildungsgang gleicht dabei einem Reifungsprozess, bei dem natürliche Anlagen in einem gesellschaftlichen Umfeld über Konflikt- und Krisenerfahrungen zur Ausbildung gelangen. Gemäß dieser Grundkonzeption wird im Bildungsroman für die Hauptfigur ein Bildungscurriculum entfaltet: Nach den Kinder- und Jugendjahren unter spezifisch häuslichen Bedingungen und Erziehungsforderungen folgen Jahre der Welterkundung, in denen es durch Wanderschaft oder Reisen zur Begegnung mit bisher unbekannten soziokulturellen Kontexten kommt. In einer Abfolge von Bildungsstationen wird die Reichweite von Talenten unter Beweis gestellt und die Realisierungsmöglichkeit von Lebensplänen geprüft. Damit einher geht ein Selbstreflexions- und Reifungsprozess, denn anerzogene Wertvorstellungen wie eigene Orientierungen müssen angesichts neuer Lebensumstände ihre Brauchbarkeit erweisen. Mithin werden Weltsicht und Selbsteinschätzung im Verlauf der Entwicklung zukunftsgerichtet modifiziert, so dass die Integration in neue soziale Kontexte gelingen kann. Im Bildungsroman geht es somit um die Reifung eines Protagonisten, der in spannungsvoller Auseinandersetzung mit sozialen Ordnungen und der natürlichen Umwelt das Ziel verfolgt, eine seinen Neigungen und Wünschen angemessene und zugleich gesellschaftlich kompatible Lebensform zu finden.
Epochenspezifische Veränderungen und notwendige Ausweitung des Gattungsbegriffs
Insofern sich der Gattungsbegriff Bildungsroman auf eine epochenübergreifende Grundstruktur bezieht, bleibt er einer Traditionsbildung verbunden, die auf Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre zurückgeht. Darüber hinaus aber stellt jede Beschäftigung mit neueren Romanen unter gattungstypologischen Aspekten eine Herausforderung dar, die Tradition der Begriffbestimmungen Bildungsroman daraufhin zu überprüfen, ob sie dem innovativen Potential der jeweiligen Werke vor dem Hintergrund ihres spezifischen Entstehungskontextes überhaupt gerecht werden können. Denn unter literaturwissenschaftlichen Fragestellungen sind Gattungsdefinitionen vitale Einheiten im sozialhistorischen Prozess, die für Veränderungen und Erweiterungen um neue Aspekte offen gehalten werden müssen. In diesem Zusammenhang ist an den Gattungsdefinitionen zum Bildungsroman auffällig, dass sie sich, wenn vom Protagonisten die Rede ist, auf eine männliche Hauptfigur beziehen, wie dies beispielsweise in der Formulierung deutlich wird, dass im Bildungsroman „die Selbstvervollkommnung des (männlichen) Individuums im Mittelpunkt“ (Voßkamp 2004, 21) steht. Der Hinweis in Klammern fehlte in früheren gattungstypologischen Bestimmungen, denn dass allein ein männlicher Protagonist Held eines Bildungsromans sein könne, wurde als selbstverständlich vorausgesetzt. Wir werden also im Verlauf dieser Einführung zu fragen haben, weshalb das so ist und inwiefern Gattungsdefinitionen, die sich an Bildungsromanen des 18. und 19. Jahrhunderts orientieren, für die heutige Literatur modifiziert werden müssen.