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Das Bahnhofsgebäude

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Das Bahnhofsgebäude bestand aus zwei Stockwerken plus Gemeinschaftskeller. Im Erdgeschoss befanden sich das Betriebsbüro, der Fahrkartenverkauf und ein Wartesaal mit polierten Nussbaumbänken um einen Kachelofen. Zwei Zimmer mit Küche bildeten die Wohnung des zweiten Stationsvorstehers.

Die Treppe mit schmiedeeisernem Handlauf führte in den ersten Stock, wo der gesamte Raum des darunterliegenden Stockwerks die Wohnung des Stationsvorstehers bildete. Und die Wohnung verfügte über einige in der Gegend unbekannte Annehmlichkeiten wie Toiletten, einen Becchi-Ofen und das kostbare Gut des elektrischen Stroms.

All das weiß Lucia noch nicht, Giovannino weiß mehr. Er hat diese Strecke nicht oft befahren, doch oft genug, um sich zu erinnern, und der Bahnhof ist ihm nicht unbekannt. Aber Fornello sollte auch für ihn eine Überraschung bereithalten. Nachdem sie den Hausrat auf dem Bahnsteig stehen gelassen haben, übernimmt es Rinaldo mit einem gewissen Stolz, die Familie Tini bei der Besichtigung der Wohnung, die von diesem Tag an ihr Heim sein wird, zu begleiten. Mit unvermuteter Galanterie öffnet der zweite Stationsvorsteher Lucia die Haustür, zeigt ihr die Treppe, reicht einen Arm, um ihr beim Aufstieg behilflich zu sein und präsentiert die Tür ihrer zukünftigen Wohnstatt.

Lucia zögerte. Räume haben besondere Maße, heimliche Tiefen, die man erst mit der Zeit oder eben nur in besonderen Momenten erfassen kann. Sie atmete langsam ein, sog die Luft auf, als wäre sie parfümiert und nicht der abgestandene Mief geschlossener Räume. Sie spürte die Nähe ihres Mannes und legte wieder unwillkürlich die Hand auf ihren runden Bauch, ein beschützender Reflex in der Ungewissheit. In diesem Moment war sie ein neues Tier in neuer Umgebung, einer Umgebung, die ihren Erwartungen nicht entsprach und deren Räume, Eigenart und gelebte Bedeutung sie bestimmen musste, um sie voll und ganz akzeptieren zu können. All das geschieht ohne meine Kontrolle, dachte sie, und ich muss es ertragen. Dieser Beginn erschien ihr nicht als der bestmögliche, aber sie hielt sich für stark genug, ihm standzuhalten.

Giovannino, dem es nicht an Sensibilität mangelte, verstand das Zögern seiner Frau, die ungewisse Welt, in der sie sich bewegte. Aber in dieser Krisenzeit zählte alles, was man bekommen konnte: Das bessere Gehalt als Bahnhofsvorsteher, der Karrierefortschritt und vor allem die Aussicht auf eine zukünftige Versetzung waren gute Gründe für ihre Anwesenheit in Fornello. Und so schritt er, von einem etwas forcierten Optimismus erfüllt, den die Ausstattung und Weite der Wohnung jedoch beflügelte, als Erster über die Schwelle ihres neuen Heims.

»Sieh mal, Lucia, es gibt sogar elektrischen Strom …«, und er drehte den Knopf aus Keramik, worauf die Deckenlampe aufleuchtete. Sebastiano beobachtete hingerissen, wie der Leuchtdraht glühend hell wurde, lächelte zufrieden über dieses durch Zauber erzeugte Licht, und endlich vernahm man seine Stimme: ruhig, gesittet, tief.

»Elektrischen Strom hat hier niemand.«

Das bedeutete, dass sie sich als Privilegierte betrachten sollten, und er sagte es nicht aus Neid. Fast schien er einen sozialen Abstand bestätigen zu wollen, ihre Zugehörigkeit zu einer Kaste, die der Zufall oder das Schicksal zur Überlegenen bestimmt hatte, und damit drückte er schon seine Anerkennung der Neuankömmlinge aus. Denn so ist es ja, Privilegien machen die Unterschiede aus, und Unterschiede bilden die Abstände zwischen den Menschen.

Die Wohnung war groß, gut gepflegt und komfortabel. Öffnete man die Fensterläden, ließ sie sich mit weichem Licht füllen, und Pipito erforschte sie bis in alle Ecken, jene Bestimmung der Räume vornehmend, die Lucia in ihrer Verwirrung nicht vermocht hatte. Und da Pipito sich als Hund mit bescheidenen Ansprüchen betrachtete, beendete er den schwierigen Vorgang mit dem ersten Jaulen, seit er aus dem Zug gestiegen war: ein zustimmendes Jaulen.

»Wohin führt diese Tür?«

Auf dem Absatz der Eingangstreppe gab es drei Türen. Zwei gehörten zur Wohnung, denn man konnte die Küche direkt vom Treppenhaus aus betreten, ohne durch das Esszimmer gehen zu müssen. Und die dritte?

»Die Schule«, erklärte der zweite Stationsvorsteher.

»Die Schule?«, fragte die Familie Tini im Chor zurück. Rinaldo drehte den Türknauf und zeigte ihnen ein Zimmer mit drei Zweierpulten und einer aufgebockten Tafel.

»Die Schule. Hierher kommen alle Kinder aus dem Tal. Bis nach Gattaia ist es zu weit.«

»In welcher Klasse sind sie denn?«, fragte Giovannino.

»In allen«, antwortete der zweite Stationsvorsteher seelenruhig. »Es sind fünf Kinder, und jedes ist in einer anderen Klasse. Aber es gibt nur einen Lehrer.«

Sofort ergriff Giovannino Tini die Gelegenheit: »Von heute an nicht nur einen. Meine Frau ist Lehrerin.«

Die unvermutete Aussicht, als Lehrerin zu arbeiten, erschien Lucia Assirelli wie ein schüchternes gutes Vorzeichen. Denn sie unterrichtete gern, und es war ein harter Verzicht gewesen, eine Entscheidung aus Liebe. Sie sagte nicht ja und nicht nein, weil sie an das Kind dachte, das sie erwartete, und an die daraus erwachsenden Pflichten. Sie sagte nicht ja und nicht nein, weil sie um ihren unbefriedigten Wunsch wusste und wie wenig Überredungskunst nötig sein würde, damit sie nachgab.

»Signora, Signor Capostazione … Es ist Mittagszeit, wenn Ihr mit mir essen möchtet … Ihr auch, Sebastiano, nur keine Umstände.«

»Wäre es nicht besser, erst unsere Sachen reinzubringen?«, wandte Giovannino Tini ein. Der zweite Stationsvorsteher verhehlte seine Verwunderung nicht. Man hatte ihm erzählt, dass die Leute im Flachland es immer eilig hatten, immerzu rannten, und da er mit ihnen arbeiten musste, schien es angebracht, sofort eine entsprechende Botschaft auszusenden, denn seit jeher passte sich an, wer hierherkam, nicht umgekehrt.

»Die stiehlt niemand, und außerdem wird es erst spät in der Nacht regnen.«

Jetzt war es Giovannino Tini, der sein Erstaunen nicht verbarg. Er ging zum Fenster, hob die Augen zum kristallklaren Himmel ohne das geringste Anzeichen von Wolken.

»Wie könnt Ihr sicher sein, dass es heute Nacht regnen wird?«

Rinaldo hatte Mühe, den bekundeten Zweifel, ja, den Sinn der Frage zu verstehen. Es war, als hätte man ihn gefragt, warum er atmete. Dann fiel ihm wieder ein, dass diese Leute aus dem Flachland kamen, aus den Städten, und schwerlich wissen konnten, was es bedeutete, dass die Luft zu still stand, ohne jeden Windhauch, dass die Eberwurz mit unmerklichen Bewegungen ihre faserigen Blütenblätter einzog, dass der Rauch der Lokomotive sich flach ausbreitete und nicht als Säule hochstieg, dass die Schwalben tiefer flogen. Der zweite Stationsvorsteher Cenci Rinaldo sagte sich, dass ein Anflug seiner Erfahrenheit hier nicht fehl am Platze war, und bot eine bewusst kindliche Antwort.

»Weil ich es weiß.«

Ein leises, gleichmäßiges Klingeln untermalte seine Worte und hörte nicht auf. Der zweite Stationsvorsteher schlug sich mit der typischen Geste der Erinnerung an etwas Wichtiges gegen die Stirn.

»Ich habe die Durchfahrt vergessen, Madonnina!«, und schickte sich an, eilig die Treppe hinunterzulaufen. Doch Giovannino hält ihn fest, überholt ihn.

»Halt! Ich bin der Stationsvorsteher …«, ruft er energisch und läuft selbst nach unten, geht auf den Bahnsteig, nimmt den alten Lederkoffer, öffnet ihn und holt eine schwarze Uniformjacke mit dem glänzenden Monogramm FS an den Kragenaufschlägen heraus, dann eine Fliege, einen roten Zylinderhut mit Zierkordel, dem geflügelten Rad und den goldenen Tressen, und innerhalb einer Minute ist Giovannino fertig angezogen – gerade noch rechtzeitig, denn das Tal erfüllt nun zunächst ein lautes Schnaufen, dann ein bisschen schwärzlicher Rauch, und der erste Zug hält kreischend vor der Signalscheibe des Bahnhofsvorstehers Tini.

Aus den drei Wagen dritter Klasse steigt nur eine Frau aus.

Gebeugt und schmal wie eine Sichel, das Gesicht hinter dem schwarzen Tuch unerkennbar, ein Weidenkorb mit Eiern und einer Stange toskanisches Brot, ihr Rock schleift fast über den Boden. Sie schenkt dem Stationsvorsteher, der stolz seine neue Uniform präsentiert, keinerlei Beachtung und zeigt sich nicht interessiert an dem aufgestapelten Hausrat, nicht einmal an den Fahrrädern, sondern schlägt den parallel zum Viadukt laufenden Pfad ein und verschwindet in der Vegetation. Giovannino, der wenigstens einen Gruß erwartet hatte und bereit war, ihn zu erwidern, bleibt enttäuscht zurück, blickt auf die Uhr, ohne die Abfahrtszeit zu kennen, schwenkt die Signalscheibe im regelmäßigen Rhythmus, den man ihn gelehrt hat, bläst in seine kleine Pfeife, und der Zug fährt weiter in Richtung Romagna, langsam, dampfend, erhitzt von der Bergauffahrt, und wird vom Eingang des Tunnels verschluckt.

»Das ist die Witwe Fanciullacci«, erklärt Rinaldo, der Giovanninos Enttäuschung bemerkt hat. »Jeden Dienstag bringt sie ihrem Mann in Ronta Blumen. Sie spricht mit niemandem. Wundert Euch darum nicht.«

Das Mittagessen stimmt Lucia wieder versöhnlich, sie fühlt sich schon etwas heimischer.

Der zweite Stationsvorsteher hatte unbekannte Gerichte mit ebenso unbekanntem Geschmack zubereitet. Tagliatelle mit Kastanienbrei zum Beispiel oder eine flache Torte aus Kastanienmehl, die Lucia »castagnaccio«, Cenci Rinaldo aber »pattona« nennt. Lucia Assirelli ist nicht wählerisch beim Essen, sie probiert neugierig, möchte wissen und informiert sich, wie dieses und jenes zubereitet wird, welche Zutaten in diesem und jenem sind. Auch Pipito, der bei ihnen in der Küche sein darf, riecht vorsichtig an diesen unbekannten Happen, blickt seine Besitzer fragend an, dann entschließt er sich, und es ist ein einziges Maullecken.

Giovannino isst mit Appetit, insgeheim erleichtert zu sehen, dass die Anspannung seiner Frau nachlässt, ihre Enttäuschung über diesen abgeschiedenen, einsam gelegenen Ort weicht. Mit der Zeit würde sie sich anpassen, überlegte er, das Kind würde neue Aufgaben mit sich bringen, und auch die Schule würde sie in Anspruch nehmen, denn er hatte bemerkt, wie anziehend der Gedanke für sie war, er kannte die Wünsche seiner Lucia: Für ihr Kind und für Kinder allgemein würde sie alles tun.

Daran, wie sie saßen, worauf sie saßen, erkannten sie das Junggesellenleben des zweiten Stationsvorstehers. Er hatte schon Mühe gehabt, vier Stühle zu finden, nun gut, dann passten sie eben nicht zueinander, und einen musste er sogar aus dem Wartesaal holen. Neben drei Tellern guten Geschirrs gab es einen vom häufigen Waschen angestoßenen Teller, während die Gläser miteinander um das sonderbarste Aussehen wetteiferten. Aber als Koch machte Rinaldo sich nicht schlecht, und der Wein floss angenehm durch die Kehle, ganz ohne Säure. Unangenehm waren allein die Fliegen, lästig und zahlreich, obwohl der Briefträger die Klatsche zückte und spiralförmiges Fliegenpapier von der Decke baumelte.

»Ihr habt ein Fliegennetz im Schlafzimmer. Das hat der vorherige Stationsvorsteher hinterlassen, Ihr werdet gut schlafen.«

»Wohin ist der alte Bahnhofsvorsteher gegangen?«, erkundigte sich Giovannino.

»Nach Florenz, an die Station Rifredi.«

»Dann hat er Karriere gemacht …«, und er warf seiner Frau einen Blick zu, als wollte er sagen: Siehst du? Ein kleines Opfer und dann … Lucia bemerkte den Blick nicht, ihre Hand lag wie üblich schützend auf dem Bauch, der Kopf war in Gedanken und leichter Müdigkeit versunken.

Sebastiano aß mit der Briefträgermütze im Nacken, aber sicher nicht, weil er unerzogen war – in der kleinen Küche gab es keinen Platz, um sie abzulegen. Er aß recht still, das musste sein Charakter sein, ehrerbietig und wortkarg. Giovannino betrachtete ihn und konnte ihm kein Alter zuordnen, er mochte ein junger Mann sein, der alt geboren wurde, oder ein Alter, der sich in seiner Jugend nicht aufgezehrt hatte. Wie auch immer, Giovannino vermutete, dass er – am Geburtenregister gemessen – der jüngste der drei Männer am Tisch war, und sich in gewisser Weise als ihr Vorgesetzter zu wissen, weckte seine charakterliche Unsicherheit.

Lucia bemerkte, dass die Stille des Tals doch nicht so geräuschlos war. Sie hörte ein unbestimmtes, rhythmisches Brummen, das gedämpfte Rasseln von Eisen, Anzeichen eines unmerklichen Lebens, wie das Wimmeln von Ameisen, das man staunend entdeckt, wenn man sich das Erdreich von nahem ansieht.

»Was sind das für Geräusche?«

»Der Mähdrescher«, erklärte der Briefträger, ohne noch etwas hinzuzufügen. Lucia erhebt sich, um ans Fenster zu gehen, und ihr Blick ist ein Sprung, eine Brücke, die diesen tiefen Spalt, diesen geheimnisvollen Sturzbach neben dem Bahnhofsgebäude überquert. Weiter hinten erkennt sie endlich sauberes Unterholz, krumme Bäume von einer Art, die sie noch nie gesehen hat, Pfade, deren Spuren sich zwischen den unterschiedlichen Höhen verlieren, kleine, abschüssige Parzellen von einer Farbe wie ihre Haare, und weiter oben auf dem freien Bergkamm reglose weiße Flecken, die weiden. Sie schärft die Augen, dreht leicht den Kopf, da werden die Umrisse zur Linken, die sie für eine Felswand gehalten hatte, zu einem Gehöft, und was aussah wie ein verlassener Steinhaufen, belebt sich, es sind Rinder, und dieser einsame Steinblock stößt Rauch aus, es ist ein Mähdrescher bei der Arbeit, es gibt sogar winzige menschliche Gestalten.

Der Briefträger erklärte ihr, der Padrone der Brancobalardi – das waren die Häuser, die man oben auf dem Kamm der Giogana kaum erkannte – sei ein Hauptmann der Forstmiliz. Den Mähdrescher habe er Stück für Stück, Schraube für Schraube zerlegt und mit Maultieren und der Kraft von hundertneunundsiebzig Männern bis hierher bringen lassen, wirklich hundertneunundsiebzig, denn weil die Maschine nirgendwohin fahren durfte, hatte sie keine Räder: ein funktionstüchtiges Mahnmal.

Die Erzählung regt Lucias Phantasie an, erinnert sie an die fünfzehn Schiffe von Cortés, die auf dieselbe Weise durch das Reich der Azteken transportiert wurden, und diese verrückte Geschichte scheint ihr kennzeichnend für das ganze Tal. Staunend entdeckt sie seine pulsierende, unveränderliche Wirklichkeit, ihr ist, als vernähme sie sogar den fernen Duft gedroschenen Korns.

Am Abend überfiel die Familie Tini große Müdigkeit.

Der letzte Zug fuhr um 20 Uhr. Nicht, dass es viel Verkehr gab: Während Lucia am Nachmittag ihre Aussteuer und die Unterwäsche in der Truhe hinter dem Bett verstaute, zählte sie vier Züge, und niemand stieg aus oder ein. Giovannino half ihr, Ordnung zu schaffen, er machte sich mit dem Haus vertraut, doch wenn er das mittlerweile vertraute Klingeln hörte, zog er sich blitzschnell um und übernahm das Kommando auf dem Bahnhof. Obwohl er genau wusste, aus welcher Richtung die Züge kamen, ob aus Mugello oder aus der Romagna, blickte er gleichgültig mal zu dem einen, mal zum anderen Tunnel hin, ohne sein Wissen beobachtet von Rinaldo, der halb versteckt am Fenster stand. Und Rinaldo schüttelte den Kopf, ihn amüsierte dieser baumlange Stadtbürger, der sich schon für einen Bahnhofsvorsteher hielt, nur weil er den Wettbewerb um diese Stelle gewonnen hatte. Diese Wettbewerbe, das wusste Rinaldo, gewannen die Parteimitglieder, nicht die Befähigten. Und der hier war ein Parteimitglied, einer, den man empfohlen hatte, so lief das. Aber dieser Giovannino Tini missfiel ihm nicht, und er dachte, dass er es weitaus schlechter hätte treffen können.

Am Abend waren sie also sehr müde. Nach dem letzten Zug, in den Sebastiano einstieg – er wohnte in Ronta und kam nur zweimal in der Woche nach Fornello –, ließen sie sich vom zweiten Stationsvorsteher die Reste vom Mittagessen servieren, und nach dem Essen genehmigte sich Giovannino ein zusätzliches Gläschen. Er schloss das Büro ab, in dem Pipito schlief – er hatte ihm einen Schlafplatz aus zwei zusammengerollten Decken bereitet –, schloss den Bahnhof ab, löschte das Licht im Wartesaal und nahm die Treppe, um auch den Tag abzuschließen.

Lucia ist im Bad, sie steht vor der Waschschüssel aus Keramik. Ihre blonden Haare hat sie gelöst und bürstet sie jetzt sorgfältig, dabei beobachtet sie sich im runden Spiegel. Sie trägt ein Nachthemd aus weißem Leinen, es reicht ihr bis zu den Knien, und darunter ahnt man das Unterkleid. Nach beendeter Abendtoilette bleibt sie unschlüssig in der Tür zum Schlafzimmer stehen. Giovannino zieht sich gerade aus, hängt die Uniformjacke ordentlich auf einen Bügel, legt den Zylinder in die Truhe und schiebt die Schuhe unter den Nachttisch. Dann stellt er den Wecker auf sechs Uhr, eine Stunde vor der ersten Durchfahrt. Er sieht Lucia in der Tür stehen, ihr Busen ist durch die Schwangerschaft voller geworden, ihr Bauch hat diese neue weiche Mondrundung, und er bekommt große Lust, sie zu liebkosen, mit ihr zu schlafen. Dann hält ihn der Gedanke an den zweiten Stationsvorsteher direkt unter ihnen zurück. Er würde alles hören, und Giovannino schämt sich.

Im Tal haben alle Tätigkeiten aufgehört, die dunkle Nacht bricht an, von den schwachen Petroleumlichtern in den Häusern kaum gestört. Der Himmel ist sternenübersät, wie sie ihn noch nie gesehen haben, die Luft so reglos wie Eis, und in der vollkommenen Stille setzt der im tiefen Spalt verborgene Gebirgsbach neben dem Bahnhof seinen endlosen Weg in Richtung Flachland fort.

Als sie zusammen, einander nahe waren und Giovannino die Wärme von Lucias Körper spüren konnte, gab es mehr Stille als Worte, mehr Seufzer als Stöhnen. Was sie während des Tages gedacht hatten, machte der ersehnten Zärtlichkeit Platz, ineinander verschlungenen Händen, in heimlicher Lust sich biegenden Rücken. Alles schien sich in wenigen Augenblicken aufzulösen, um sie erschöpft und befriedigt zurückzulassen. Sie schliefen in enger Umarmung ein.

Keiner der beiden sah ein paar Stunden später den jähen hellen Schein im nächtlichen Dunkel, einen über dem Bergkamm aufzuckenden Blitz. Das dumpfe Grollen, das auf den Lichtschein antwortete, drang fremd in Romeos Träume, und vielleicht hatte das Kind darum niemals Angst vor dem Donner.

Aus dem Schlaf geweckt, schüttelten die Blätter der Kastanienbäume sich unter einem peitschenden Windstoß. Lucia erwachte aus Giovanninos Umarmung – vielleicht war es auch Romeo, der sie weckte, vom Donnergrollen neugierig gemacht –, stellte sich ans Fenster und öffnete die Läden. Der Himmel war nicht mehr sternenbedeckt, das Dunkel kompakt, einförmig, bedrohlich. Über der Bergkette sah sie von den Wolken getrübte Blitze, die sich auf einer weiten Fläche verteilten, gefolgt von undeutlichem Grollen.

Da nahm Lucia ein Spiel aus ihren Kindertagen auf: Sobald sie das Flackern des Blitzes sah, fing sie an, die Sekunden bis zum Rollen des Donners zu zählen. So konnte sie die Entfernung zwischen dem Gewitter und ihrem Standort annähernd bestimmen.

Zwanzig Kilometer. Achtzehn. Zwölf.

Das Gewitter kam rasch näher. Das verzweigte Aufflackern der elektrischen Entladungen wurde zu einem faszinierenden Schauspiel. Der nachfolgende Donner war stärker geworden, entfaltete sich in einem hin und her schaukelnden Rollen mit zunehmender Lautstärke. Die Windstöße wurden heftiger, schon bogen sich die zarten Zweige der Kirschbäume hinter dem Bahnhof. Und endlich hörte Lucia mit kindlicher Freude, wie die ersten Tropfen mit einem dumpfen Echo auf die Dachziegel fielen, erst vereinzelt und schwer, dann als flüssige Masse, die ihr sogar die Sicht nahm. Bald gurgelte das Wasser in den Dachtraufen, den Regenrinnen, und aus dem Tal stieg der starke Duft nach Feuchtigkeit auf, jene charakteristische Mischung aus Wald, Erde und weichem Holz.

Was sie in diesem Moment verspürte, war unendlich wertvoll für Lucia Assirelli. Sie merkte, wie gierig sie den Geruch des Gewitters einatmete, in der Hoffnung, dass auch das Kind, das sie behütete und wachsen ließ, ihn atmen konnte. Sie erlebte diesen unerwarteten Regen als Willkommensgruß des Tals und dachte, dass sie auf dem Flachland niemals ein solches Schauspiel hätte genießen können.

Der Junge, der an das Glück glaubte

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