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15. April

„Er hat deinen Namen von Schuldt?“ Fred Spiegel massierte den schwarzen Flaum auf seinem fast kahlen Schädel.

„Behauptete er. Wird schon stimmen. Warum sollte er das erfinden?“ ­Melanie sah sich um und atmete tief ein. Sie trank zwar keinen Alkohol, mochte aber den malzigen Geruch, der durch den Gastraum waberte.

Das Brauhaus Joh. Albrecht füllte sich allmählich, immer mehr Gäste passierten die Brücke über den angrenzenden Fleet und hielten auf den Eingang zu. Sie lächelte ihren Ex-Kollegen an. „Bevor ich es vergesse: Danke, dass du dir spontan Zeit genommen hast.“

„Wenn eine charmante Frau mich zum Mittagessen einlädt, lehne ich selten ab.“ Zwei dunkle Augen strahlten sie voller Wärme an.

­Melanie wurde bewusst, dass er den letzten Kontakt zu ihrem früheren Umfeld darstellte, auch wenn sie sich nur alle paar Monate sahen. Irgendwie wurde es um sie immer einsamer, zumal sie selbst die bestehenden Freundschaften seit dem Unglück kaum pflegte.

„Passt zu Schuldt“, unterbrach er ihr Grübeln. „Er spricht nach wie vor von dir wie von einer Heiligen und nervt uns mit Lobgesängen über deine Fähigkeiten.“ Fred lachte. „Warum willst du den Auftrag nicht annehmen?“

­Melanie zuckte mit den Schultern. „Habe bei dem Ganzen ein Störgefühl. Welcher seriöse Mensch schleppt Unsummen an Geld mit sich herum und bietet einer Privatdetektivin, die er vorher nie gesehen hat, einen derartigen Vorschuss an? Da ist was faul!“ Sie trank einen Schluck von der Kräuterlimonade.

Der Exkollege schüttelte sich theatralisch. „Gießt du die schreckliche Brühe immer noch literweise in dich rein?“ Unverhohlen musterte er sie. „Mir ist es schleierhaft, wie du dabei diese sensationelle Figur hältst.“

„Fleißig Sport treiben, mein Lieber. Jeden Tag Schwimmen und dreimal die Woche Krafttraining.“ Sie nippte erneut am Glas und blickte Fred direkt an. „Jetzt lenk nicht ab. Was sagst du zu dem Typ?“

„Ich gebe zu, das Ganze klingt ein wenig ungewöhnlich. Falls Schuldt ihn tatsächlich schickt, ist er allerdings vermutlich in Ordnung.“ Er zögerte. „Wenn es deine Nerven beruhigt, kann ich ja in den Computer schauen, ob es etwas zu den Brüdern gibt.“ Er schob sich ein Stück Brezel in den Mund.

­Melanie formte die Lippen zu einem angedeuteten Kuss. „Danke! Du bist ein Schatz!“ Insgeheim hatte sie gehofft, dass er ihr diesen Gefallen anbieten würde, und zauberte einen Zettel mit den Kontaktdaten aus ihrer Jackentasche.

Der Polizist nickte. „Schön, dass Madame das endlich bemerken! Ich besitze weit mehr Qualitäten, als du denkst. Du müsstest sie nur kennenlernen wollen.“ Er zwinkerte ihr zu.

­Melanie lachte und drohte ihm mit dem Zeigefinger. „Psst!“ Sie trank den Rest ihrer Limonade aus und stellte sich einen Augenblick vor, mit ihm zusammen zu sein. Sie mochte Fred und hätte sich in einem anderen Leben, vor allem unter besseren Umständen, vielleicht in ihn verliebt. Er war allerdings Erik so unglaublich ähnlich. Wäre er nicht eine billige Ersatzlösung?

Sie verdrängte die Gedanken und wandte sich ihm erneut zu. „Es gibt noch einen Grund“, erklärte sie. „Ich verspüre keinerlei Lust, wer weiß wie lange in einer langweiligen Kurstadt zu verbringen.“

„Warum? Wird doch prima bezahlt. Wäre eine nette Abwechslung für dich. Du musst das nur mit deinen sonstigen Klienten vereinbaren können.“

­Melanie seufzte. „Sind gerade keine am Start. Den letzten Auftrag habe ich gestern abgerechnet.“

Er breitete seine Hände aus. „Na also, worauf wartest du?“

Ihr Smartphone klingelte. Nach einem schnellen Blick auf das Display drückte sie den Anruf weg.

„Nichts Wichtiges?“, erkundigte sich der Freund. „Geh ruhig dran.“

Sie schüttelte den Kopf. „Meine Schwester. Die kommt wieder.“ Wie auf Kommando läutete ihr Telefon erneut. ­Melanie stieß den Atem aus und nahm das Gespräch an.

„Anja, es passt im Moment nicht. Ich ruf dich …“

Die Anruferin unterbrach sie. „Mel, Vater hatte einen Schlaganfall und liegt auf der Intensivstation im Mathilden-Hospital. Sieht übel aus. Ich glaube, du solltest kommen!“

***

Obwohl das Foyer weit und luftig war, waberte ein Geruch aus Krankheit und Desinfektion, durch die Halle. ­Melanie sah sich um und knetete ihre Hände, bis sie in einer Sitzecke Anja entdeckte, die aufsprang. Die kalkweiße Gesichtsfarbe bildete einen scharfen Kontrast zu ihren geröteten Augen.

„Super, dass du da bist“, begrüßte sie ­Melanie. „War mir unschlüssig, ob du ihn überhaupt sehen willst.“ Sie zögerte. „Nach dem, was zwischen euch war.“

­Melanie verzog das Gesicht. „Mach dir keinen Kopf. Er bleibt ja unser Vater. Obwohl er das mir gegenüber in den letzten Jahren kaum gezeigt hat.“ Ihr Körper straffte sich. „Sag, wie schlimm ist es?“

„Ziemlich! Ich habe ihn heute im Bett gefunden. Er ist auf einer Seite gelähmt und außerstande zu sprechen. Bin nicht sicher, ob er alles wahrnimmt. Die Ärzte haben mir wenig Hoffnung gemacht. Vermutlich hab ich ihn zu spät entdeckt.“

Anja schluchzte, worauf ­Melanie sie in den Arm nahm und ihr einen Kuss auf die Stirn drückte. Unwillkürlich wurde sie wieder zu der Beschützerin, die sie früher oft gewesen war.

Sie fuhren mit dem Lift zur Intensivstation. Anja lief zielstrebig voraus, um schließlich vor einer Tür zu stoppen.

„Mel, du darfst nicht erschrecken. Er sieht aus wie der Leibhaftige persönlich und sein Gesicht ist völlig verzerrt.“ Sie klopfte, öffnete die Tür und ließ ­Melanie den Vortritt.

Ulrich Gramberg lag in einem Einzelzimmer. Glücklicherweise hatte Anja sie gewarnt, denn von dem einst charismatischen Hanseaten war rein äußerlich nichts mehr übrig. Dort lag ein todgeweihtes Häufchen Elend mit aschfahler Haut, das an einen Tropf angeschlossen war und dessen letzte Lebenszeichen von rhythmisch blinkenden Geräten begleitet wurden. Zum Glück hatte man den akustischen Überwachungston abgeschaltet.

­Melanies Kloß im Hals, der sich beim Betreten der Klinik gebildet hatte, schien ihr allmählich die Kehle zuzudrücken.

Seine schielenden Pupillen orientierten sich in ihre Richtung. Aus dem Augenwinkel registrierte sie, dass sein Pulsschlag sich rasant beschleunigte und die Anzeige bei 135 Schlägen einpendelte. Gramberg versuchte, zu sprechen, was in ein paar gurgelnden Geräuschen mündete.

„Papa, ich bin es. Mel.“

Der Herzschlag näherte sich der Marke von 150. Anja war im Hintergrund geblieben, während ­Melanie einen Stuhl nahm und sich neben das Bett setzte. Vorsichtig ergriff sie die rechte Hand ihres Vaters und streichelte sie. Er beobachtete sie, wobei sein Puls unverändert galoppierte. Sie drehte den Kopf. „Würdest du uns einen Augenblick allein lassen?“

Anjas Blick fixierte ­Melanie. „Hältst du das für eine gute Idee?“

„Bitte!“

Anja verzog das Gesicht, wandte sich jedoch ab und verließ den Raum. ­Melanie blickte ihrem Vater direkt in die Augen. „Es tut mir sehr leid. Das hast du nicht verdient.“ Sie überlegte kurz, ob es richtig war, sich mit ihm auszusprechen. Es konnte eigentlich keine Aussprache geben, trotzdem war es ihr wichtig, denn möglicherweise bedeutete das heutige Treffen den endgültigen Abschied. Sie gab sich einen Ruck.

„Es ist für mich furchtbar traurig, dich unter diesen Umständen wiederzusehen. Ich möchte dir etwas sagen, was ich zu lange mit mir herumschleppe.“ Der Pulsschlag erhöhte sich auf 160.

Sie zögerte und strich dem Vater zärtlich über den Kopf. „Wir haben beide Fehler gemacht und ich bin mir sicher, es wäre nicht zu unserem Zerwürfnis gekommen, wenn wir Sturköpfe anständig miteinander gesprochen hätten.“

Sie hielt inne und holte tief Luft. „Dir muss früh klar gewesen sein, dass ich nie Jura studieren und die Anwaltspraxis übernehmen würde. Ich bin nicht geeignet für Gerichtssäle und ellenlange Schriftsätze. Ich wollte schon immer zur Polizei gehen. Dort konnte ich etwas Sinnvolles tun und gleichzeitig meine Grenzen austesten. Leider hat Eriks Tod alles zerstört. Mindestens so schlimm empfinde ich, dass du mit mir gebrochen hast, weil ich den Dienst quittiert habe und ich in deinen Augen eine Versagerin bin. Den Kontakt zu mir abzubrechen und mich letztes Jahr bei Mutters Beerdigung zu schneiden, hat mir teuflisch wehgetan.“

Sie schluckte mehrmals. „Papa, ich kann nicht mehr Polizistin sein. Die Schuld, die ich an dem Unglück habe, verhindert das! … Deshalb bin ich ausgeschieden.“ ­Melanie lächelte, als sich der Herzschlag ihres Vaters leicht beruhigte. „Denk bitte darüber nach.“

Der Kloß in ihrem Hals löste sich wie von Zauberhand auf. „Ich liebe dich sehr!“

Seine Pupillen glitzerten, er drückte ihre Hand spürbar. Als der Versuch zu sprechen erneut kläglich scheiterte, liefen ihm dicke Tränen die Wangen entlang. Er schien ihr einen liebevollen Blick zuzuwerfen.

Sie stand auf, beugte sich über ihn, küsste ihn auf die Stirn und hielt ihn eine Weile fest. Mit jeder Sekunde entspannte er sich weiter.

„Danke“, flüsterte sie, nickte ihm zu und verließ den Raum. Es wurde ihr bewusst, dass sie gerade endgültig Abschied genommen hatte. Sie trauerte und weinte, obwohl sie es unsagbar erleichterte, endlich die Möglichkeit gehabt zu haben, ihre Gefühle ihm gegenüber zu erklären. Sie war ihrem Vater so nahe gewesen wie vielleicht seit ihrer Kindheit nicht mehr.

***

Anja wartete in einer Sitzgruppe am Ende des Gangs. Sie runzelte die Stirn. „Wie ist es gelaufen? Was hast du ihm gesagt?“

­Melanie überlegte kurz, wie sie es ausdrücken sollte, entschied sich schließlich für den direkten Weg. „Was notwendig war und ich glaube, er hat es verstanden.“

„Mel, du darfst nicht so streng mit ihm sein.“

„Kleines, Vater ist ein störrischer Egoist!“, entgegnete ­Melanie mit ruhiger Stimme. „Für ihn zählen nur Juristen. Meine Polizeikarriere hat er als einen Job zweiter Klasse angesehen, den ich zu allem Überfluss versemmelt habe.“

„Hör endlich mit dem Selbstmitleid auf. Du wurdest von den Anschuldigungen freigesprochen. Hätte sich Erik angeschnallt, würde er leben wie du und deine Kollegen!“

„Lassen wir das.“ ­Melanie zögerte. „Wir werden Papa verlieren.“

„Ich weiß“, flüsterte die Schwester. Sie atmete tief ein und presste die Luft aus den Lungen.

­Melanie fasste in diesem Moment einen Entschluss. „Kleines, ich bin immer für dich da, das weißt du. Ausgerechnet jetzt muss ich für einen Auftrag ins Rhein-Main-Gebiet und habe dort eine Weile zu tun. Aber du kannst mich jederzeit erreichen. Ich bin dann in wenigen Stunden zurück!“

***

­Melanie saß kurz vor Mitternacht in ihrem Strandkorb. Sie knöpfte die Strickjacke zu und wickelte die Beine in eine Wolldecke. Die Stille fühlte sich unwirklich an. Wie war es möglich, dass all die Menschen in den benachbarten Häusern keinerlei Geräusche verursachten? Sie befürchtete beinahe, das Rascheln der Seiten auf ihrem Schoß sei im ganzen Block zu hören. Plötzlich zuckte sie zusammen, als das Handy neben ihr zu brummen begann.

„Hi Mel, störe ich? Schläfst du schon?“

Dann wäre ich ja wohl kaum beim ersten Klingelton drangegangen, dachte sie. „Hallo Fred, nein, alles geschmeidig.“

„Ich wollte Bescheid sagen, dass nichts Negatives zu den Brüdern im Computer zu finden ist.“ Bei ihr stellte sich Enttäuschung ein. „Wie ich gehört habe, hast du den Auftrag angenommen!“

­Melanie stutzte. „Woher weißt du das?“

„Jetzt bist du baff, was? Du wirst nicht erraten, wer vorhin bei mir war.“

Ein Schauer überlief sie. „Mach's nicht so spannend. Wird nicht der regierende Bürgermeister gewesen sein.“

Fred lachte. „Fast! Schuldt höchstpersönlich hat sich die Ehre gegeben.“

„Aha?“

„Er wusste, dass du den Fall übernimmst, und forderte von mir äußerste Verschwiegenheit. Außerdem fabulierte er ziemlich wirr, es könne sein, dass du mich in einer bestimmten Sache, die mit einer verschwundenen Person in Hessen zusammenhänge, kontaktierst.“

­Melanie legte die Stirn in Falten. „Hört sich schräg an. Was hast du erwidert?“

„Ich hab mich dumm gestellt, was mir bekanntlich nicht schwerfällt.“ Er lachte erneut. „Es kommt noch besser. Unser strenger Hüter der Dienstvorschriften hat mich angewiesen, dich zu unterstützen und ihn gleichzeitig auf dem Laufenden zu halten!“

Was hatte das zu bedeuten? Warum wollte ihr früherer Vorgesetzter über ihre Ermittlungen informiert werden? Und Fred quasi aufzufordern, gegen Vorschriften zu verstoßen, schlug dem Fass den Boden aus. Was steckte hinter all dem?

„Hallo Mel, bist du noch da? Erzähl mal, was hat dieser Typ gesagt?“

Sie berichtete ihm hastig von ihrem Anruf bei Wolter. „Er brachte die Kohle tatsächlich vorbei. Du hättest sein Gesicht sehen sollen, als ich ihm versprach, eine ordnungsgemäße Rechnung auszustellen und Belege für sämtliche Ausgaben vorzulegen. Ich wette, das Geld ist dunkelschwarz!“

Fred prustete. „Köstlich. Pass auf, ein bisschen was konnte ich über die Brüder recherchieren. Dein Auftraggeber ist als Makler für hochpreisige Immobilien vor allem im norddeutschen Raum bekannt. Ausschließlich Buden im siebenstelligen Bereich. Dabei kann man leicht Schwarzgeld sammeln, meine Liebe. Der Bruder ist freier Übersetzer und Dolmetscher, der in der Welt herumzukommen scheint, sofern man seiner Webseite Glauben schenken darf. Kein Wunder, dass die hessischen Kollegen wenig Lust hatten, der Vermisstenanzeige nachzugehen. Würde mich nicht überraschen, wenn er freiwillig weitergezogen ist und vergessen hat, sich bei Mutti abzumelden.“

­Melanie machte sich Notizen. „Wir werden sehen. Das hilft mir auf jeden Fall sehr. Danke dir.“

„Da nicht für. Immer wieder gerne.“

Sie legte auf und nahm den Bad Homburger Stadtplan. Schnell fand sie die Neue Mauerstraße, in der sich, und damit mitten in der Altstadt, die Gaststätte Zum Silbernen Bein befand. Ein verrückter Name! Welche Bedeutung er wohl besaß?

***

Das Telefon klingelte.

„Guten Abend.“

„Hi, du rufst schon wieder mit einer fremden Nummer an.“

„Klar. Wie oft muss ich dir noch sagen, dass es wichtig ist, die Telefonnummern regelmäßig zu wechseln. Pass auf. In eurer Umgebung taucht demnächst eine Privatdetektivin auf. Sie heißt ­Melanie Gramberg und soll Jan suchen. Du musst sie im Auge behalten!“

„Aha, warum? Wir haben mit Jans Verschwinden nichts zu tun.“

„Das will ich für euch hoffen. Dennoch ist es ratsam, aufzupassen. Die ist clever. Nicht, dass sie bei ihren Recherchen vom Weg abkommt und bei unseren Geschäften landet. Sie wird die Ermittlungen bestimmt im Silbernen Bein beginnen.“

„Okay, verstehe. Wie sieht sie aus?“

„Mitte dreißig, circa einen Meter fünfundsiebzig groß, grüne Augen, drahtig, schwarzer Bubikopf. Sei einfach vorsichtig. Und behalte das für dich. Je weniger Bescheid wissen, umso besser.“

„Glaubst du, sie kommt uns in die Quere?“

„Hoffentlich nicht. Ich beobachte ihre Schritte von hier aus. Wir tauschen uns regelmäßig aus. Wie läuft es mit dem neuen Kunden? Wie hieß er doch gleich?“

„­Rosenthal. Schleppend. Einerseits möchte er, andererseits will er ­Sabrina Eskir nicht allein lassen.“

„Ihr solltet das Mädel loswerden.“

„Tolle Idee! Und wie?“

Die Stimme lachte fies. „Sei kreativ! Ich melde mich.“

Die Leitung war tot.

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