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VIERTES KAPITEL Willkommen im System El Sur

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In den Achtzigerjahren war Los Angeles eine komplexe Stadt. Sie umfasste das wohlhabende angelsächsische Beverly Hills ebenso wie das gewalttätige Viertel der Schwarzen und Latinos. Hier die friedliche Ruhe eines Brunchs in der Sonne, dort das Blut und der Schmutz brutaler Kämpfe in allen Gassen.

Immer mehr Salvadorianer kamen in die Stadt. Tag für Tag strandeten hier Hunderte von ihnen, die schmutzigen Rücken mit dem Staub des sich ausweitenden Bürgerkriegs bedeckt. Sie waren immer mehr durch Gewalt geprägt. Viele von ihnen waren Deserteure, die es vorzogen, in den Norden zu flüchten, von dem sie wenig wussten, anstatt in den Bergen El Salvadors in bewaffneten Auseinandersetzungen, die sie mal mehr, mal weniger verstanden, zu sterben.

Mit dem Barrio 18 betrat Richard eine neue, alles verschlingende und gewalttätige, aber faszinierende Welt. Die Welt der Banden des Systems El Sur. Dort, wo er herkam, wusste man, was man zu tun hatte, wenn man einen Feind sah. Man legte sein Gewehr an, zielte und schoss. In der Welt des El Sur war das anders. Jeder Straßenzug, jedes Viertel der Latinos wurde von einer Gang kontrolliert, die im Allgemeinen den Namen des jeweiligen Viertels trug: Hawaian Gardens 13, White Fence 13, Florencia 13, La Puente 13, Varrio Nuevo Estrada, Artensia 13, Pacoimas 13 … Allesamt hispanische Viertel, allesamt im Krieg. Es gab auch Gangs mit anderen Namen wie die Crazy Riders 13, die Verrückten mit ihren Macheten und Äxten, oder die imposante, uralte Gang Playboy 13, elegante, aber grausame Männer, die schmalkrempige Hüte, Krawatten, zugeknöpfte Hemden und glänzende Schuhe trugen und mit Baseballschlägern die Normandie Avenue verteidigten. Mexikanische Auswanderer, pachucos, die sich untereinander erkannten, indem sie die Spitzen von Zeige- und Mittelfinger und Daumen aneinanderlegten und dabei Ringfinger und kleinen Finger wie Kaninchenohren abspreizten. Aber alle spielten dasselbe Spiel.

Das mit der 13 ist nichts anderes als eine Anspielung. Sie steht für die Mexican Mafia und ihr allmächtiges Komitee. Das M ist der dreizehnte Buchstabe des Alphabets. Um anzuzeigen, dass sie dem System El Sur angehören, verwenden die Mareros die 13 in ihrem Namen.

Wenn Richard von jenen Jahren spricht, rutscht er nervös auf seinem Stuhl hin und her und vermischt englische und spanische Wörter miteinander. All das faszinierte ihn. An einem Tag waren die Mitglieder einer bestimmten Bande seine Todfeinde, und am nächsten Tag, in einer kalifornischen Strafanstalt, waren sie seine Verbündeten im Kampf um den Gefängnishof gegen die Schwarzen. Wenn man jung ist, ist Geschwindigkeit verlockend. Aber immer auch gefährlich.

Die Salvadorianer eroberten mehrere der Stadtviertel, in denen niemand bruncht. Viele von denen, die in eine Bande des El Sur eintraten, schlossen sich dem Barrio 18 an, dessen Geschichte in die Fünfzigerjahre zurückgeht und dessen Arm bis ins mächtige Komitee der Mexican Mafia reicht, wo er mehr als ein Mitglied sitzen hat. Die Salvadorianer traten trotz des Widerstands der Mexikaner und chicanos in Hunderte hispanischer Gangs des Systems El Sur ein. Aber ihre eigentliche Heimat blieb die Mara Salvatrucha, die Organisation der Zentralamerikaner, gebildet von ihnen und für sie, um sich zu verteidigen.

Schnell begriffen sie die Grundzüge des Spiels, aber nicht seine Feinheiten. Sie kamen aus einem brutalen Land. Sie kannten kein Maß. Es war, als würde man einem Neandertaler das Boxen beibringen.

»Die Crazy Riders 13 zum Beispiel wurden richtig gefährlich, als die Salvadorianer hinzukamen. Bewaffnet mit langen Macheten und ausgestattet mit großen Kanthölzern zum Schärfen der Klingen, fuhren sie auf einem Pick-up durch die Gegend. Sie waren verrückt, in der Mehrzahl handelte es sich um Indios aus San Miguel [einem Department im Osten El Salvadors]«, erzählt Richard, der Ex-18er.

Das musste auch der Salvadorianer Juan feststellen, als er Mitglied der Shalimar 13 werden wollte, einer kleinen Gang in Orange County. Man sagte ihm, er solle ein paar Mitglieder der Alley Boy 13 umbringen, und gab ihm eine Pistole. Doch als der Junge aus Ilobasco, einem der vom Krieg am schwersten betroffenen Gebiete in El Salvador, schießen wollte, stellte er fest, dass die Waffe nicht geladen war. Es war nur ein Test, dem sich alle unterziehen mussten, die in die Gang aufgenommen werden wollten, und seine neuen Freunde warteten lachend in einem Wagen auf ihn, um ihn fortzubringen, bevor die Feinde Jagd auf ihn machten. Aber als Juan sah, dass er seinen Gegnern ausgeliefert war, zog er die Pistole, die ihm sein Onkel geschenkt hatte, und schoss einigen von ihnen in den Kopf. Später, im Wagen, schob er den Pistolenlauf einem seiner entsetzten Freunde in den Mund und warnte sie davor, jemals wieder so einen Blödsinn zu veranstalten. Und in den zehn Jahren, die Juan der Anführer dieser Gang war, kam es tatsächlich nie wieder vor. Juan wurde 2010 nach El Salvador abgeschoben, und dort, in seinem Geburtsort Ilobasco, erzählte er seine Geschichte. Die Tätowierungen am ganzen Körper, einschließlich dem Gesicht, hinderten ihn daran, in Frieden zu leben. Die Polizei verfolgte ihn, auch die MS-13 und der Barrio 18 waren hinter ihm her. Er ging schließlich illegal in die USA zurück, allerdings nicht nach Kalifornien, sondern in einen Bundesstaat, wo es »weniger gewalttätig« zuging.

Mitte der Achtzigerjahre erhöhten die Salvadorianer ihren Einsatz im großen Spiel des Systems El Sur. In Los Angeles war der Tod ein extremer Vorfall, aber dort, wo diese Jungen herkamen, gehörte er zum Alltag.

Bald genügten den Mareros die Auseinandersetzungen mit den Partygangs und den kleinen, fast bandenmäßig organisierten Gruppen nicht mehr. Sie waren dabei, in eine andere Liga aufzusteigen. Im Osten von Los Angeles forderte eine Gang namens La Raza Loca die langhaarigen, ganz in Schwarz gekleideten und immer im Rudel auftretenden Jungen heraus. Das war ein Fehler. Nur wenige von ihnen kamen mit dem Leben davon. In einem anderen Bezirk, in der Nähe des San Fernando Valley, lockte die MS eine komplette Gang in einer verlassenen Fabrik in den Hinterhalt. Die Mareros wandten Methoden der von den durch Reagan geschaffenen Eliteeinheiten an. Sie verprügelten ihre Opfer die ganze Nacht hindurch und zwangen sie dann, in die Mara einzutreten. Einige kamen zu den Mareros der Gegend um den Lafayette, andere zu denen von der Berendos und wieder andere zu denen von der Leeward. Und auch die Gang Boulevard Hollywood bekam einige ab. Alle diese Zellen wollten ihre Reihen erweitern, um innerhalb des Systems El Sur stärker zu werden. Um mehr Schlachten zu gewinnen, musste man mehr Soldaten haben.

Sie vertrieben die Drogendealer aus ihren Gebieten und überfielen die Autodiebe. Während die Salvadorianer, die anderen Banden des Systems El Sur beigetreten waren, das System zu verstehen versuchten, machten sich die Mitglieder der Mara Salvatrucha Stoner gar nicht erst die Mühe. Sie glaubten, dass der kalifornische Süden sich ihnen anpassen musste, nicht umgekehrt.

Der riesige und allseits respektierte Barrio 18 betrachtete amüsiert das wüste Chaos bei den Mareros. Anfangs waren sie natürliche Verbündete. Viele neue Mitglieder des Barrio 18 waren Salvadorianer. Einige von ihnen hatten bereits einen angesehenen Rang in der Organisation erreicht. Sie luden sie zu ihren Festen ein und zeigten ihnen, wie sich ein Mitglied des Systems El Sur zu verhalten hatte. Sie erzählten ihnen im Flüsterton von den großen Herren der M und davon, wie sie den kalifornischen Süden aus dem Gefängnis heraus kontrollierten.

So wuchsen die Mareros im Schatten des Barrio 18 heran. Aber noch waren sie so etwas wie eine wilde, ungeschliffene Version jener Organisation.

El Burro (»Der Esel«), ein altes Mitglied der Mara Salvatrucha 13, erzählt, dass seine erste Begegnung mit den Mitgliedern des Barrio 18 nicht so verlief, wie es in den Berichten der Bandenmitglieder normalerweise dargestellt wird. El Burro war bei einer Schießerei dabei, die sich die Mareros mit einer Gruppierung oder Zelle des Barrio 18, die unter dem Namen Tiny Winos bekannt war, in der Nähe eines Platzes lieferten. Es ging um die Kontrolle des Drogenhandels in diesem Gebiet. Niemand wurde verletzt, aber seit jenem Tag im Jahre 1984 gingen die Mara Salvatrucha und der Barrio 18 auf Distanz. Wie zwei Brüder, die miteinander im Streit liegen. Dabei wussten im Grunde beide, dass sie sich für den Rest ihres Lebens nicht mehr aus dem Weg gehen konnten. Zum endgültigen Bruch sollte es erst Jahre später kommen.

»Wir haben an Quantität gewonnen, aber an Qualität verloren«, sagt drei Jahrzehnte später eine Frau Anfang fünfzig in einem Café in einer der exklusivsten Gegenden von San Salvador. Sie war eine der wenigen Frauen auf der Befehlsebene innerhalb der Organisation gewesen. Obwohl sie voller Respekt von der Mara Salvatrucha 13 und ihrem Aufstieg spricht, hält sie sich heute von dem Bandenleben und seinen Gefahren fern. Damit das so bleibt, werden dies die einzigen Zeilen in diesem Buch sein, die von ihr handeln.

»Als wir ins System El Sur aufgenommen wurden, gewannen wir an Respekt, mussten aber eine Menge Dinge opfern. Ich war nicht einverstanden, und viele andere meiner Generation auch nicht. Aber wir mussten akzeptieren, was die Mehrheit wollte.«

Nach und nach landeten Mareros in den kalifornischen Strafanstalten. Dort stellten sie fest, dass ihre Kühnheit, die sie draußen auf der Straße gezeigt hatten, ihnen im Gefängnis nichts nutzte. Sie hatten mit keiner Bande des Sur ein festes Bündnis, nur das, was von ihrer Freundschaft mit dem Barrio 18 übrig geblieben war. Und offiziell waren sie nie dem System El Sur beigetreten. Mit anderen Worten, sie standen nicht unter dem Schutz der Mexican Mafia. Sie mussten die Schikanen der anderen Sureños ertragen und waren gegen die Banden der Schwarzen auf sich allein gestellt – auf den Fluren, den Gefängnishöfen und den Sportplätzen des gesamten kalifornischen Strafvollzugs. Und sie verloren fast immer, auch wenn sie es heute nicht gerne zugeben. Also blieb ihnen nichts anderes übrig, als die Zahl 13 am Ende ihres Namens zu akzeptieren und nach und nach ihre Vergangenheit als satanische Rocker zu vergessen. Um 1983 waren sie unter dem inzwischen berühmten Namen Mara Salvatrucha 13 praktisch im System El Sur angekommen, obwohl sie – Gesetz der Straße – offiziell erst ein Jahrzehnt später zu einer Bande des Systems ernannt wurden.

»Die, die aus dem Gefängnis kamen, waren nicht mehr so wie wir«, sagt ein altes Mitglied jener Jahre. »Sie hatten keine langen Haare und kleideten sich nicht mehr schwarz. Sie waren jetzt cholos: rasierte Schädel, Ohrringe, weite Hosen und weiße Hemden, Gefängnis-Tattoos. Anders eben. Sie hörten nicht mehr Black oder Death Metal. Sie waren jetzt fast wie die Mexikaner, die chicanos, cholos. Wie welche vom Sur eben.«

Doch in der Mara Salvatrucha wird alles mit Blut besiegelt. Die romantische Vergangenheit der MSS, als sie noch auf Friedhöfen Leichen ausgegraben und zum dröhnenden Heavy Metal Grabsteine geklaut hatten, musste endgültig begraben werden.

Ende 1985 ermordeten hommies der Crazy Riders 13 in einer Gasse, die die 6th Street mit der Avenue Virgil verbindet, ein Mitglied der MS. Der Junge, dessen Tod den Zorn der Salvadorianer heraufbeschwor, hatte einen düsteren Namen, der an die Stoner-Vergangenheit erinnerte: Black Sabbath. Er starb im Krankenhaus, vor den weinenden Augen seiner homeboys. Es war der erste hommie, den sie beweinen mussten. Das war ihr Eintrittspreis, ihr Blutzoll. Die Stoner waren gestorben, und die Mara Salvatrucha 13 trat blutend dem System El Sur bei. Sie hatten jetzt einen Toten zu rächen, eine Münze, mit der sie das Spiel des Sur spielen konnten.

Die Männer und Frauen, die diese Geschichten erzählen, haben sie persönlich erlebt. Die meisten von ihnen fühlen sich nur noch emotional oder durch alte Freundschaften mit der Bande verbunden. In beliebten Cafés im Zentrum von San Salvador oder beim Bier an einer Theke in Dallas, Texas, erzählen sie unter Tränen von ihrem früheren Leben. Sie sind keine Mitglieder der Mara Salvatrucha 13 mehr, aber sie waren es, und wenn sie über die Bande sprechen, tun sie das so respektvoll wie jemand, der über seine Familie spricht. Einige sind Lehrer an Primarschulen, andere Klempner. Und es gibt welche, die preisen die Tugenden Gottes in Kirchen der Pfingstler in den vergessenen Vierteln von San Salvador oder Guatemala-Stadt. Sie enthüllen uns die Geheimnisse der MS und bitten als Gegenleistung nur darum, ihr eigenes Geheimnis nicht zu verraten. Ihre Namen werden auf diesen Seiten nicht genannt werden.

El Niño de Hollywood

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