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Baix – Stop bei Kardinalsrot.

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Auf der Route du Soleil kommen wir schnell voran. Immer der Rhône entlang. Auch wenn wir sie nicht sehen. Schönes Gefühl südwärts zu fahren. Richtung Mittelmeer. Ausfahrt Loriol. Hopps über die Rhône. Entspannt über wenig befahrene Landstraßen. Durch Dörfer, die ihren Mittagsschlaf halten. Eines von ihnen Baix. Kennt kein Mensch. Außer dem Kardinal.

Wir hatten diesen Zwischenstopp ganz simpel errechnet. Die Kilometer der ganzen Fahrt halbiert. Finger auf Baix gelegt. Die Landkarte lügt nicht. Unser Hotel heißt ‚Le Cardinal’. Eines der ersten Mitglieder der Nobelkette ‚Relais&Chateau’. Verspricht angenehmes Wohnen in historischem Ambiente. Landhaus oder Schloss. Rose kennt das ein und andere und schwört darauf. „Du wirst staunen, wie echt alles dort ist. Mit den Jahren gewachsen. Kein modischer Schickschnack. Inhaber und Service sind Menschen wie Du und ich.“

Wir müssen sechzehn Stufen hoch. Es ist heiß. Hinter uns rauschen Erlen und Rhône. Madame sieht uns. Ruft einen Kofferträger. Eilt uns entgegen: „Avez-vous fait bon voyage?“ Gute Fahrt gehabt? Geht, kommt wieder. In den Händen ein silbernes Tablett mit zwei geschliffenen Gläsern, in denen drei Eiswürfel klinkern. Eine Flasche gekühltes Badoit l´Eau Mineral. Auf einem Schälchen Zitronenviertel. Im separaten Glas eine purpurrot gedunkelte Sommeraster. „Bienvenue ici, dans Cardinal!“ „Merci Madame.“ Das Rot der Purpurschnecke wird unser Symbol für ‚Cardinal’ und alles, was uns wohl tut.

Kardinal Richelieu nächtigte in diesem Haus, wenn er unterwegs zu Verhandlungen mit den Habsburgern war. Deshalb gab man dem Hotel später diesen Namen. Die zwielichtige Gestalt des siebzehnten Jahrhunderts spielte im dreißigjährigen Krieg Habsburg gegen die Schweden aus. Und umgekehrt. Zugunsten Frankreichs. Europa unter französischer Krone, sein Ziel. Nicht unter der habsburgischen Universalmonarchie. Wir sind froh, dass es hier nicht mehr um Macht geht. Sondern um die seltene Gelegenheit, von einer grande Madame mit französischem Charme verwöhnt zu werden. Merci Madame de la Motte.

Sie empfiehlt uns, nicht hier im Haus, sondern in der Dépendance ein Appartement zu nehmen. Etwa anderthalb Kilometer vom Abendessen entfernt. „Très bien, nous acceptons votre offre.“ Wir akzeptieren. Ein Fahrer fährt uns voran. Bis wir da sind, wo wir immer wieder sein wollen, wenn wir in Baix einen Stopp einlegen.

Der Kies knirscht unter den Rädern als ich bremse. Wir sehen zwei Gebäude T-förmig zueinander. Aus graublonden Natursteinen aufeinander gestapelte zwei Etagen. Eines mit den Gäste-Appartements. Das zweite mit Wirtschaftsräumen und einer Küche für die kleine Mahlzeit. Wir nehmen das Erdgeschoss auf halber Höhe, fünf Steinstufen hinauf. Ein ausladender Kastanienbaum beschattet die kleine Terrasse vor der Tür. Übervoll mit Früchten. Leichter Wind bewegt die Blätter. Es raschelt Willkommen. Aus einer geplanten Nacht werden drei. Purpurrot hält uns fest. Alles atmet Bleiben und Wiederkommen.

Gegen acht fahren wir zurück ins Haupthaus. Die Terrasse hat sich auf den Abend vorbereitet. In drei großen Holzbottichen bunte Sommerastern. Auf allen Tischen Decken aus festem Tuch. Purpurrote, auf denen sich weiße Platzteller optisch gut behaupten. Bereit für das, was kommt. Wir sind gespannt. Ich beobachte das Farbenspiel in den Gläsern. Purpur verdünnt sich, wird rosa. Changiert zu blauviolett. Wird klar, als wir uns mit Witwe Cliquot zuprosten. Und das letzte Licht des Tages durch das Glas leuchtet. „Santé!“ Zum Wohl. Die kleine weiße Vase schaut uns an mit gelben und purpurnen Augen.

Roses nackte Schulter fließt in die Beuge des Armes. Ein Bild für die Götter. Schöner als ich sie sah bisher. Weicher als ich sie tastete bisher. Leicht gebräunt unter Trägern bis in den tiefen Ausschnitt ihres schwarzen Hängers. Inmitten vielerlei Purpurrot in Varianten.

Futter für meine unersättlichen Augen. Die meerwärts rauschenden Wasser der Rhône in den aufgerissenen Ohren. Was will ich hören? Was sehen? Was erwartet uns noch?

Drei Seeteufel wie Boote. Sternförmig arrangiert. In den Zwischenräumen schlank geschnitzt Kartoffel, Zuccini und Möhre. Umflossen von einer vanillefarbenen Sauce, die Estragon schmecken lässt. Auf dem Rand des schlichten, dickweißen Tellers sechs Zitronenscheiben. Kein feines Limogeporzellan. Solides Alltagsgeschirr für ungepolsterte Terrassen. Was herunter fällt, zerbricht sofort in hundert Stücke. Und kostet kein Vermögen. Die feine Küche enttäuscht uns nicht. Jeder Abend auf der Terrasse ein Fest für Augen, Zunge und Herzallerliebste. Erste Nacht.


Das Telefon klingelingt. „Bon jour Monsieur, m´excusez. Voulez-vous vos oeufs à la coque ou dur?“ Am Telefon Hélene. Weich oder hart das Frühstücksei? Frühmorgens um elf. Nach der unruhigsten Nacht seit Wochen. Im roh verputzten, milchweiß gekalkten Raum ein französisches Bett. Platz für anderthalb. Da muss man sich schon sehr lieben, um schlafen zu können. Wir lieben uns, rutschen zusammen. Schlafen ist Glücksache.

Die feine Damastdecke unterm Wolltuch kühlt unsere erhitzten Körper. Aber nicht meine Gedanken. In der sehr warmen Nacht. Sehe durch das weit offene Fenster Sterne, die ihr Licht nicht löschen wollen. Uhu ruft unentwegt uhu. Der breite Schrank an der Wand strömt Eichenduft aus. Vermischt mit dem geölter, eiserner Beschläge. Es riecht nach Handwerk. Die Teppichbrücke rutscht auf dem Steinboden hin und her. Jedesmal, wenn ich mal irgendwohin muss. Das war oft. Konnte nicht schlafen. Dachte ans Geschäft. Rose schläft den Schlaf der Engel. Zusammengerollt im schimmernden Damast. Zu schön das Bild, um es wach zu küssen.

„Madame Hélène, les oefs à la coque, mais dans une demi heure s´il vous plait.“ Eier weich gekocht, aber bitte warten Sie noch eine halbe Stunde. Das gekachelte Bad macht Lust, lange zu bleiben. Alle Wände Gelb mit blauen Arabesken, Sternen, Sonnen, Vögeln. Noch nie beobachteten uns Papageien im dezenten Lampenlicht. Beim Duschen, Schminken, Lokussieren. Blauzärtlich gemalt auf sonnengelben Kacheln. Erinnern an Azuleios in Portugal und Spanien. Wie schön, die Sonne weckt uns persönlich im unausgeschlafenen Haus. Rose ist entzückt. Und glücklich, wie sie sagt. Ihre Augen strahlen mich aus dem Spiegel an. Setzt den Stift an die Braue.

Kann nicht anders, umarme sie. Sofort und so heftig, dass der Augenbrauenstift verrutscht. Über die linke Stirnseite fährt. Schwarz hinterlässt, wo es nicht hingehört. Rose lacht als sie in den Spiegel blickt. Gibt mir den Stift: „Wenn Du auf die andere Seite auch noch einen Strich ziehst, bin ich Marlene.“ Die Diva kennt man ja mit ihren hochgezogenen, dünnen Brauen. Schlinge meinen linken Arm um Roses Hals. Mit der rechten ziehe ich zärtlich den Strich auf der rechten Stirnseite. Langsam, um sicher zu gehen, dass er gelingt. Rose sieht jetzt vier Brauen auf der Stirn. Lacht laut: „Morgenmaske beim ersten Frühstück im ‚Cardinal’. Merci bien, mon artist.“ Danke, mein Künstler. „Était grande plaisir pour moi.“ Es war mir ein großes Vergnügen. Französisch zwischen Deutschen kein Problem.

Frühstücken auf der Miniterrasse. Gerade Platz für den kleinen runden Tisch und zwei Gartenstühle. Jenen aus geformtem Gusseisen. Die aussehen, als könnte der Gießer Rokoko nicht vergessen. Hübsch, aber hart. Trotz bunter Kissen. Macht nichts. Wir genießen die Stunde. Die Uhr tickt lautlos. Ein Gockel kräht. Die Kastanie versucht vergeblich, die helle Mittagssonne aufzuhalten. Raschelt mit den Blättern. Sonne wandert. Landet auf unserem Frühstückstisch. Wärmt unseren Rücken. Lässt den Tee langsamer erkalten. Nehme den Merian und suche Interessantes aus dieser Gegend. Kein Schloss, keine Kirche von Belang.

„Was machen wir?“ Rose beantwortet sich selbst: „Ich gehe schwimmen. Schnappt ihre Badetasche. Mit Buch, Zigaretten und Feuerzeug. Schlingt ihr blaugrünrotes Baumwolltuch um den nackten Leib. Läuft barfuss durchs Gras bis zum Pool. Ich erwische sie mit der Kamera. Hingerissen von diesem fliehenden, blaugrünroten Wesen. Rose, ich liebe Dich. liebe Dich.

Greife zu Merian, Badetuch und Notizblock. Ihr nach. Am blauen Pool auf schräger Böschung landen wir nacheinander. Streicheln uns gegenseitig den Rücken mit Sonnenfluid glatt. Fühle ihre Wirbelsäule. Tiefer die Mulde. Lege mich auf den Bauch und lese. Bis mir die Augendeckel zufallen. Und meine Haut langsam ein Tönchen dunkler geworden ist. Röter, korrekt gesagt. Schwimmen, trinken Kaffee und planen nichts.

Einen Tag faulenzen ist gut und schön. Dann wird es uns langweilig. Nach dem zweiten Frühstück: „Gehen wir doch einfach los. Den Weg abseits der Straße.“ Schon sind wir in Obstgärten. Plantagen wäre zu groß gesagt. Gärten mit Reihen von Äpfeln, Birnen, Pfirsichen an niedrig gehaltenen Bäumen. Pflückerfreundlich. Wir gehen längs der Reihen. Den Hang hinunter. Den Hang hinauf. Wundern uns, wie weit das Obst gereift ist. „Hier ChouChou sind die schönsten!“ Oh, hin und wieder nennt sie mich so. Wie die Franzosen den Liebling in ihren Familien.

Fotografiere drauflos. Im Vorübergehen. Prallrote Äpfel, saftgelbe Birnen, rundsüße Pfirsiche. Jedes Mal, wenn ich stehen bleibe, will ich eine der Verführerischen herunter reißen. Hineinbeißen. So provokativ gesund sah ich Obst bei uns nie. Sind sicher gespritzt sind mit Insektiziden. Antiwurmmittel? Wir sehen keinen Wurmkanal. Soweit wir auch gehen. Die Würmer höchst persönlich schon gar nicht. Lasse die Gartenfrüchte hängen, wo sie hängen. Das Wasser noch lange im Mund.

„Hier, ein schöner Apfel für Dich, Chou-Chou. Zuhause wasche ich ihn gründlich. Damit Du hineinbeißen kannst, nach Herzenslust. Ich mach mir nicht viel aus Äpfeln.“ Rose, praktisch denkend, tut ganz einfach das, was nahe liegt. Steckt den Apfel in ihren Beutel. „Gehen wir.“

Es ist Mittag. Ins Hotel wollen wir nicht zu Fuß. Da, an der Route Regional ein Lastwagen-Stop. Häuschen und ein rotweißer Sonnenschirm. „Riskieren wir´s.“ Setzen uns an einen der drei freien Tisch. Auf Klappstühle. CocaCola über uns. Gläserner Aschenbecher auf der nackten Platte. Schwarzer Kater streicht um unsere Beine. Männer im blauen Overall stehen, reden, picken mit Plastikgabel Gulasch aus der Schale. „Que desirez-vous manger?“ Der große Mann im geblümten Hemd fragt, was wir essen möchten. Als hätte er eine Speisekarte. Auf den Tischen sehen wir keine.

Rose: „Nous aimerions une omelette avec Salat. Et un pichet de vin blanc.“ „Très bien, un instant, madame.“ Mit Omelett sind wir immer gut bedient in Frankreich. Sicher auch hier. Hören Hühner gackern. Sehen den Mann über die Straße in seinen Garten laufen. Zurückkommen mit einem Kopfsalat in der Hand. An dem noch dunkle Erde klebt. Verschwindet in der Küche. Es duftet nach langsam sich bräunendem Eierteig.

Drei Mal machten wir bei Purpurrot Stop. Auf Fahrten in die Provence. Dann erkrankt Madame de la Motte. Gibt das Hotel in die Hände eines kapitalkräftigen Käufers. Aus dem Privatuntenehmen wird eine Kapitalgesellschaft. Wenig später lädt Relais&Chateau seine Gäste zu einer Präsentation alter und neuer Häuser in ganz Europa. Treffpunkt Wasserschloss Hugenpoet bei Kettwig an der Ruhr. Auch jahrelang Mitglied. Dreiviertel Autostunde nah.

Wir fahren nach Kettwig. Finden eine Parklücke am Zuweg. Viele noble Karossen nahe beieinander. Der Club der Besserverdienenden. Gehen die Geschäfte gut, leisten wir uns eines der unvergleichlich angenehmen Häuser in Italien und Frankreich. Sind neugierig, was gibt es Neues? Was macht unser ‚Le Cardinal?’ Im dunklen Fachwerkinnen des Hugenpoet glänzt nur das schwarzweiße Schachbrett des Bodens. Und die Tische der einzelnen Mitgliedshäuser. Jedes mit Kostproben seiner Küche. Überall lächelnde Gesichter. Ob sie damit allein neue Gäste gewinnen?

Etliche kennen wir: ‚Espérance’ in Vézelay, Burgund. ‚Abbay la Pommeraie’ in Selestat, Elsass. ‚Moulin de l´Abbay’ in Brântome, Dordogne. ‚Château de la Chèvre d´Or’ in Éze Village, Côte Azur. ‚Loiseau’ in Saulieu, Burgund. Madame Loiseau lächelt uns besonders freundlich zu. Ihr Mann erhängte sich letztes Jahr, als er seinen zweiten Michelin-Stern verlor. Mittlerweile gibt es Köche, die ihren freiwillig zurückgeben. Was ist ein Stern? Druck loswerden ist mehr. Mehr Freiheit für die Kunst, ihre Motivation.

‚Le Cardinal’ mit jungen Leuten aus Paris. Nicht unsympathisch. Erzählen uns, alles sei besser jetzt als früher. Wir naschen vom Amuse Bouche. Machen grosse Augen und sagen zu. Ein halbes Jahr später sind wir dort. Äusserlich alles beim Alten. Die Küche strengt sich an: Hummersüppchen unter Blätterteig. Lecker. Vom Rest schweigen wir. Nur soviel: Statt Purpurdecken weiße. Der Swimmingpool ohne Wasser. Der gute Geist des Hauses ausgefahren. Denken traurig an Madame de la Motte. Und ihre kleinen Topfgärten mit purpurfarbenen Astern auf purpurfarbenen Tischdecken. Wie geht es ihr wohl? Rose wischt eine Träne weg.

„Zwischen Calamari und den gelben Schlucken aus dem Achtelglas beiße ich die Worte – um sie in den Vers zu bringen der sie wiederholbar macht – duftend nach Öl und Knoblauch – schmeckend nach Meer und Traube und Sand – für den Fall, daß ich eines Tages meine Freuden nur noch aus Erinnerungen pflücken kann – weil mich meine Füße nicht mehr zu den Orten tragen die ich liebe“

Frankreich mit allen Sinnen

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