Читать книгу Gefühlte Wahrheiten - Ortwin Renn - Страница 8
Die Komplexitätswende
ОглавлениеAber ist es nicht so, dass auch die Wissenschaft häufig irrt oder gar nicht vorhersagen kann, welche Konsequenzen unsere Handlungen haben? Wie oft haben sich Experten und Expertinnen getäuscht? Berühmt ist die Aussage des Physikgenies Albert Einstein zum Thema Atomenergie: „Es gibt nicht das geringste Anzeichen, dass wir jemals Atomenergie entwickeln können.“23 Diese Prognose war wohl offensichtlich falsch, auch wenn viele Länder, darunter Deutschland, sich erst 2011 dazu entschlossen haben, diesen Weg der Stromerzeugung aufzugeben. Es gibt ganze Sammlungen folgenreicher Irrtümer berühmter Wissenschaftler.24 Allerdings sind diese Prognosen meist gar nicht aus methodisch überprüften Wahrheitsansprüchen entwickelt worden, sondern geben subjektive Einschätzungen berühmter Leute wieder, die sich genauso irren können wie jede und jeder von uns. Gleichzeitig gibt es auch Wahrheitsansprüche, die zunächst in der Wissenschaft als bestätigt angesehen wurden, sich dann aber als falsch erwiesen haben. Das liegt vor allem daran, dass auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Komplexität der untersuchten Sachverhalte nicht gut genug verstanden haben. Um das besser einschätzen zu können, ist eine nähere Erläuterung von Kausalität als Grundelement wissenschaftlicher Analyse notwendig.
[25] Die Zuordnung von Ursachen zu Folgen ist ein basales Element unseres Denkens und Handelns. Soweit wir wissen, verfügen alle Sprachen dieser Welt über Worte, die auf kausale Zusammenhänge hinweisen.25 In der deutschen Sprache sind das die Konjunktionen „weil“, „da“ oder „immer wenn …, dann“. Viele Anthropologen sind der Ansicht, dass die Erfolgsgeschichte des Menschen in der natürlichen Evolution weitgehend darauf beruht, dass die Gattung Mensch zum kausalen Denken fähig ist und damit aus Interventionen hat lernen können.26 Einfach ausgedrückt: Aus Schaden wird man klug.
So offenkundig das kausale Denken in unserem Alltag verankert ist, so schwierig ist es aber, Kausalität als eine objektivierbare Größe zu fassen. Ob es in der Natur wirklich Kausalität gibt, kann niemand sagen.27 So resümiert etwa Albert Einstein:28
„Die einer Theorie zugrundeliegenden Begriffe und Grundgesetze (…) sind freie Erfindungen des menschlichen Geistes, die sich weder durch die Natur des menschlichen Geistes noch sonst in irgendeiner Weise a priori rechtfertigen lassen (…). Insofern sich die Sätze der Mathematik auf die Wirklichkeit beziehen, sind sie nicht sicher, und insofern sie sicher sind, beziehen sie sich nicht auf die Wirklichkeit“.
Noch deutlicher hinsichtlich des konstruktiven Charakters der Kausalität bewegen sich die Auffassungen des Soziologen Niklas Luhmann:29
[26] „Die Frage lautet nicht mehr, welche Ursache welche Wirkung hat, sondern wie eine Zuordnung von Wirkungen auf Ursachen und von Ursachen auf Wirkungen konstruiert wird; und vor allem: wer bestimmt, was dabei unberücksichtigt bleiben kann. (…)“
Wir können jedoch mit Fug und Recht behaupten, dass bestimmte Folgen immer wieder mit bestimmten auslösenden Ereignissen verbunden sind und wir deshalb pragmatisch so handeln können, als ob diese Auslöser für die Folgen verantwortlich wären. Wenn wir uns dreimal auf eine heiße Herdplatte gesetzt haben und den entsprechenden Schmerz spüren, dann ist es folgerichtig zu schließen, dass Hitze bei Menschen Schmerzen verursacht und man von daher den Kontakt mit heißen Gegenständen möglichst meiden sollte. Natürlich könnte man auch zu anderen Schlussfolgerungen kommen: Etwa, dass man sich nicht auf Eisenplatten setzen sollte, weil dies zu Schmerzen führe. Weitere Experimente mit kalten Eisenplatten könnten dann aber zu einer Korrektur dieses ersten Eindruckes führen.
Im Verlaufe der menschlichen Geschichte haben Kulturen gelernt, das durch individuelle Erfahrung angesammelte Wissen über fortlaufende Interventionen und Rückmeldungen Schritt für Schritt zu systematisieren, zu dokumentieren (erst mündlich, dann schriftlich und heute per Datenbank) und an die folgenden Generationen weiterzugeben. Dazu gehört auch das kausale Wissen, das uns hilft, negative Erlebnisse zu vermeiden und positive zu fördern. Trotz all dieser Lernprozesse müssen wir immer damit rechnen, dass die Rückschlüsse, die wir aus unseren Interventionen ziehen, den realen Gegebenheiten nicht entsprechen und vielleicht erst künftige Generationen hier zu einer besseren Einsicht gelangen.30
In einer idealen, abgeschlossenen Welt lassen sich für alle Phänomene Ursachen und Wirkungen angeben und folgerichtig, wenn man die Ursachen kennt, auch die Folgen vorhersagen. Wenn man beispielsweise immer wieder beobachtet hat, dass Wasser bei 100 Grad zu kochen beginnt, dann kann ich mit großer Sicherheit vorhersagen, dass das Wasser in einem Topf, den ich in 10 Minuten erhitzen werde, ebenfalls bei 100 Grad kochen wird. Diese Prognose, so wissen wir heute, gilt nicht für alle Gegenden der Welt [27] und verändert sich je nach Außendruck. Bei einem Schnellkochtopf macht man sich die Abhängigkeit der Siedetemperatur vom Außendruck beispielsweise zunutze, indem man den Innendruck im Topf erhöht. Durch eine Druckerhöhung von meist einem Bar (1.000 hPa) erreicht man auf diese Weise eine Steigerung der Siedetemperatur des Wassers von 100 °C auf ungefähr 120 °C. Gleichzeitig kann man auf molekularer Ebene nachweisen, dass die einzelnen Moleküle nicht genau bei 100 Grad den Siedepunkt erreichen, sondern deren Siedepunkte statistisch um diesen Wert streuen. Genau genommen kocht Wasser also nicht bei 100 Grad, sondern nur im Schnitt aller Moleküle unter Normaldruck.
Viele physikalischen Ursache-Wirkungsbeziehungen gelten nur unter bestimmten Randbedingungen. Diese zu erforschen ist eine wichtige Aufgabe der Physik. Je mehr diese Randbedingungen in unterschiedlicher Richtung und Stärke sowie auf die ursprüngliche Ursache-Wirkungskette Einfluss nehmen, also den Effekt verstärken oder abmildern, desto schwieriger wird es für die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Phänomene zu erklären und erst recht zu prognostizieren. Kausales Wissen ist also nicht voraussetzungslos, sondern ist in den jeweiligen Anwendungskontext eingebunden.
Doch die Welt ist noch komplexer, als das Beispiel mit der Siedetemperatur von Wasser nahelegt. Bei vielen naturwissenschaftlichen Phänomenen, wie etwa dem Wetter oder dem Klimawandel, liegen zwischen dem auslösenden Ereignis und den dadurch bewirkten Konsequenzen eine Vielzahl von einflussnehmenden Variablen, die bestimmte Effekte verstärken, abschwächen oder sogar außer Kraft setzen. Häufig ist den Wissenschaftsteams die Summe aller möglichen Einflussfaktoren gar nicht bekannt. Dann lässt sich zwar ein bestimmter kausaler Wirkungsverlauf nachzeichnen, aber kaum quantitativ berechnen oder gar vorhersagen.31 Darüber hinaus sind viele kausale Beziehungen nichtlinear. Das bedeutet, dass es erst ab bestimmten Schwellenwerten zu einer Wirkung kommt oder aber dass bestimmte Zusammenhänge in einem Zeitabschnitt parallel, dann aber in [28] einem anderen Abschnitt entgegengesetzt verlaufen oder etwa mit exponentieller Kraft auseinanderdriften. Winzig kleine Veränderungen bei einer Ursache oder mehreren Ursachen können daher zu unerwartet großen Ausschlägen bei den Wirkungen führen.
Ein bekanntes Beispiel dafür ist der sog. Schmetterlingseffekt.32 Danach soll das Schlagen eines Schmetterlingsflügels in einem Gebiet eine Wetterveränderung in einem anderen Gebiet auslösen. Ein wesentlich realistischeres Beispiel ist das Umkippen eines Sees durch Eutrophierung.33 Wenn man kontinuierlich Nährstoffe wie Phosphate oder Nitrate in einen See einleitet, so wird dieses Biotop bis zu einer bestimmten Grenze der Konzentration relativ gut mit diesen Schadstoffen fertig. Es kommt sogar zu einem stärkeren Algenwuchs und einer Verbesserung der Nahrungsgrundlage für Fische. Es sieht so aus, als ob der See völlig robust auf diese eingeleiteten Schadstoffe reagieren würde. Wird diese bestimmte Grenze aber überschritten, dann erfolgt relativ schnell der Kollaps aufgrund von Sauerstoffmangel. Wo genau die Grenze zum Umkippen liegt, kann man im Voraus nicht berechnen, da hier jeder See als ein einzigartiges System von Einfluss- und Wirkungsketten zu betrachten ist. Dies ist wie bei einem Kippschalter, mit dem man einen Effekt ein- und ausschalten kann, wie etwa bei einer Wohnzimmerlampe.34 Es bedarf zunehmenden Drucks, um den Schalter zu bewegen. Ist aber einmal der notwendige Druck vorhanden, dann tritt der Effekt sofort ein und das System ändert sich ruckartig. Jede Druckausübung, die nicht ausreicht, um den Schalter zu bewegen, hat dagegen keine Wirkung. Leider kennen wir für viele Systeme den genauen Druckpunkt der Belastungsgrenze nicht.35 Und anders als beim Lichtschalter können wir in komplexen Systemen zwar den Schalter bewegen und den Effekt einschalten; [29] wir wissen aber meist nicht, wie wir ihn wieder ausschalten können. Gelegentlich verschwindet auch der Schalter, wenn man ihn einmal gedrückt hat. Dann haben wir es mit irreversiblen Veränderungen zu tun.36
Viele der Gefahren, die die Menschheit heute bedrohen, wie der Klimawandel oder die globale Finanzkrise haben diesen nichtlinearen Funktionsverlauf. Wir können uns lange Zeit in Sicherheit wähnen, weil unsere Handlungen offenkundig keine Änderungen im umgebenden System auslösen. Dann aber plötzlich tritt der Schaltereffekt auf. Zu diesem Zeitpunkt ist es aber in der Regel entweder gar nicht, nur mit extrem großen Aufwand oder erst nach langen Zeiträumen möglich, den Schalter wieder auf „Normal“ zurückzusetzen.
Was bedeutet dies für die Frage nach der Belastbarkeit von Wissen? Ist die Welt so komplex, dass wir sie gar nicht erkennen können, sondern immer wieder im Dunkeln stochern und uns in der Illusion wiegen, wir hätten komplexe Systeme verstanden? Ganz so aussichtlos ist die Situation nicht. In den vergangenen Jahrhunderten und Jahrzehnten haben Wissenschaftler viele hochkomplexe Systeme analysiert und sind auch zu gehaltvollen Einsichten gekommen37. Allein die Tatsache, dass wir es geschafft haben, unsere Lebenserwartung in den OECD-Ländern in den letzten 150 Jahren mehr als zu verdoppeln, ist schon ein Beleg dafür, dass unser Wissen, vor allem das Wissen um die inneren Abläufe in unserem Körper sowie über die genetischen und epigenetischen Vorgänge in unseren Körperzellen ständig besser und präziser geworden ist.38 Auch die erfolgreiche Entwicklung von Technologien zeugt von der Wirksamkeit der hinter dieser Entwicklung stehenden wissenschaftlichen Erkenntnisse. Dass diese Technologien oft mehr Probleme, etwa für Umwelt und Gesundheit, als Nutzen schaffen, ist weniger eine Frage der Begrenztheit des Wissens, als eine Frage der Kriterien, nach denen wir dieses Wissen bewerten und umsetzen. Auch Landminen erfüllen genau den Zweck, für den sie entwickelt worden sind, so moralisch verwerflich sie auch sein mögen. Wissenschaftliches Wissen hilft uns, Zusammenhänge zu erkennen und aus dieser Einsicht heraus [30] Handlungsoptionen zu entwerfen und deren Folgen abzuschätzen, sie können uns aber nicht die schwierige Aufgabe abnehmen, die Erwünschtheit dieser Folgen zu bewerten und nach ethischen Gesichtspunkten Handlungsoptionen abzuwägen (siehe dazu Teil VI). Je komplexer die Zusammenhänge sind, desto unsicherer ist das Wissen und desto eher sind Irrtümer und Fehlprognosen zu erwarten. Aber eins ist klar: Methodisch abgesicherte Erkenntnisse sind dann immer noch eine bessere Richtschnur zum Handeln als reine Intuition oder der Rückgriff auf Plausibilität.39 Auf die Irrtümer der Intuition und Plausibilität werden wir noch im zweiten Teil zu sprechen kommen.