Читать книгу Taunusschuld - Osvin Nöller - Страница 7
Оглавление15. November
Melanie kam es beim Aufwachen vor, als habe sie in der Nacht ein Bulldozer überrollt. War schon eine verrückte Idee gewesen, sich am Abend in eine dicke Wolldecke zu wickeln und sich mit einem heißen Kakao in ihren geliebten Strandkorb im Hinterhof zu setzen. Das war aber nun mal der Ort, an dem sie am besten nachdenken konnte.
Dann waren ihre Gedanken um die Mail gekreist, die sich eindeutig auf Anja bezog. Stammte die Nachricht von einem Stalker? Wer wollte sie in Angst versetzen? Die Medien hatten damals über den Fall und das Attentat berichtet, doch das war jetzt einige Monate her. Wen interessierte das noch?
Gegen Mitternacht hatte sie der einsetzende Regen ins Haus vertrieben. Sie hatte sich im Bett hin und her gewälzt. Irgendwann hatten ihr die Grübeleien einen unruhigen Schlaf mit wirren Träumen beschert. Eine Szene war ihr präsent: Anja und sie standen eng umschlungen vor dem Wrack eines Autos, aus dessen Fenster sie die matten Augen ihres verstorbenen Lebenspartners Erik anglotzten. Melanies ehemaliger Kollege Fred, der beim Attentat auf Anja gestorben war, kletterte ins Fahrzeug und grinste hämisch. Plötzlich löste sich die Kiste in die Einzelteile auf, zerstob wie eine Wasserlache, in die ein starker Luftstrahl gehalten wurde. Aus dem Nichts war Pascal Wolter aufgetaucht und hatte mit riesigen Pranken nach ihr gegriffen.
Sie schaute auf ihr Handy. Es wurde Zeit für eine ausgiebige Dusche.
Wenig später stand sie nackt bis auf den Slip vor dem Spiegel des Schlafzimmerschranks. Ihr ohnehin blasser Teint wirkte heute fahl und bildete einen noch härteren Kontrast zum kurzgeschnittenen schwarzen Haar. Ansonsten war sie mit ihrer sportlichen Figur zufrieden. Das tägliche Fitnessprogramm zahlte sich aus.
Sie seufzte und ging in die Küche, wo sie einen Kaffee aus der Maschine laufen ließ. Warum machte sie sich ausgerechnet nach dieser Nacht Gedanken über ihr Aussehen? Ihr muskulöser Körper gab ihr in Verbindung mit ihren eins siebenundsiebzig ein gewisses Gefühl der Sicherheit. Sie war mit vielen Männern schon rein anatomisch auf Augenhöhe. Sie erinnerte sich an eine Bemerkung ihrer Schwester, sie solle darauf achten, nicht zu dominant und maskulin zu wirken. Wie egal ihr das war. Mit Eriks Tod waren jegliche Gedanken an eine Partnerschaft verschwunden.
Mit dem Namen ihres ehemaligen Lebensgefährten bahnte sich der Albtraum erneut den Weg in ihr Hirn. Er, Anja und Fred, drei sehr wichtige Menschen in ihrem Leben, für deren Schicksal sie sich immer noch mitverantwortlich fühlte. Dazu der Mörder Wolter, den sie vielleicht doch besser hätte erschießen sollen, als sie die Chance dazu gehabt hatte.
Sie trank den letzten Schluck Kaffee, stellte die leere Tasse in die Spülmaschine und schlurfte ins Bad. Unter dem dampfenden Strahl der Dusche rieb sie sich die Haut wie eine Besessene, bis die letzten Spuren des Traums weggespült wurden.
Melanie betrat um 9:05 Uhr das Polizeipräsidium und wandte sich dem mit einer Glasscheibe geschützten Empfangsschalter zu.
„Guten Morgen, Mel“, tönte es von der Seite. Sandro Kimmerle schoss aus einem seitlichen Gang kommend strahlend auf sie zu. „Herzlich willkommen in unserer bescheidenen Hütte. Komm, ich nehme dich mit.“
„Moin“, erwiderte sie kraftlos.
Er sprach kurz mit dem Kollegen am Empfang und ließ sich einen Besucherausweis aushändigen, den er ihr gab. Sie liefen einen langen Gang entlang.
„Sorry, wenn ich das so direkt sage, aber du siehst aus, als hättest du die Nacht durchgemacht.“
Sehr charmant, fuhr es ihr durch den Kopf. Schnell erzählte sie ihm von der ominösen Nachricht und ihren Stunden im Strandkorb.
„Na toll“, entgegnete er. „Hast du einen Verdacht, wer dahintersteckt?“
Melanie zuckte mit den Schultern. „Ich habe die halbe Nacht nachgedacht und bin immer wieder auf Pascal Wolter gekommen.“
Sandro hob die Augenbrauen. „Der sitzt doch gut behütet in Hamburg im Knast. Wie sollte der das bewerkstelligt haben?“
„Es gibt auch dort Wege. Dir muss ich doch nicht erklären, was alles möglich ist.“ Sie seufzte. „Ich weiß es aber nicht.“
„Jetzt lass uns mit den Kollegen über den Überfall sprechen und danach kümmern wir uns um diesen Mist. Martin wartet bereits.“
Schubert begrüßte sie zusammen mit Sarah Schwenke und Felix Hummer in einem Büro.
Sie war nicht nur ein bisschen erstaunt, die komplette Mannschaft vorzufinden, sondern auch, dass die Vernehmung nicht wie üblich in einem Besprechungsraum durchgeführt wurde.
Schubert schien ihre Gedanken zu erraten. „Wir haben uns gedacht, wenn wir schon das Glück haben, Sie als Zeugin zu haben, könnten wir Ihre Aussage aufnehmen und danach den gesamten Ablauf mit Ihnen anhand der Aufnahmen aus der Überwachungskamera anschauen.“
Melanie schmunzelte und zog sich die Daunenjacke aus. „Gerne.“
Sie orientierte sich bei ihrer Schilderung strikt an den gemachten Beobachtungen und verzichtete auf eigene Interpretationen. Sie beobachtete Sarah, die sie bisher erst einmal getroffen hatte. Die junge Kriminalkommissarin stellte die richtigen Zwischenfragen. Schubert und Sandro hielten sich zurück. Dagegen wirkte der etwas ältere Felix Hummer auf Melanie ein wenig nervös und fahrig. Sein blutleerer Teint passte ihrer Meinung nach zu diesem Eindruck.
Schließlich las sie ihre Aussage durch und unterschrieb sie.
Sandro hatte in der Zwischenzeit einen Computerbildschirm herumgedreht, worauf sich die Anwesenden mit ihren Stühlen vor dem Rechner versammelten. Er bearbeitete die Tastatur, nach einer Weile erschien ein klares Bild vom Verkaufsraum des Juweliergeschäfts. Dann startete er den Film, der unmittelbar vor dem Eintreten des Täters einsetzte.
Die Qualität der Aufnahmen war erstklassig. Melanie bemerkte belustigt, wie ungeduldig sie gewesen war. Im Video ging sie zur Uhrenvitrine und kehrte dem Eingang den Rücken zu. Der Mann betrat den Laden forsch, sie drehte sich zu ihm um. Plötzlich hielt er inne, wirkte unschlüssig. Eine Mitarbeiterin, die hinter einem Verkaufstisch saß, sah auf, schien zu erschrecken und sackte zu Boden.
„Stopp“, rief Melanie, worauf Sandro die Computermaus betätigte.
Das Team schaute sie gespannt an.
„Lass das doch bitte noch einmal bis zu der Stelle zurücklaufen, an der er erscheint, und zeige uns die Sequenz bis hierhin in Zeitlupe, falls das möglich ist. Dann achtet mal auf seine Bewegung und das Verhalten der Verkäuferin links.“
Sandro kam ihrer Aufforderung nach. Als die Szene beendet war, hielt er die Aufnahme erneut an.
Schubert kratzte sich am Kopf. „Ich sehe den Film zum ersten Mal. Was ist Ihnen genau aufgefallen? Da ist eine Angestellte, die Schockanzeichen zeigt, und ein Täter, der übernervös agiert.“
Melanie nickte. „Stimmt soweit. Allerdings betritt der Mann sehr bestimmt und kontrolliert den Laden. Er schaut sich um und in dem Augenblick, als er diese Frau wahrnimmt, geht eine Veränderung in ihm vor. Er erscheint mir mit einem Mal beinahe panisch, man könnte den Eindruck bekommen, dass er sogar überlegt, den Überfall abzubrechen. Gleichzeitig sieht ihn die Frau, erschrickt fast zu Tode und verabschiedet sich unter den Tisch. Jetzt wäre doch der Moment gekommen, um Forderungen zu stellen. Stattdessen bleibt er stumm und wedelt nur mit der Waffe herum. Warum verhält er sich dermaßen atypisch?“
„Ich glaube, ich weiß, worauf du hinauswillst“, meldete sich Sandro zu Wort. „Es sieht so aus, als ob der Typ überrascht war, genau diese Mitarbeiterin anzutreffen. Ist es das, was du meinst?“
Sarah Schwenke schlug die Hand vor die Stirn. „Die beiden kennen sich! Und der Täter scheint zu hoffen, dass sie ihn nicht erkennt. Deshalb bleibt er stumm.“
„Bingo“, bestätigte Melanie zufrieden. Längst hatte sie ihr Jagdinstinkt im Griff.
Schubert riss die Augen auf. „Zeig das noch einmal!“
Am Ende der Filmsequenz schlug er auf den Tisch. „Sauber, ihr habt vermutlich recht!“
Sarah grinste. „Sie heißt Simone Dörling und sollte an dem Morgen nicht bei der Arbeit sein, da sie eigentlich krankgeschrieben war. Das passt hundertprozentig!“
Sandro startete den Film erneut. Sie schauten ihn weiter an, bis zu dem Punkt, an dem der Täter das Geschäft fluchtartig verließ.
„Ich wage eine weitere Behauptung“, begann Melanie. „Jühlich erwartet den Überfall. Aus diesem Grund holt er den Schlüssel ohne Aufforderung aus der Schublade. Ich wette, es handelt sich um einen geplanten Versicherungsbetrug. Alles ist aus dem Ruder gelaufen, weil die Tatsache, dass Dörling unerwartet anwesend war, den Typen aus der Bahn geworfen hat.“ Sie lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. Ich hatte recht, dachte Melanie zufrieden.
Sandro sah Schubert an. „Auch das ergibt Sinn. Deswegen war der Juwelier morgens außer sich, als die Dörling erschien. Vermutlich befürchtete er, sie könnte den Täter erkennen.“
Schubert schaute nachdenklich zum Fenster. „Ein interessanter Ansatz. Dem gehen wir nach.“
Die Tür öffnete sich. Sebastian Wolrich, der Leiter der Polizeidirektion, betrat den Raum gemeinsam mit einem großgewachsenen Mann.
„Hallo zusammen“, grüßte er, als sein Blick auf Melanie fiel. Er ging direkt auf sie zu und reichte ihr die Hand. „Schön, Sie zu sehen. Ich hörte davon, dass Sie das Pech hatten, beim Überfall dabei zu sein.“
Sie stand, wie auch alle anderen, auf und erwiderte den Gruß.
„Ich möchte euch Heiko Pränger vorstellen.“ Wolrich schaute zum plötzlich verbissen wirkenden Schubert. „Du kennst ja Heiko noch aus seiner Zeit bei uns.“
Der Hauptkommissar nickte verkniffen.
„Er arbeitet heute im Bundeskriminalamt in Wiesbaden in der Abteilung Schwere und organisierte Kriminalität.“ Der Leiter wedelte mit einem Blatt Papier. „Er hat euch etwas mitzuteilen.“
Pränger zeigte auf Melanie und drehte sich zu Wolrich um. „Hier vor einer Zivilperson?“
Wenn der Typ mit den kurzen braunen Haaren und dem Dreitagebart nicht schon vorher unsympathisch rübergekommen wäre, hätte er es spätestens jetzt geschafft. Er strahlte Überheblichkeit aus, dass er aber unverblümt mit dem ausgestreckten Finger auf sie gezeigt hatte, war das i-Tüpfelchen für ihre Bewertung. Leider kannte sie solche Beamten aus ihrem früheren Berufsleben nur zu gut. Vielleicht besaß sie deshalb eine spezielle Schublade für sie, in der Pränger gerade verschwunden war.
Umso mehr freute sie Wolrichs Reaktion. „Du kannst offen vor Frau Gramberg sprechen. Sie ist eine ehemalige LKA-Kollegin aus Hamburg und war während des Überfalls zufällig am Tatort. Wir haben seit einem Fall, bei dem sie uns vor ein paar Monaten sehr geholfen hat, so was wie ein kollegiales Verhältnis zu ihr. Sie versteht es, mit vertraulichen Informationen umzugehen.“
Melanies Gesicht wurde bei so viel öffentlicher Wertschätzung warm.
Pränger grinste sie breit an. „Eine Ehemalige also. Ihr arbeitet auch mit allen Tricks.“
Am liebsten hätte sie ihm spätestens jetzt eine gelangt. „Also Leute, wie Basti bereits ausgeführt hat, kümmere ich mich um die großen und vor allem internationalen Fälle. Dabei haben wir einen Diamantenschmugglerring in der Beobachtung, der von Antwerpen aus quasi in ganz Europa aktiv ist. Eine Person, die wir in diesem Zusammenhang auf dem Radar haben, ist Dirk Jühlich. Genau der Jühlich, der gestern überfallen und angeschossen wurde. Ich darf das eigentlich gar nicht verraten, halte es aber für wichtig, damit ihr unsere Entscheidung versteht und gehe davon aus, dass es hier im Raum bleibt.“
Melanie ahnte, was jetzt kommen würde, und glaubte neben sich die geflüsterten Worte „Du Arsch“ zu hören. Sie schielte zu Schubert, der aussah, als wäre er kurz vor dem Platzen.
„Wir glauben nicht, dass der versuchte Raubüberfall etwas mit dem Schmuggel zu tun hat. Deshalb habe ich die Verfügung mitgebracht.“ Er zeigte auf Wolrichs Zettel. „Dass ihr ab sofort ausschließlich nach eurem Täter sucht und euch aus allem, was nach Diamanten aussieht, heraushaltet. Ich werde die Diamantenlieferung, die vorgestern angekommen ist, beschlagnahmen. Falls ihr den Eindruck haben solltet, doch an unseren Zuständigkeitsbereich zu stoßen, meldet ihr euch sofort und ausschließlich bei mir persönlich, um das weitere Vorgehen abzustimmen. Die Betonung liegt auf sofort!“ Er legte eine Visitenkarte auf den Tisch. „Ich hoffe, wir arbeiten reibungslos zusammen.“
Schubert holte hörbar Luft. „Darf ich etwas dazu sagen?“
„Jetzt nicht“, entgegnete Wolrich. „Komm nachher in mein Büro. Ich glaube, die Anweisung aus Wiesbaden ist eindeutig. Frohes Schaffen noch.“ Er rauschte mit dem Gast aus dem Raum.
***
„Der Typ hatte einen Beschluss der Staatsanwaltschaft, mit dem das BKA die Ermittlungen einschränkt?“ Siggi fuhr sich durchs Haar und lehnte sich auf dem Besucherstuhl vor Melanies Schreibtisch in der Detektei zurück.
Melanie zuckte mit den Schultern. „Wolrich hat das Papier zumindest akzeptiert.“ Sie grinste. „Du hättest Schubert sehen sollen. Der stand kurz vor der Explosion. Ich hatte ohnehin den Eindruck, dass er und dieser Pränger damals nicht die besten Freunde waren.“
Er verschränkte die Arme. „Ist etwas ungewöhnlich. Der Diamantenschmuggel liegt zunächst einmal nicht im natürlichen Zuständigkeitsbereich des Bundeskriminalamtes, wenn dann eher beim LKA. Also muss etwas Besonderes an dem Fall sein, wenn ein Staatsanwalt die Ermittlungen nach Wiesbaden verlagert. Zudem müssen die Herrschaften sehr schnell von dem Überfall erfahren und dann blitzartig einen Staatsanwalt gefunden haben, der ihnen die Beschlüsse zur Verlagerung und der Beschlagnahmung der Diamanten unterschrieben hat. Das alles in den paar Stunden. Sehr, sehr ungewöhnlich! Zumal die Beschlagnahme unter dem richterlichen Vorbehalt steht. Ich wüsste zu gern, was da dahintersteckt.“
Melanie überlegte. „Glaubst du, da ist was faul?“
„So weit will ich im Moment nicht gehen. Wolrich wird das geprüft haben. Ich bin aufgrund meiner eigenen Erfahrungen halt nur überrascht. Ich habe solche Anordnungen zu meiner Zeit nur in absoluten Ausnahmefällen getroffen. Da mussten die Ermittler mit sehr überzeugenden Argumenten kommen. Muss aber zugeben, dass das mehr als fünfzehn Jahre zurückliegt. Was haben sie zu deiner anonymen Nachricht gesagt?“
Melanie verzog das Gesicht. Sie erzählte, dass Sandro mit ihr bei einem Kripobeamten war, der die Anzeige mit kaum erkennbarem Elan aufgenommen habe. „Ich glaube nicht, dass der sich ein Bein ausreißen wird“, schloss sie den Bericht ab und stand auf. „Sei mir nicht böse, aber ich will mich in der Wohnung noch kurz frisch machen und zu Anja nach Oberursel fahren.“
Er erhob sich ebenfalls. „Kein Problem. Bis bald.“
Melanie fuhr ihren Laptop runter, schaltete die Kaffeemaschine und die Lampen aus. Schließlich verließ sie die Detektei und schloss die Eingangstür ab. Langsam und in Gedanken versunken stieg sie die Treppe hoch. Ihr ging Pränger nicht aus dem Kopf. Einmal abgesehen davon, dass sie ihn für einen Kotzbrocken hielt, gaben ihr Siggis Worte zu denken. Was wurde hier gespielt? Es war natürlich nicht ihre Baustelle. Damit hatten sich Schubert und Sandro herumzuschlagen, aber dennoch hätte sie zu gern gewusst, wie die Sache sich entwickelte. Vielleicht war es mal wieder an der Zeit, sich auf einen Kaffee zu treffen.
Sie betrat den Flur ihrer Wohnung, hängte ihre Strickjacke auf einen Bügel an die Garderobe, schlüpfte aus den Sneakers und schob diese unter ein Schuhregal. Auf Strümpfen lief sie in die Küche, öffnete den Kühlschrank, um eine Flasche Almdudler herauszunehmen. Den Deckel entfernte sie mit dem an der Kühlschranktür befestigten Öffner.
Ihr nächster Weg führte sie ins Wohnzimmer, in dem die Möbelstücke völlig verschieden waren, aber trotzdem zusammenpassten. Erbstücke und Teile vom Flohmarkt ergänzten sich in ihren Augen prima, hier fühlte sie sich wohl.
Sie ließ sich aufs braune Stoffsofa fallen und stutzte, als sie das Kontrolllicht ihres privaten Laptops entdeckte. Er befand sich im Standby-Modus, obwohl sie davon überzeugt war, ihn am gestrigen Abend ausgeschaltet auf dem Couchtisch zurückgelassen zu haben. Melanies Haut kribbelte plötzlich, ein sicheres Zeichen der einsetzenden Alarmbereitschaft.
Ihr fiel nichts Ungewöhnliches auf. Sie öffnete ihr Postfach und las einige unbedeutende Mails, um anschließend das Notebook auszuschalten.
Das Gefühl, dass jemand in der Wohnung gewesen sein könnte oder sogar noch anwesend war, wollte nicht verschwinden. Sie horchte. Bis auf das Surren der Zeitschaltuhr, an die eine Stehlampe angeschlossen war, herrschte totale Stille.
Sie schlich zurück in den Flur und schob die angelehnte Schlafzimmertür vorsichtig auf. Alles war wie immer. Dennoch stieß sie die Tür bis zum Anschlag auf, um sicherzugehen, dass sich dahinter niemand versteckte. Auch im Bad und dem anderen Zimmer gab es keinerlei Hinweise, dass sich hier eine Person aufgehalten hatte. Allmählich löste sich die Anspannung.
In diesem Moment hörte sie das Signal einer eingehenden Mitteilung auf ihrem Smartphone. Sie hatte es im Wohnzimmer auf dem Couchtisch zurückgelassen.
Die Nummer des Absenders verursachte bei ihr sofort Gänsehaut.
***
Pascal Wolter saß in der Justizvollzugsanstalt Hamburg-Winterhude in seiner Zelle, tippte die Worte „Es geht los“ in ein Smartphone und schaltete es aus. Schnell steckte er es in die Hosentasche. Er nahm das Tablet vom Tisch und verstaute es unter dem Anstaltshemd im Hosenbund.
Die Gedanken umkreisten eine Person: Melanie Gramberg! Die Frau, die dafür verantwortlich war, dass er vermutlich nie wieder frei sein würde. Alles, was ihm blieb, war der Versuch, das Leben im Gefängnis so angenehm wie möglich zu gestalten. Glücklicherweise war ihm das bisher gelungen, auch wenn ihn das sehr viel Geld kostete.
Rachegelüste hatten sich bei ihm eingebrannt, schrien unentwegt danach, endlich befriedigt zu werden. Sein Plan war perfekt, da war er sich sicher. Er würde die Gramberg zunächst quälen, bis sie den Verstand verlor, um sie am Ende auszulöschen. Die Vorkehrungen waren getroffen, der Startschuss gegeben. Seine Helfer standen bereit. Wahrscheinlich brachte ihm das Vergnügen eine zusätzliche Strafe ein. Das war ihm egal, was sollte ihm schon passieren? Mehr als lebenslänglich mit anschließender Sicherungsverwahrung war nicht möglich! Es war ihm klar, dass das Urteil im demnächst anstehenden Prozess nur so lauten konnte.
Es klopfte, der Riegel der Zellentür wurde zurückgeschoben. Zwei Justizbeamte betraten die Zelle.
„Es geht los. Ihr Anwalt erwartet Sie im Besucherraum.“ Der Ältere hielt ihm Handschellen entgegen.
Unaufgefordert hob Wolter die Hände nach vorne, um sich fesseln zu lassen. Normalerweise hätte man ihn durchsucht. Diese Prozedur hatte er längst mit überzeugenden Argumenten abgeschafft und dafür gesorgt, dass in solchen Fällen stets dieselben Wachhabenden erschienen.
Sie waren im Besucherraum allein mit einem Justizangestellten, ein Umstand, der ihnen sehr recht war. Zumal der Beamte die ganze Zeit mit seinem Handy spielte.
Wolter schob das Smartphone und das Tablet rasch über den Tisch. Rechtsanwalt Jakob Hengstler ließ die Gegenstände in seiner Aktentasche verschwinden.
„Verwahren Sie die gut. Ich kann sie bis auf Weiteres nicht gebrauchen. Vermutlich wird meine Zelle in den nächsten Tagen auseinandergenommen, sie sollte dann sauber sein. Ich sage Ihnen Bescheid, wenn ich wieder an die Außenwelt angebunden werden möchte.“
Hengstler nickte. „Ich möchte noch einmal betonen, dass das Risiko, aufzufliegen, praktisch bei hundert Prozent liegt. Außerdem wird man schnell merken, dass alles gefälscht ist. Die Gramberg wird das Schauspiel schnell beenden!“
Wolter grinste. „Mag sein. Sie wird aber ein paar heftige Tage haben. Außerdem bleibt immer was hängen.“ Er schaute kurz zum Aufpasser, der ihnen gerade den Rücken zukehrte. „Es wird der Anfang vom Ende der Schlampe sein“, flüsterte er.
Der Besucher hob die Augenbrauen. „Wie meinen Sie das?“
Wolter lachte. „So, wie ich es sage, aber Sie müssen nicht alles wissen, sondern nur das umsetzen, was ich in Auftrag gebe!“
***
„Herr Jühlich, zum letzten Mal“, Dr. Kaufmanns Stimme klang genervt, „ich halte es in meiner Funktion als Chefarzt dieser Klinik für brandgefährlich, wenn Sie das Krankenhaus in Ihrem Zustand verlassen. Eine Infektion oder eine plötzlich auftretende innere Blutung können Sie in akute Lebensgefahr bringen!“
Der Juwelier verzog das Gesicht und griff nach den Armlehnen des Rollstuhls. Es war der dritte Versuch, ihn davon abzuhalten, sich selbst zu entlassen. Natürlich wusste er, welches Risiko er einging. Es musste jedoch sein, denn er hatte noch einiges zu erledigen, bevor ihn die Polizei befragen würde. Bisher hatten die Ärzte eine Vernehmung untersagt. Das würde sich jetzt ändern.
Es war praktisch alles schiefgegangen, deshalb ging es nunmehr um Schadensbegrenzung. Zunächst galt es, ungestört Kontakt nach Antwerpen aufzunehmen.
„Das habe ich ihm auch gesagt, Herr Doktor“, mischte sich Michaela ein. „Er ist und bleibt ein Sturkopf! Dirk, willst du es dir nicht doch noch einmal überlegen?“
Es reichte ihm, er hob die Stimme. „Nein! Ich habe mich entschieden. Mein Geschäft wurde überfallen und ich muss mich darum kümmern.“ Er stieß seine Frau an. „Los jetzt, wir fahren.“
„Dann wünsche ich Ihnen baldige Genesung. Mehr kann ich nicht für Sie tun.“ Der Arzt blickte an ihm vorbei und gab Michaela mit einem kurzen Kopfnicken die Hand.
„Danke, Herr Doktor, es tut mir leid.“ Sie packte die Griffe des Rollstuhls und schob ihren Mann in Richtung Aufzug.
Dirk war es ganz recht, dass sie sauer war und nicht sprach. So konnte er ungestört nachdenken. Es war ein Fehler gewesen, den Jungen mit dem Überfall zu beauftragen. Wo hielt der sich überhaupt auf? Er musste ihn unbedingt finden, bevor das der Polizei gelang.
Die kalte Abendluft riss ihn aus den Grübeleien. Michaela schob ihn an den ersten Storchenparkplätzen vorbei. Eine interessante Idee, Parkplätze für werdende Eltern in der Nähe des Haupteingangs zu reservieren. Plötzlich stoppte Michaela.
„Mist, meine Jacke liegt noch auf der Station. Warte hier, ich bin gleich zurück.“ Sie drehte sich um und lief davon.
Was sollte das jetzt? „Kannst du mich nicht wenigstens vorher zum Auto bringen?“, rief er ihr nach, die Antwort bestand aus einer abweisenden Handbewegung. Sie eilte unverdrossen weiter.
Blöde Kuh, schoss es ihm durch den Kopf. Sobald er sich abgeseilt hatte, wäre das Kapitel endlich erledigt. Er hatte lange genug gute Miene zum bösen Spiel gemacht. Sie käme nicht im Traum darauf, wie sehr er sie verarscht hatte.
Auf dem Kiesweg hinter ihm knirschte es in kürzeren Abständen. Das Geräusch kam schnell näher. Gerade, als er im Begriff war, sich umzudrehen, drückte sich kaltes Metall in sein Genick.