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[7] Einleitung

Wir erleben in Deutschland aktuell ein in der Gesellschaft weit verbreitetes Misstrauen in die Problemlösungsfähigkeit der Politik, in die Fairness der Wirtschaft und die Unabhängigkeit der Wissenschaft.1 Viele Menschen sind zutiefst verunsichert darüber, welche kollektiv verbindlichen Normen und Werte weiterhin Geltung haben und inwieweit ihre Interessen und Anliegen bei den Entscheidungsinstanzen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft noch gut aufgehoben sind. Zusätzlich fühlen sie sich von der Komplexität der Erklärungsversuche der intellektuellen Eliten erdrückt und suchen nach einfachen, aber plausiblen Erklärungen.

Dies ist ein idealer Nährboden für Populisten in Politik und Gesellschaft. Sie bieten plausibel nachvollziehbare Welt(erklärungs)bilder, die allzu oft weder der faktischen Überprüfung noch den ethischen Prinzipien der Menschenrechtskonventionen genügen. Die Deutungsangebote der Populisten gewinnen ihre besondere Attraktivität dadurch, dass sie Orientierungssicherheit und Rückversicherung versprechen, und zwar für alle, die den Eindruck haben, ihre Interessen und Anliegen kämen in der offiziellen Politik [8] zu kurz und die gängigen Erklärungsmuster der auf weitere Modernisierung eingeschworenen Eliten seien wenig überzeugend und nachvollziehbar.

Die Gesellschaftswissenschaften haben diese Entwicklung in Politik und Gesellschaft mit Begriffen belegt, die mit der Vorsilbe „post“ beginnen. Seit langem sprechen wir schon von der Postmoderne, dem Postindustrialismus oder dem Poststrukturalismus.2 Jetzt sind aber neue „Post“-Begriffe hinzugekommen. Die Liste ist umfangreich: postfaktisch, postethisch, postdemokratisch, postmedial, postinstitutionell u. a. m. Das Wort postfaktisch wurde sogar zum Wort des Jahres 2016 erkoren.3 Mit der Vorsilbe „post“ wird die Hilfslosigkeit der intellektuellen Elite bei der Zeitgeistdeutung zum Ausdruck gebracht. Man weiß, das Alte ist vorbei, man kann aber das Neue noch nicht benennen. Es ist etwas anderes als das Gewohnte, aber man weiß noch nicht genau, was es ist, und vor allem, wohin es sich weiter entwickeln wird.

Mit diesem Buch habe ich den Versuch unternommen, angesichts der Hilflosigkeit in den intellektuellen Eliten und der zunehmenden Verunsicherung der Bürgerschaft über das, was faktisch und moralisch noch Geltung hat, eine Orientierung zu den Post-X-Tendenzen und ihren Folgen zu vermitteln. X steht hier für alle die Begriffe, die zur Charakterisierung einer Entwicklung gewählt wurden, bei denen man sich über das Wesen oder die Struktur noch unklar ist, aber gleichzeitig Zeichen dafür sieht, dass ein Wandel eingesetzt hat. Die Post-X-Tendenzen habe ich auch als Gliederungsmerkmal genutzt, um eine Tendenz nach der anderen aufzugreifen und zu erläutern. Am Anfang stehen Diagnosen zu den verschiedenen Post-X-Tendenzen im Vordergrund, ab Teil V dann Vorschläge für den Umgang mit diesen Tendenzen.

Mein Anliegen ist, Verunsicherung abzubauen und wieder mehr Zutrauen in die eigene Gestaltungskraft der engagierten Bürgerschaft, aber auch mehr Zuversicht in die Leistungskraft der zentralen Institutionen von Wissenschaft, [9] Politik und Zivilgesellschaft zu wecken. Um dies zu verdeutlichen, habe ich aktuelles Hintergrundwissen zusammengestellt. Es ist mir wichtig, die Leserinnen und Leser darüber aufzuklären, warum Post-X-Tendenzen eine solche nachhaltige Wirkung auf Individuen und Gruppen in unserer Gesellschaft ausüben. Gleichzeitig möchte ich auch einen Blick auf die Herausforderungen der Zukunft werfen. Dass dazu auch politische Reformen gehören, die zur Bereicherung der jetzigen politischen Kultur notwendig sind, wird sich im Verlauf des Buches noch erschließen.

Viele meiner Beispiele entstammen meinem eigenen Forschungsfeld, der Risikoforschung.4 Darauf habe ich auch häufig zurückgegriffen. Denn gerade die Frage, was unsere Gesellschaft bedroht, bestimmt weitgehend den postfaktischen, postdemokratischen und postethischen Diskurs. Gibt es den Klimawandel oder ist er eine Fiktion? Sind unsere Lebensmittel mit Pestiziden vergiftet oder ist das alles Panikmache? Gibt es mehr Straftäter unter den nach Deutschland eingewanderten Flüchtlingen als unter der deutschen Bevölkerung? Wie groß ist die Gefahr terroristischer Anschläge in Deutschland? Diese Fragen werden mit großer Vehemenz und oft mit Leidenschaft in der Öffentlichkeit debattiert. Gerade Populisten nutzen die Ängste vor solchen Bedrohungen aus, um ihre eigenen machtpolitischen Ambitionen auszuleben. Das Buch kann zwar nicht auf alle diese Fragen eine umfassende Antwort geben, aber es beleuchtet die Mechanismen, mit denen Populisten und Demagogen auf Stimmenfang gehen. Es zeigt die Prozesse der intuitiven Verarbeitung und Bewertung von Botschaften auf, die einen Ausweg aus Verunsicherung und Angst versprechen. Wie diese Botschaften kritisch überprüft werden können, soll mit der Lektüre des Buches deutlich werden.

Im Kern meiner Ausführungen steht das Bild einer souveränen und mündigen Person, die sich der verführerischen Rhetorik von politischen Scharfmachern bewusst ist und nach bestem Wissen und nach angemessener Abwägung politische Urteile und Entscheidungen fällt. Ich möchte an die politische Mündigkeit der Leserschaft anknüpfen und ihr Hilfestellung anbieten, wie man von gefühlten Wahrheiten zu fundierten Gewissheiten oder auch zu Anerkenntnis von Ungewissheit und Nichtwissen kommen [10] kann. Dazu sollte man die Gründe für die Anfälligkeit gegenüber populistischen Strömungen besser verstehen lernen und einen gesunden Skeptizismus gegenüber intuitiv eingängigen Erklärungsmustern entwickeln. Gleichzeitig möchte ich auch die Leserinnen und Leser5 ansprechen, die selber in der öffentlichen Debatte stehen und sich in ihrem beruflichen oder öffentlichen Umfeld mit populistischen Forderungen und Erklärungen konfrontiert sehen. Ihnen soll das Buch helfen, die Mechanismen besser zu verstehen, die für die hohe Attraktivität populistischer Weltbilder verantwortlich sind.

Ich habe mich um eine Ausdrucksweise bemüht, die zwar wissenschaftlich korrekt, aber auch ohne Vorkenntnisse in Psychologie oder Sozialwissenschaften gut verständlich und nachvollziehbar ist. Für all diejenigen, die es genauer wissen wollen oder die noch Hinweise auf weiterführende Literatur oder fachliche Debatten zu den angesprochenen Themen wünschen, habe ich ein ausgedehntes Fußnotenverzeichnis angefertigt. Darin sind nicht nur meine Quellen im Einzelnen aufgelistet, sondern vor allem auch Lesehinweise und inhaltliche Vertiefungen eingefügt.

Das Buch richtet sich in erster Linie an Bürgerinnen und Bürger, die sich angesichts der neuen Tendenzen in Politik und Gesellschaft verunsichert fühlen und mehr Hintergrundinformationen und Erklärungen, aber auch konkrete Handlungsorientierungen wünschen. Im Teil VI des Buches erweitere ich die Perspektive: In diesem Teil möchte ich auch meine Kolleginnen und Kollegen von der Wissenschaft, aber ebenso die Verantwortlichen in Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft gezielt ansprechen. Denn viele der Vorschläge und Anregungen, vor allem im Schlusskapitel, bauen darauf auf, dass auch die Entscheidungsträgerinnen und -träger ihren Anteil an einer konstruktiven Gestaltung unserer Lebenswelt, die auf solides Wissen und demokratische Tugenden und Werten angewiesen ist, übernehmen.

Zum Schluss möchte ich noch all den Personen danken, die am Zustandekommen dieses Buches mitgewirkt haben. In erster Linie danke ich meiner Frau Regina Renn und meinem Sohn Fabian Renn, die beide mit kritischem Auge das Manuskript geprüft und viele wichtige Impulse zu dessen Verbesserung beigetragen haben. Frau Viola Gerlach und Frau Jutta Weißbrich [11] haben die Mühe auf sich genommen, das gesamte Manuskript gegenzulesen und kritisch zu überprüfen. Dafür bin ich sehr dankbar. Frau Arieta Thaqi hat mich bei der Suche nach aussagekräftigen Daten zur Ausländerund Flüchtlingskriminalität tatkräftig unterstützt. Frau Saul vom Rowohlt Verlag gilt mein besonderer Dank für die Betreuung und das Lektorat der ersten E-Book Version dieses Buches, Frau Thea Blinkert für die Betreuung durch den Budrich Verlag.

Potsdam, den 01.03.2019

Ortwin Renn

Anmerkungen

1 Wie aus der 2018 durchgeführten Befragung durch „Wissenschaft im Dialog“ deutlich wird, sind lediglich 40 % der befragten Deutschen der Überzeugung, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler tatsächlich zum Wohl der Gesellschaft arbeiten (siehe: https://www.wissenschaft-im-dialog.de/projekte/wissenschaftsbarometer/wissenschaftsbarometer-2018/ (abgerufen am 1.3.2019)). Zweifel an der Problemlösungskapazität der Politik sind ebenfalls gut dokumentiert, z.B. in: Bundeszentrale für Politische Bildung (2018): Glaubwürdigkeit in Politik, Medien und Gesellschaft. Bonn: bpb. Siehe auch: „Einerseits sinkt das Vertrauen der Bürger/innen in die Politik, weil sie den Politiker/ innen nicht mehr zutrauen, zukunftsfähige Lösungen für wichtige gesellschaftliche Probleme entwickeln und durchsetzen zu können. Andererseits haben aber auch die Politiker/innen nur wenig Vertrauen in die Bürger/innen. So bestehen zum Beispiel große Zweifel, dass die Bevölkerung ein offenes Ansprechen der Probleme und die erforderlichen Veränderungen akzeptiert (aus: Denkwerkstatt „Politik und Vertrauen“: Die Rolle von Vertrauen in Politik, Wirtschaft und sozialen Netzwerken. Berlin: Friedrich Ebert Stiftung, S. 29). Zur Wirtschaft siehe: https://www.welt.de/wirtschaft/article162861858/Wem-die-Deutschen-ueberhaupt-noch-vertrauen.html (abgerufen am 1.3.2019). Nicht einmal ein Drittel der befragten Personen äußert Vertrauen in wirtschaftliche Konzerne, besonders stark betroffen sind die durch den Dieselskandal angeschlagenen Automobilkonzerne. Hier ist das Vertrauenspotenzial gegenüber 2016 um 17 Prozentpunkte eingebrochen (aber mit 54 % immer noch recht hoch verglichen mit Finanzdienstleistern und Banken, die es nur auf 35 % Vertrauen bringen).

2 Einen guten Überblick über die Postmoderne und ihre Ableger bietet das Buch von: Zima, P.V. (2016): Moderne/ Postmoderne. 4., korrigierte Auflage. A. Francke Verlag, UTB: Tübingen, hier vor allem S. 21ff.

3 Die Wörter des Jahres 2016 wurden am 9. Dezember 2016 von der Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) bekannt gegeben. Wie in den vergangenen Jahren wählte die Jury, die sich aus dem Hauptvorstand der Gesellschaft sowie den wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zusammensetzt, aus diesmal rund 2.000 Belegen jene zehn Wörter und Wendungen, die den öffentlichen Diskurs des Jahres wesentlich geprägt und das politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben sprachlich in besonderer Weise begleitet haben. Auf Nummer 1 kam das Wort „postfaktisch“. Siehe: http://gfds.de/wort-des-jahres-2016/ (abgerufen am 31.10.2018).

4 Wer dazu mehr erfahren will, sei auf mein Buch: Renn, O. (2014): Das Risikoparadox. Warum wir uns vor dem Falschen fürchten. Fischer Taschenbuch: Frankfurt am Main verwiesen. Mehrere Abschnitte sind auch aus diesem früheren Werk in aktualisierter Form in das vorliegende Buch übernommen worden.

5 Ich habe mich in diesem Buch um eine gender-neutrale Ausdrucksweise bemüht. Um aber allzu sperrige Wortkonstruktionen zu vermeiden, habe ich bei zusammengesetzten Worten wie Bürgerbeteiligung oder bei Pluralkonstruktionen (die Teilnehmer) auf eine explizite Dopplung von männlichen und weiblichen Formen verzichtet.

Gefühlte Wahrheiten

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