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Postfaktisches Zeitalter?
ОглавлениеWas folgt aus unseren Überlegungen zu diesen drei neuen Entwicklungen in unserem Verständnis von Wissen? Experten wie Laien nehmen Signale aus der Außenwelt auf und verbinden sie mit den in ihrer Kultur gängigen Deutungsmustern. Das gilt für alle Menschen in einem Kulturkreis, unabhängig ob sie Experten oder Laien sind. Experten haben aber eine Reihe von Regeln aufgestellt, die ihnen auf der einen Seite erlauben, klare Zuschreibungen für Phänomene zu schaffen (eindeutige Definitionen) und bei den [37] kausalen Beziehungen methodische Regeln einzuhalten, die den Forschernden helfen, Fehlurteile bei der Zuordnung von Ursachen und Folgen (etwa bloße Korrelationen zwischen Ereignissen) zu vermeiden und das zufällige Zusammentreffen von Ereignissen von kausalen Beziehungen zu trennen.54 In der Alltagswahrnehmung hat sich dagegen eine Fülle von sogenannten Faustregeln (Heurismen) der Wahrnehmung herausgebildet, die eine schnelle und für den Alltag auch zuverlässige Zuordnung von Ursachen und Folgen erlauben, die aber in Einzelfällen auch zu Fehlurteilen führen können. Dies wird uns im nächsten Kapitel noch eingehend beschäftigen.
Gleichzeitig haben aber auch die systematischen Methoden der Wissenschaft ihre Grenzen und Probleme. Sie bewegen sich in der Regel auf einem Abstraktionsniveau, das oft dem jeweiligen Einzelfall nicht gerecht wird und das all diejenigen Elemente ausblendet, die einer systematischen, in der Regel wiederholbaren und im Labor reproduzierbaren, Erfassung entgegensteht. Aus diesem Grunde ist es durchaus gerechtfertigt, neben dem systematischen Wissen der Wissenschaft auch das Erfahrungswissen der Praktiker, das über viele Jahrhunderte angesammelte endogene Wissen von Kulturen sowie das individuell geformte Alltagswissen bei der Erklärung und Prognose von Phänomenen mit einzubeziehen.55 Erst die Synthese vieler Wissensbereiche kann uns dem Ziel näherbringen, mehr Ähnlichkeit zwischen unseren Deutungen und den Phänomenen der Außenwelt zu schaffen.
Allerdings ist diese Bemühung um Synthese nicht als eine generelle Relativierung des wissenschaftlichen Kenntnisstands zu verstehen. Wenn es um die Frage nach den Ursachen für komplexe Phänomene geht, ist keine Institution besser geeignet, diese Frage sachgerecht zu beantworten, als die Wissenschaft. Sie hat im Verlaufe der kulturellen Evolution gelernt, belastbare Regeln für die Unterscheidung zwischen wahren und falschen Rückschlüssen auf der Basis von systematischer Beobachtung und Experiment zu erstellen. Auch wenn jede wissenschaftliche Erkenntnis eine Mischung [38] aus Beobachtung und kulturabhängiger Deutung darstellt und damit auch relativ zu ihrer Entstehungsgeschichte zu sehen ist, so ist sie doch zu dem Zeitpunkt, an dem sie den Stand des Wissens wiedergibt, prinzipiell besser geeignet, als Richtschnur für die Beurteilung von generalisierbaren Sachverhalten zu dienen als jede andere Form des Wissens.56
Der Philosoph Jürgen Mittelstraß hat diese Einsicht in einer Rede vor der Humboldt-Universität mit folgenden Worten beschrieben:57
Die wissenschaftliche Vorgehensweise hat uns „vor einem falschen Relativismus bewahrt. Dass eine Theorie ihre Deutung in der Regel nicht festlegt, bedeutet nicht, dass jede Deutung, sei sie eine wissenschaftliche oder eine philosophische Deutung, gleich gut wäre“.
Bei aller Ablehnung des Relativismus ist aber gleichzeitig zu betonen, das Wissenschaft bei komplexen und stochastischen Wissensbeständen keine eindeutigen Antworten geben kann, selbst wenn sie es wollte oder man ihr alle Forschungsmittel dieser Welt zur Verfügung stellen würde. Es verbleiben immer Unsicherheiten und mehrdeutige Interpretationsmöglichkeiten.
Wir haben dieses Kapitel begonnen mit der Frage: Gibt es alternative Fakten? Und unsere Antwort lautet nun: Ja und Nein. Wenn mit diesem Begriff alternative Wahrheitsansprüche und unterschiedliche Auffassungen über die Realität gemeint sind, dann ist die Antwort: Ja. Wenn aber damit eine Pluralität von objektiver Wahrheit zum Ausdruck kommen soll, dann ist die Antwort: Nein. Wir sind in unserem Erkenntnisvermögen ständig konfrontiert mit unterschiedlichen Wahrheitsansprüchen, also Hypothesen über das, was wahr sein könnte. Aber wir können darauf vertrauen, dass sich unser Wissen sukzessiv dem Stand annähert, wie die Welt für uns real wirkt. Dabei finden wir oft nur eine Bandbreite von faktischen Wirkungen [39] vor, über die wir lediglich Aussagen zu ihrer Wahrscheinlichkeit machen können. Das verwirrt viele und gibt Anlass zu der Vermutung, die Wissenschaft wisse das auch nicht so genau, dann könne man auch gleich die eigene Meinung zum Maßstab des Wissens machen. Stochastische Aussagen sind kein Zeichen der Schwäche, sondern der Stärke wissenschaftlicher Erkenntnis.58 Auch unsichere Aussagen aus der Wissenschaft durchlaufen eine stringente Überprüfung nach methodischer Zuverlässigkeit, theoretischer Stimmigkeit und inhaltlicher Gültigkeit (vor allem in den sogenannten peer review Prozessen, also Prüfverfahren durch andere Expertinnen und Experten unter Beibehaltung der Anonymität). Die Stochastik macht unser Wissen vielfältiger und facettenreicher, aber nicht ungenauer. Je besser es uns gelingt, die Bandbreite der möglichen Folgen eines auslösenden Ereignisses zu bestimmen, desto mehr können wir darauf vertrauen, dass die sich darauf aufbauenden Handlungsoptionen (es kann dann nicht nur eine geben) als relevante Orientierungen für ein zweckgerichtetes Handeln erweisen. Gleichzeitig bedeutet Stochastik aber auch, dass wir die bequeme Sichtweise, wir müssten nur A tun, um B zu erhalten gegen eine wesentlich kompliziertere Sichtweise eintauschen müssen. Wir haben immer mehrere Handlungsmöglichkeiten, die alle mit unterschiedlichen Wahrscheinlichkeiten und Unsicherheiten positive wie negative Auswirkungen zeitigen werden. Dazu benötigen wir eine Kultur der Abwägung, eine Kultur, die Konflikte aushält und ausgewogene und für alle Betroffenen faire Entscheidungen über die Wahl der Handlungsoptionen trifft. Was gar nicht hilft, ist die Schaffung oder Erfindung von uns gerade genehmen alternativen Fakten.