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21. April

­Melanie stand in der Dorotheenstraße vor der gigantisch wirkenden Erlöserkirche. Bereits der äußere Anblick des Gotteshauses mit den vier Türmen erinnerte sie an eine Kathedrale. Als sie den Innenraum betrat, ließ sie die Inneneinrichtung einige Minuten auf sich wirken. Aufgrund des dunklen Wandmarmors und der riesigen Goldmosaike im Deckengewölbe, kam ihr die Hagia Sophia in Istanbul und deren byzantinischer Baustil in den Sinn. Sie überlegte eine Weile, ob das in der Kuppel hängende Lichtkreuz dazu passte, akzeptierte es dann schließlich. Interessant empfand sie zudem die Besucherplätze, die aus einfachen Stuhlreihen bestanden.

Sie hätte ewig hier stehen und die Atmosphäre aufsaugen können. Wann war sie zuletzt in einer Kirche gewesen? Vermutlich bei ihrer Konfirmation und das war zwanzig Jahre her. Auch wenn der Ort keinen vollwertigen Ersatz für ihren geliebten Strandkorb darstellte, fühlte sie sich hier geborgen. Ein wunderbarer Platz, um zur Ruhe zu kommen und die Gedanken fließen zu lassen.

Sie schlenderte zu einem Stuhl in der hintersten Ecke und setzte sich. Das würde ihr Stammplatz werden. Plötzlich dachte sie an den Vater. Sie nahm das Handy aus der Jackentasche und las wieder Anjas Kurznachricht vom Morgen. Er habe sich spürbar erholt, nachdem in den Tagen davor das Schlimmste zu befürchten gewesen sei. Er registriere die Umwelt, und sein Zustand wäre stabil, trotzdem sei nicht damit zu rechnen, dass sich die Lähmungserscheinungen und das Sprachvermögen deutlich verbessern könnten. ­Melanie steckte das Telefon wieder ein und lächelte. Die Worte gaben ihr Hoffnung.

Ihre Gedanken wanderten zu der Gaststätte, in der sie den Schlüssel zu Jan Wolters Verschwinden vermutete.

Die Menschen, die sie bisher getroffen hatte, erschienen ihr ungewöhnlich und bei manchem spürte sie ein Geheimnis. Sah man vielleicht von ­Rosenthal ab, der nett und normal wirkte.

­Melanie wurde vor allem aus dem merkwürdigen Auftritt des obdachlosen Grafen nicht schlau. Weshalb hatte er ausgerechnet an ihrem Tisch die düsteren Sätze gesprochen, die wie eine Warnung klangen.

Genauso interessierte sie der aggressive Rechte. Warum trieb sich Schneider in der Wirtschaft rum, obwohl er Hausverbot hatte. Wollte er provozieren oder verbarg sich etwas Ärgeres dahinter? Mit wem hatte er sich am Brunnen im Kurpark getroffen? Der Rotbärtige hatte auf sie den Eindruck gemacht, als erteile er dem Jungen Aufträge. Es war zu schade, dass sie nicht herausgefunden hatte, wer er war. Mittlerweile war sie sicher, dass er sie bemerkt und im Parkhaus bewusst abgehängt hatte. Sonst wäre er bestimmt mit einem Auto herausgekommen und sie hätte sich das Kennzeichen merken können. Anscheinend war er durch einen der Fußgängerausgänge verschwunden. Blöd gelaufen, aber nicht mehr zu ändern. Allerdings war sie fest davon überzeugt, ihn wiederzusehen.

***

Im Silbernen Bein saßen Marion Klettke und ein untersetzter Mann, der ihr in Sachen Hippieaussehen in nichts nachstand an einem der Tische. Das musste dieser Werner Mumer sein, von dem ­Rosenthal gesprochen hatte. Er schien etwas älter als Marion zu sein. Die einzig an den Schläfen und dem Hinterkopf vorhandenen braunen Haare waren im Nacken zu einem langen Zopf zusammengefasst. Zu einem bunten Hemd trug er eine schwarze Lederhose und Sandalen, aus denen grellgrüne Socken lugten. Vor ihnen standen gerippte Gläser mit einer gelblichen Flüssigkeit.

­Rosenthal winkte ­Melanie vom Stammtisch aus zu.

„Hallo, Herr ­Rosenthal.“ Sie setzte sich unaufgefordert zu ihm.

Er grinste sie an. „Ralf! Hier duzen sich alle.“

„Gern, wenn du mich Mel nennst.“ Irgendwie mochte sie ihn.

­Sabrina kam mit einem Lächeln herbei und stellte eine Kräuterlimonade auf den Tisch. Zu ­Melanies Überraschung nahm sie ebenfalls Platz.

„Wie ich sehe, haben Sie Anschluss gefunden. Schön, denn wer in so kurzer Zeit das dritte Mal bei uns ist, sollte nicht allein bleiben. Ich heiße übrigens ­Sabrina.“ Sie streckte ­Melanie die Hand hin, die sie mit einem Lachen ergriff.

„­Melanie, aber sag bitte Mel.“

In den nächsten Minuten glaubte sie sich in einem Verhör zu befinden, was sie ein bisschen amüsierte. ­Sabrina fragte sie regelrecht aus, wobei ­Melanie wenig Mühe hatte, unbefangen zu antworteten. Einzig ihren Beruf und den wahren Grund ihrer Anwesenheit verschwieg sie. Sie behauptete vielmehr, dass sie eine Büroangestellte sei, die ein paar Monate Auszeit genommen habe, um sich Deutschland anzusehen. Dabei würde sie sich treiben lassen.

„Und“, bohrte Ralf, „wie findest du Bad Homburg?“

„Ausgesprochen schön! Besonders die Altstadt mit dem Schloss und natürlich der tolle Kurpark sind super.“

Aus dem Augenwinkel beobachtete sie, dass die Althippies ihre Unterhaltung unterbrochen hatten und versuchten, das Gespräch mitzuhören.

Ralf hatte es ebenso bemerkt. „Marion, Werner, ihr bekommt ja Elefantenohren!“ Er lachte laut. „Auf, kommt rüber, dann könnt ihr alles viel besser verstehen.“

Das Paar stand tatsächlich auf und setzte sich zu ihnen an den Stammtisch. Die beiden stellten sich vor und auf der Stelle war ­Melanie mit den beiden per du.

Werner hob sein Glas. „­Sabrina, hast du noch zwei Äppler?“

Die Wirtin erhob sich. Sie schien ­Melanies fragenden Blick bemerkt zu haben. „Mel, der Apfelwein ist unser Nationalgetränk. Gibt es hier überall in der Gegend.“ Sie zeigte auf die Keramikkrüge mit der blauen Musterung im Regal. „Normalerweise wird der Äppler, wie wir ihn im Volksmund nennen, in diesen Bembeln serviert. Musst du mal probieren.“

­Melanie verzog das Gesicht. „Besser nicht. Mal abgesehen davon, dass ich Alkohol meide, klingt das für mich ziemlich schräg. Da bleibe ich lieber bei meiner Kräuterlimonade.“

­Sabrina grinste und holte die bestellten Getränke, wobei sie ­Melanie unaufgefordert eine neue Bionade mitbrachte.

Die Eingangstür öffnete sich und ein Mann betrat das Lokal, der vom Typ her nicht so recht hierher passte. Mit seiner in Schwarz und Weiß gehaltenen und erkennbar teuren Kleidung wirkte der Mittfünfziger etwas abgehoben, zudem verlieh ihm die Größe von knapp zwei Metern eine natürliche Dominanz.

Er kam an den Tisch und nickte zum Gruß. „Frau Eskir, Herr ­Rosenthal, ich müsste Sie bitte einmal sprechen.“ Sein Blick fiel auf ­Melanie, für deren Geschmack einen Augenblick zu lang, bevor er sich wieder an ­Sabrina und Ralf wandte. „Allein und unter sechs Augen.“

Er schien es gewohnt, Anweisungen zu erteilen. Sicherlich verdunkelte sich seine Miene deshalb, als ­Sabrina in betont lässigem Ton antwortete. „Es gibt nichts, was wir nicht hier vor meinen Gästen besprechen könnten, Herr ­Schüttler. Falls Sie gekommen sind, um zu fragen, ob ich das Haus endlich an Sie verkaufe, war Ihr Weg ohnehin umsonst. Wenn Sie etwas trinken oder essen möchten, bediene ich Sie gerne. Nehmen Sie bitte Platz, wo immer es Ihnen genehm ist.“ Sie machte keinerlei Anstalten, aufzustehen.

­Schüttler wurde rot, er formte die Hände neben dem Körper zu Fäusten. Das versprach spannend zu werden!

Die Stimme wurde eine Spur lauter. „Frau Eskir, teilen Sie mir Ihren Verkaufspreis mit und ich sehe, was ich tun kann.“ Ralf hatte er anscheinend vergessen.

­Sabrina wirkte unverändert entspannt. „Keine Chance! Egal, was Sie mir anbieten. Da wird sich nichts ändern!“

­Schüttler begann zu zittern. „Glauben Sie mir, Sie veräußern es, weil ich weiß, dass es sich für Sie bald nicht mehr lohnen wird, hier zu leben. Ich gebe Ihnen Brief und Siegel, dass Sie demnächst auf den Knien angekrochen kommen und mich anflehen, das Haus zu kaufen! Dann bestimme ich den Preis!“ Eine reife Tomate konnte kaum röter als sein Kopf sein.

Ralf meldete sich. „Falls es Sie interessiert: Ich verkaufe nur zusammen mit Frau Eskir.“ Sein Schmunzeln verriet, wie viel Spaß er daran hatte, diesen Kerl zu ärgern.

Das gab dem Gast den Rest. „Das wird Ihnen leidtun! Denken Sie an meine Worte! Sagen Sie mir hinterher nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt.“ Er drehte sich auf dem Absatz um und rannte zum Ausgang, vor dem er im letzten Moment einem Pärchen auswich, das hereinkam und ihm verwundert nachschaute.

***

­Melanie betrat den Schlosspark durch den Eingang Dorotheenstraße. Ein Schild hinter dem zweiflügeligen, schmiedeeisernen Tor verriet ihr, dass der Park um 20:30 Uhr schloss. Sie schaute auf ihr Smartphone: 19:18 Uhr. Der breite Kiesweg lief direkt auf einen Schlossflügel zu, rechts davon lag die Orangerie.

Sie entdeckte den kleinen Wegweiser zu Goethes Ruh. Ihr Weg führte sie an der Schlossparkmauer entlang nach links. Hoffentlich stimmte ­Rosenthals Vermutung, der Graf halte sich am Abend hier auf. Es wurde gemunkelt, dass er hier meist übernachtete, was eigentlich unmöglich war, weil der Park über Nacht verschlossen wurde. Einige Meter weiter ging es abwärts und bald war das Dach eines Pavillons zu sehen. Ein runder, mit Kies bedeckter Platz, der durch Beete unterbrochen wurde, lag seitlich ein Stück tiefer. ­Melanie schaute hinunter, konnte allerdings nicht erkennen, ob sich der Obdachlose in der Nähe befand. Plötzlich kräuselte sich Zigarettenrauch in der Luft und jemand hustete. Sie hatte ihn gefunden. Langsam ging sie nach unten.

„Kommen Sie nur her. Ich hab Sie längst gesehen. Sie müssen sich vor mir nicht verstecken!“, rief er hinter dem Häuschen hervor.

­Melanie trat grinsend auf die Fläche. „Guten Abend. Ich wollte Sie nicht stören.“

Der Graf saß auf einem Schlafsack vor dem Eingang und hatte ein schmales Buch auf dem Schoß, in dem er anscheinend gelesen hatte. Er nahm seine Hornbrille ab und schaute die Besucherin mit interessiertem Blick an.

„Genau das wollten Sie und haben es bereits getan. Ich freue mich aber über Besuch.“ Er klopfte auf die freie Stelle neben sich auf der Unterlage. „Setzen Sie sich. Es ist nicht sonderlich gemütlich, aber besser als zu stehen. Außerdem schaue ich nicht so gern zu Menschen auf.“ Er schmunzelte.

­Melanie ließ sich auf dem Kies ihm gegenüber im Schneidersitz nieder. Wie alt mochte er sein? Er war schwer zu schätzen. Mitte, Ende fünfzig vielleicht. Sie schielte nach dem Buchtitel. Der Spieler von Dostojewski, eine verblüffende Lektüre für einen Obdachlosen.

Der Stadtstreicher schien ihren Blick wahrgenommen zu haben. „Wussten Sie, dass Dostojewski die Idee zu der Geschichte in der hiesigen Spielbank bekam, in der er sein Geld verzockte?“

„Aha“, war das einzige, was ­Melanie im Moment dazu einfiel, so verblüfft war sie.

„Jetzt erkenne ich Sie“, fuhr er fort. „Sie sind das hübsche Mädchen aus dem Silbernen Bein.“ Er zwinkerte ihr zu. „Es war nur eine Frage der Zeit, bis Sie bei mir auftauchen.“

Sie zog die Augenbrauen hoch und verschränkte die Arme vor der Brust. „Wie kommen Sie darauf?“

„Weil du neugierig bist.“ Er duzte sie auf einmal. „Und außerdem irgendwie zur Justiz gehörst. Das habe ich sofort gemerkt. Übrigens halte ich dich für eine Hamburger Deern!“

­Melanie verstand zunächst nicht, worauf er hinauswollte, doch plötzlich dämmerte es ihr. Woher konnte er wissen, dass sie bei der Polizei gewesen war? „Waren Sie wirklich früher Staatsanwalt, wie man munkelt? Ich meine, bevor Sie …“

„Bevor ich Penner wurde“, ergänzte er den Satz grinsend. „Kann sein, vielleicht auch nicht. Die Leute quatschen viel, bis es abends dunkel wird.“ Er zog an seiner Zigarette.

„So wie Sie?“, provozierte ­Melanie. Auf eine gewisse Art und Weise fand sie ihn sympathisch.

Der Graf lachte kurz lauthals, wurde dann wieder ernst. „Nein, alles, was ich in der Kneipe gesagt habe, stimmt. Ich hab keine Ahnung, warum du hier bist und was du im Schilde führst.“ Er hob die Hände wie zur Abwehr. „Ich will es nicht wissen. Behalte es für dich und erzähle es am besten niemandem. Dass du hier sitzt und nicht abstreitest, bei der Justiz zu arbeiten, gibt mir Vertrauen.“ Er nahm einen tiefen Zug und begann erneut zu husten.

Ein merkwürdiger Kauz. Er sprach mit ihr, als kenne er sie schon ewig.

„Was meinten Sie mit der gefährlichen Umgebung und den Dingen, die hier geschehen?“

Der Graf lachte trocken. „Du fällst natürlich gleich mit der Tür ins Haus. Gefällt mir! Ich drücke es mal so aus: Mir verschwinden rund um die Kneipe in letzter Zeit zu viele Menschen.“

­Melanie setzte zu einer Frage an, doch er hob eine Hand. „Warte einen Moment. Ich will nicht sagen, ­Sabrina könnte etwas damit zu tun haben. Aber sie steht irgendwie im Mittelpunkt. Sie hat es allerdings wirklich nicht einfach.“

In ­Melanies Bauch breitete sich plötzlich ein Ameisenvolk aus. Endlich schien sie weiterzukommen. „Wer ist denn verschwunden?“

„Nun, vor zehn Jahren machte sich ihr Onkel vom Acker, der bei ihr im Haus wohnte. Ein schrecklicher Typ. Er hat seine Sachen gepackt und ist abgehauen. Hat die Kleine mit der Wirtschaft allein gelassen. Dann waren da ihre Freunde. Eigentlich nette Typen. Keiner hat es lange ausgehalten und einer nach dem anderen haute über Nacht ab. Schon komisch.“ Er drückte die Zigarette im Kies aus, nahm eine Plastiktüte aus der Jackentasche und steckte die Kippe hinein. Die Tüte wanderte zurück in die Jacke.

­Melanie holte ihr Smartphone aus der Hosentasche. „Kennen Sie die Namen der Männer?“

„Lass mich nachdenken.“ Falls ihn ihre direkte Frage verwunderte, zeigte er es jedenfalls nicht. Stattdessen nannte er ihr zwei Namen und wusste sogar noch, aus welcher Region sie kamen. Sie machte sich Notizen.

Sie stutzte, als er die Aufzählung beendete. „Das sind alle?“

Der Graf schlug sich vor die Stirn. „Den letzten hätte ich beinahe vergessen. Ist erst ein paar Monate her. Er hieß Jan Wolter und kam aus Hamburg.“ Er zwinkerte und beugte sich ein wenig vor. „Den musst du dir ja nicht aufschreiben, den kennst du ja schon.“ Erneut lachte er, als habe er einen Witz gemacht.

Langsam wurde es ­Melanie mulmig. Wie leicht sie der Obdachlose zu durchschauen schien. „Hilft ­Sabrina niemand im Lokal?“

„Doch, ihre Cousine Katja ist Teilhaberin. Sie ist jedoch oft in der Welt unterwegs, wie derzeit auch. Zudem unterstützt Olli sie ab und zu.“

­Melanie überlegte. „Das ist so ein Langhaariger, der vergessen hat, wie alt er ist, oder? Ich meine, wegen seines Äußeren.“

„Ja, du hast ihn prima beschrieben. Macht ein bisschen auf Rocker. Eigentlich ist er gemütlich.“ Zu ihrer Überraschung nahm er ein Handy aus dem Rucksack und schaute darauf.

„Mädchen, du musst gehen. Ich erwarte Besuch. Es wäre nicht ratsam, wenn wir zusammen gesehen würden.“ Jetzt neigte er sich weit vor. „Pass auf und mach deinen Job, wie immer der aussieht. Sei vorsichtig mit den Leuten, mit denen du sprichst. Es gibt hier richtig üble Gestalten. Ralf kannst du vertrauen. Der ist okay. Außerdem musst du wissen, dass die Wände Ohren haben und Menschen bisweilen verfolgt werden. Sieh dich also vor. So, und nun hau ab! Geh durch den Park zurück.“ Er zeigte in die entgegengesetzte Richtung zu der, aus der sie gekommen war.

Sie stand auf und holte aus ihrer Geldbörse einen 50-Euroschein, den sie ihm hinhielt.

„Was soll das?“, fragte er mit einem Stirnrunzeln.

„Das, mein lieber Graf, ist ein Zuschuss für einen ehemaligen Fastkollegen.“

Er nahm das Geld und deutete eine Verbeugung an. Sie hörte ihn noch eine Weile lachen, als sie den Weg geradeaus hinauf zum Schloss ging. Sie hatte es fast erreicht, als eine Frau den Park betrat, in etwa so alt wie sie selbst. Sie war schlank, hatte schulterlange, gelockte Haare und trug ein blaues Kostüm mit einer weißen Bluse und Pumps. Nicht gerade die Kleidung für einen Spaziergang im Schlosspark. Sie folgte dem Weg an der Mauer entlang, der zu Goethes Ruh führte und den ­Melanie vor nicht allzu langer Zeit gegangen war.

Merkwürdig, dachte sie. Ob das der Besuch war, den der Graf erwartete? Sie interessierte brennend, wer die Dame wohl sein mochte, verwarf jedoch den Gedanken, zurückzugehen.

Stattdessen schlenderte sie zum Schlossflügel, neben dem eine riesige Libanonzeder stand. Auf einem Schild vor dem Baum las sie, dass die Zeder im Jahr 1822 gepflanzt wurde und ein Geschenk des englischen Königshauses an den damaligen Landgrafen zu dessen Hochzeit war. Das Gehölz hatte seine königliche Ausstrahlung in jedem Fall bewahrt, wie ­Melanie fand.

Sie durchquerte den Flügel, in dem sich ein Café befand, und gelangte in den Schlosshof mit dem hohen weißen Turm, der ihr bereits von der Stadt aus aufgefallen war. Bald kam sie in die Altstadt und lief in Richtung Hotel, wo sie duschen und sich umziehen wollte.

Sie sah sich um. Ein undefinierbares Gefühl sagte ihr, dass ihr jemand folgte. Sie konnte allerdings nichts Ungewöhnliches entdecken. Wurde sie wegen der Ratschläge des Obdachlosen plötzlich paranoid?

Kurz bevor sie den Eingang ihrer Unterkunft erreichte, drehte sie sich abrupt um. Rund fünfzig Meter hinter ihr verschwand ein Mann in einem Hauseingang, sonst war niemand zu sehen. Sie schüttelte den Kopf und betrat das Homburger Haus.

***

Interessant, dachte Timo, der das Gartenhäuschen in Goethes Ruh von Weitem beobachtete. Die Frau, die ihn im Kurpark vermutlich fotografiert hatte, hockte beim Grafen. Sie unterhielten sich offenbar prächtig.

­Schüttler hatte ihm nicht nur von dem Besuch in der Gaststätte berichtet, sondern auch vermutet, dass die Frau dort gesessen haben könnte, als er mit ­Sabrina Eskir gesprochen hatte.

Timo vermochte sich lebhaft vorzustellen, wie die Unterhaltung ausgesehen hatte. Er war stinksauer darüber, dass sein Chef schon wieder einen Alleingang unternommen und damit die Maßnahmen, die er selbst angeleiert hatte, in Gefahr brachte. Schließlich war er zum Schlosspark aufgebrochen, um sich zu beruhigen.

Jetzt stand sie auf und reichte dem Obdachlosen einen Geldschein. Bezahlte sie ihn für irgendetwas? Für Informationen?

Die Besucherin hielt fast direkt auf ihn zu, sodass er schnell hinter einen Baum verschwand. Als sie seinen Standort passiert hatte, sah er ihr vorsichtig hinterher. Sie war stehengeblieben, als eine weitere Person den Park betrat.

Was wollte die denn hier? Er schüttelte den Kopf, als er sah, dass die Dame ebenfalls auf dem Weg zu dem Stadtstreicher zu sein schien. Hatte er heute Besuchstag? Timo hätte hier mit einigen Menschen gerechnet, aber nicht mit Nadine Gissel. Zu gern hätte er gewusst, was sie mit dem Grafen zu tun hatte und überlegte. Dem Bubikopf folgen, um endlich herauszufinden, wer sie war, oder zu erfahren versuchen, was die Redakteurin des Taunusblicks bei dem Penner suchte. Er entschied sich, dem ersten Gedanken zu folgen.

Aus dem Augenwinkel nahm er wahr, wie die Frau den Schlossflügel betrat, zögerte einen Moment und setzte alles auf eine Karte, weil ihm die Verfolgung durch den möglicherweise leeren Schlosshof zu gewagt erschien. Er spurtete los und rannte durch die Löwengasse Richtung Marktplatz, bog in die Orangeriegasse ein und gelangte heftig schnaufend an den Haupteingang des Schlosses in der Herrngasse. Als er diese hinabsah, sah er die Frau, die ein Stück vor ihm in die Altstadt schlenderte.

Timo folgte in ungefährlichem Abstand. Plötzlich drehte sie sich um, spazierte dann unbeirrt weiter. Bevor sie das Homburger Haus erreichte, wandte sie sich erneut blitzschnell um. Er hatte das Glück, gerade noch in einen Hauseingang springen zu können. Hoffentlich hatte sie ihn nicht gesehen.

Er wartete ein paar Minuten, und nahm ein leeres weißes Kuvert aus der Innentasche seines Sakkos, das er zuklebte. Er betrat das Hotel, orientierte sich kurz und lief zielstrebig auf die Rezeption zu. Ein junger Angestellter schaute ihn erwartungsvoll an.

„Guten Tag.“ Timo zögerte und legte den Umschlag, zusammen mit einem 10-Euroschein, auf den Tresen. „Ich habe ein etwas ungewöhnliches Anliegen. Vorhin hatte ich das Vergnügen, mit der fantastisch aussehenden Dame, die gerade hier reinkam, im Café am Marktplatz zu sitzen. Könnten Sie ihr vielleicht den Briefumschlag aushändigen?“ Er lächelte den Rezeptionisten mit einem verschwörerischen Blick an.

„Ah, das war bestimmt Frau Gramberg.“ Der Mitarbeiter zwinkerte ihm zu. „Klar, mache ich sofort. Ich kann sie schnell anrufen.“ Er griff zum Hörer.

Timo hob erschrocken die Hände. „Nein, bloß nicht, dann ist die Überraschung dahin. Bitte sagen Sie ihr nicht, wer das abgegeben hat. Sie soll ein wenig rätseln. Sie verstehen, was ich meine?“ Ein weiterer 10-Euroschein wanderte über den Tresen.

Der Angestellte verengte die Augen. „Okay, wie Sie wollen.“ Er steckte den zweiten Geldschein ein, nahm einen Stift und schrieb zu Timos Freude Frau ­Melanie Gramberg, Zimmer 212, auf den Umschlag.

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