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Die stochastische Wende
ОглавлениеMit dem Thema Unsicherheit berühren wir eine dritte Dimension im Verständnis moderner Wissenschaft. Vor allem im Rahmen der Naturwissenschaften galt lange die Regel: Wenn A, dann B, wenn nicht A, dann nicht B. Diese einfache kausale Beziehung zwischen A und B wird als Determinismus bezeichnet.40 Immer dann, wenn A vorliegt, können wir B erwarten. Und wenn A nicht vorliegt, dann gibt es auch kein B. Diesen einfachen Zusammenhang kann man am Beispiel mit dem heißen Herd noch einmal verdeutlichen. Immer dann, wenn ich mich auf eine heiße Herdplatte setze, verbrenne ich mir das Gesäß. Wenn ich mich nicht auf eine heiße Herdplatte setze, verbrenne ich mich nicht. Das klingt alles sehr logisch und trivial. Unser physikalisches Schulwissen ist zum großen Teil auf solchen deterministischen Gesetzmäßigkeiten aufgebaut. Mechanik, Optik, Magnetismus: Immer stoßen wir auf klare funktionale Zusammenhänge, die eindeutige Beziehungen zwischen den Variablen festlegen.
Mehr und mehr haben wir aber erfahren, dass beim Vorliegen der Ausgangsbedingung A die Konsequenz B nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auftritt, und auch andere Konsequenzen, beispielsweise C und D [31] ebenfalls mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu erwarten sind. Diese neue Erkenntnis wird in der Mathematik unter dem Begriff der Stochastik abgehandelt.41 Stochastische Zusammenhänge bedeuten, dass zwischen zwei Phänomenen zwar eine kausale Beziehung besteht, diese sich aber nur mit Hilfe einer Wahrscheinlichkeitsverteilung abbilden lässt. Der Philosoph Bruno Latour hat dies in dem provokativen Satz zusammengefügt: „Nein, wir werden niemals mehr sichere Erkenntnisse haben.“42
In diesem Zusammenhang ist die sogenannte Glockenkurve von besonderer Bedeutung, bei der ein Zusammenhang zwischen A und B gleichmäßig um einen Mittelwert streut und die Wahrscheinlichkeiten der Abweichung vom Mittelwert links und rechts sukzessiv kleiner werden. Eine solche Glockenkurve ist in Bild 2 dargestellt.
Bild 2: Typischer Verlauf einer Glockenkurve zur Erfassung einer Wahrscheinlichkeitsverteilung
Quelle: MEDI-LEARN Skript Physik - Abbildung 1 - Seite 5, Häufigkeitsverteilung und Gauß'sche Glockenkurve, www.medi-learn.de/phy-1
[32] So sind beispielsweise Männer in Deutschland im Schnitt 180,2 cm groß. Allerdings ist nur ein winzig kleiner Anteil der deutschen Männer genau 180,2 m. Aber in dem Intervall zwischen 175 und 185 finden sich rund 47 % aller Männer in Deutschland.43 Die Glockenkurve für die Körpergröße bei Männern und Frauen ist in Bild 3 dargestellt.44
Bild 3: Körpergröße der Bundesbürgerinnen und Bundesbürger
Quelle: Statista
Der größte jemals gemessene Mann war der Amerikaner Robert Pershing Wadlow (1918–1940). Im Guinness Buch der Rekorde ist er mit einer Körpergröße von 272 cm gelistet.45 Der kleinste Mann der Welt war der Inder Gul Mohammed (1957–1997). Dieser war lediglich 57,15 cm groß.46 Das [33] heißt, die Glockenkurve breitet sich rechts und links weit aus, aber dennoch sind es nur ganz wenige Individuen, die an den beiden äußeren Rändern der Glockenkurve liegen. Man kann sogar mathematisch genau angeben, wie es unten am Bildrand von Bild 2 verzeichnet ist, wie viele Fälle in Prozent in den jeweiligen Abschnitten zu erwarten sind.
Das klingt auf den ersten Blick banal, ist aber für das Verständnis wissenschaftlichen Wissens sehr bedeutsam. Viele Missverständnisse zwischen Wissenschaft und ihren Abnehmern rührt aus dem mangelnden Verständnis stochastischer Beziehungen. In meinem Gebiet, der Risikoforschung, sind stochastische Aussagen oft schwer zu illustrieren und noch schwerer zu kommunizieren.47 Wenn ich beispielsweise über die Risiken des Zigarettenrauchens referiere, kann ich sicher sein, dass einer aus dem Publikum aufspringt und mit einem gewissen Grad an Häme den Mithörerinnen verkündet, dass sein Onkel Herbert 95 Jahre alt sei und mindestens zwei Packungen am Tag rauche. Von irgendwelchen Tumoren oder anderen Krankheiten sei er weit entfernt. Um dann abschließend zu resümieren: So schlimm, wie Sie es darstellen, kann das Rauchen gar nicht sein!
In einer stochastischen Welt gibt es junge Menschen, die weder rauchen, noch Alkohol trinken und jeden Tag Sport treiben und dennoch mit 35 Jahren einen tödlichen Herzschlag erleiden, ebenso gibt es steinalte Personen, die zu viel Alkohol trinken, zu viel rauchen, übergewichtig sind und sich auch nicht mehr vom Sofa wegbewegen, ohne dass sie an schweren chronischen Erkrankungen leiden. Wenn man die Glockenkurve wieder zurate zieht, dann verschiebt sich der Mittelwert der Kurve beim Raucher bzw. bei der Raucherin von links nach rechts, d. h. die Wahrscheinlichkeit, an Krebs zu erkranken, steigt erheblich an. Aber am linken unteren Rand der Kurve gibt es immer noch Personen, die trotz erheblichen Zigarettenkonsums uralt werden, während am anderen Ende bereits 30-jährige Nichtraucher von Lungenkrebs betroffen sind. Die gängige Formel: Wer raucht, stirbt an Krebs, ist also falsch. Wissenschaftliche Untersuchungen haben zweifelsfrei ergeben, dass sich die Wahrscheinlichkeit, an Krebs zu erkranken, bei Rauchern, [34] gegenüber Personen, die nicht rauchen, ungefähr verdoppelt.48 Das bedeutet aber nicht, dass alle Raucherinnen und Raucher an Krebs erkranken werden. Im Gegenteil: Eine knappe Mehrheit der Raucher und Raucherinnen wird nicht an Lungenkrebs erkranken. Aber es werden wesentlich mehr sein als unter den Personen, die nicht rauchen.
In der öffentlichen Wahrnehmung der Stochastik hat dies zu zwei diametral unterschiedlichen Reaktionsweisen geführt.49 Wenn ich selber ein bestimmtes riskantes Verhalten an den Tag lege, etwa Zigaretten rauche oder Extremsportarten betreibe, dann bin ich in der Regel auf die linke Seite der Glockenkurve fixiert. Ich gehe davon aus: Mir wird schon nichts passieren! Werde ich dagegen unfreiwillig einem Risiko ausgesetzt, so bin ich in der Regel auf die rechte Seite der Glockenkurve fixiert. Gleichgültig wie gering die Wahrscheinlichkeit, es trifft immer mich! Im Zweifel will ich lieber auf der sicheren Seite sein. Better safe than sorry! Diese beiden diametralen Reaktionsweisen machen den Dialog zwischen denjenigen, die Risiken verursachen, und denjenigen, die Risiko erleiden, extrem mühsam. Sofern ich von einem Risiko profitiere, bin ich auf der linken Seite der Kurve (es wird schon gut gehen), wenn ich ein Risiko erleide, auf der rechten Seite (es wird sicherlich alles schiefgehen). Obwohl beide Gruppen sich auf die gleiche Wahrscheinlichkeitsverteilung beziehen, also die gleiche Wissensgrundlage teilen, finden Sie nicht zusammen, weil sie aus eigenem Interesse eher auf die eine Seite der Wahrscheinlichkeitsfunktion oder auf die andere Seite fixiert sind.
Ein gutes Beispiel dafür ist die Diskussion um das Pflanzenschutzmittel Glyphosat.50 Die Hersteller des Mittels und die landwirtschaftlichen Nutzer [35] werden nicht müde zu betonen, dass dieses Mittel in der Konzentration, in der es Konsumenten aufnehmen, mit nur einer verschwindend geringen Wahrscheinlichkeit krebserzeugend sei. Das Risiko sei nicht null, aber extrem gering. Zudem seien Pflanzenschutzmittel wie Glyphosat für die Sicherung der Welternährung von großem Nutzen. Die Gegner des Pflanzenschutzmittels argumentieren dagegen, dass unabhängig von der Höhe der Wahrscheinlichkeit Menschen unfreiwillig einem krebserzeugenden Mittel ausgesetzt seien und diese Gefährdung grundsätzlich nicht tolerabel sei, weil endliche Wahrscheinlichkeit bedeutet: Eine von vielen wird Krebs bekommen.51 Und das nur, um höhere Erträge bzw. Gewinne bei der Erzeugung von Lebensmitteln zu erzielen. Zudem sei der Nutzen einer gesicherten Ernährung auch ohne chemische Pflanzenschutzmittel erreichbar. Beide Seiten sind auf jeweils eine Seite der Verteilung fixiert; sie finden nicht zusammen, weil sie die jeweils andere Seite ausblenden.
Diese klassische Polarisierung finden wir in nahezu allen Kontroversen in unserer Gesellschaft. Besonders brisant ist es bei der Frage, wie wahrscheinlich es ist, das männliche Flüchtlinge aus arabischen Ländern in Deutschland kriminell werden.52 Auch hier können wir nur Verteilungen angeben: Dass ein beliebiger aus Arabien stammender Flüchtling eine schwere Straftat in Deutschland begeht, liegt im statistischen Jahresmittel bei weniger als 1 %. Das heißt mehr als 99 % aus dieser Gruppe begehen keine schwere Straftat pro Jahr in Deutschland. Dennoch ist das Risiko von 1 % nicht Null. Es gibt also Menschen aus den arabischen Staaten, die hier in Deutschland schwere Straftaten begehen. Das weiß hierzulande inzwischen dank intensiver Medienberichterstattung jede Person (ausführlicher in Teil III). Jeder Einzelfall ist für viele Menschen der Beleg dafür, dass die ganze Gruppe zu solchen Straftaten neigt. Hier mit Stochastik zu argumentieren, ist in einer politisch aufgeladenen Situation meist vergeblich. Denn es stimmt auch, dass junge männliche Flüchtlinge aus den arabischen Staaten häufiger straffällig werden als deutsche Staatsangehörige.
[36] Die stochastische Wende ist eines der besonders schwierigen Merkmale bei der Vermittlung wissenschaftlichen Wissens. Nach wie vor gibt es noch viele Wissensbestände, die deterministische Zusammenhänge beschreiben. Hier kann man wesentlich leichter Fakten und falsche Aussagen über angebliche Fakten auseinanderhalten. Je mehr wir aber über komplexe Zusammenhänge wissen, desto häufiger entdecken wir stochastische Wirkungen. Dabei ist unklar, ob die Welt in sich stochastisch strukturiert ist (intrinsische oder ontologische Indeterminanz), ob wir Wirkungen nur statistisch beschreiben können (statistische Indeterminanz) oder ob unser Wissen einfach nicht ausreicht, um alle deterministischen Beziehungen in einer komplexen Gemengelage zu erfassen (epistemische Indeterminanz). Wie immer es auch sein mag, viele Aussagen der Wissenschaft sind heute stochastischer Natur und liefern demgemäß keine eindeutigen Ergebnisse, sondern eine Bandbreite an möglichen Ursache-Wirkungsbeziehungen. Diese Bandbreite ist aber keineswegs beliebig. Außerhalb der Bandbreite gibt es weiterhin falsche und absurde Wahrheitsansprüche, die sich nicht belegen lassen. Mit der Einführung stochastischer Überlegungen werden Aussagen über die Wirklichkeit nicht mehr eindeutig, sondern es gibt mehrere wissenschaftlich gleich gut belegte Aussagen, die parallel Geltung beanspruchen können. Mit dieser Pluralität von Wissensbeständen müssen wir leben (lernen).53