Читать книгу Herz im Zwiespalt - Patricia Alge - Страница 4
Prolog
ОглавлениеSchottland, März 1168, Ostturm, von Castle Fraser
Es war ein Anblick wie aus einem Hexenszenario. Weit heruntergebrannte Talgkerzen schmolzen in Wandhalterungen vor sich hin und ergossen ihre zähflüssige Masse auf die alten Binsen am Boden. Durchdringende, würzige Düfte getrockneter Gräser und Kräuter erschwerten das Atmen in der kleinen Turmkammer. Die Wände waren mit hölzernen Regalen verkleidet, die Tiegel, Schüsseln und Kästchen mit verschiedenen Pulvern und Flüssigkeiten enthielten. Von der Decke hingen blasse, bizarr geformte Wurzeln herab und warfen mysteriöse Schatten an die Wände. Wohin man auch sah, lagen und hingen unzählige Stapel und Häufchen verschiedener Kräuter. Neben den Regalen standen ein kleines Fass, das als Sitzgelegenheit diente, und ein schäbig wirkender Tisch -die einzigen Möbelstücke im Raum. Der Tisch drohte unter dem Gewicht der dicken, ledergebundenen Bücher und Mörser beinahe nachzugeben. Mitten in diesem Chaos rieb sich eine kleine, zierliche Frau nachdenklich das schmale Kinn. Lady Elena Cambell, einzige Tochter des Earls von Canterbury, fühlte sich vollkommen in ihrem Element. Dies war ihre kleine Welt. Ein Ort, den kaum jemand zu betreten wagte – ihre Zuflucht vor dem Grauen des Alltags in Castle Fraser.
„Irgendwo müsste ich doch noch etwas von dem Bingelkraut haben“, überlegte Elena halblaut und ließ ihre Augen erneut durch den Raum schweifen. Sie arbeitete gerade an der Fertigstellung einer Salbe, die der alten Köchin Linderung bei ihrem Rheuma verschaffen sollte.
„Ah, da ist es ja.“
Vorsichtig die Röcke anhebend, bahnte sie sich einen Weg durch die Kräuterhäufchen.
Just in diesem Moment wurde die Tür so heftig aufgestoßen, dass sie mit einem lauten Krachen gegen die Wand schlug. Elena wirbelte erschrocken herum und erstarrte im selben Moment. Zu entsetzt, um auch nur ein Wort herauszubringen, hefteten sich ihre Augen auf das blasse Gesicht ihres Vaters. Lord Cambell wankte, die Hände fest auf die stark blutende Wunde an seiner Seite gepresst, in den Raum. Blut sprudelte zwischen seinen Fingern hervor und durchtränkte bereits seine Beinkleider.
„Elena“, stöhnte er gepresst, bevor er bewusstlos zusammenbrach.
„Um Himmels willen … Papa!“, schrie Elena auf und stürzte an die Seite ihres Vaters. Behutsam bettete sie seinen Kopf auf ihren Schoß.
„Papa“ – ihre Stimme überschlug sich vor Angst – „Papa, bitte sag doch etwas! Was ist denn passiert?“
Gerade als sie seine Wunde untersuchen wollte, öffnete er wieder die Augen und stieß ihre Hand weg.
„Elena …“ Ein heftiger Hustenanfall hinderte ihn daran, weiter zu sprechen, und der Geruch von süßem Wein und Blut schlug ihr entgegen.
„Elena … wir werden überfallen … flieh!“
Elenas Herz wollte vor Schmerz zerspringen. Nie zuvor hatte sie ihren Vater so schwach gesehen. Trotz seines kleinen Wuchses war er ihr immer stark und unnachgiebig erschienen. Zumindest bis zu jenem Zeitpunkt, als sich Lord Grenwick mit seinen Kumpanen wie eine fette Schabe in diesem Schloss eingenistet hatte. Das allmählich verblassende Veilchen unter Elenas rechtem Auge kribbelte bei der Erinnerung an Grenwicks letzten Wutausbruch. Ihr Vater selbst war wieder einmal zu betrunken gewesen, um ihr zu Hilfe eilen zu können.
„Flieh, Elena!“
„Nein, Papa, ich werde dich nicht allein lassen.“
Aus der großen Halle drang das metallene Geräusch von Schwertklingen, die aufeinander schlugen, gefolgt von lautem Gebrüll und Rufen. Elena schüttelte entschieden den Kopf und tupfte ihrem Vater mit dem Schürzenzipfel den Schweiß von der Stirn.
„Du brauchst mich, Papa. Lass mich dir helfen …“ Erneut versuchte sie, seine Hände von der Wunde zu schieben, um sie genauer betrachten zu können, doch er ergriff ihr Handgelenk so fest, dass sie beinahe aufgeschrien hätte.
„Du …“ Wie ein Ertrinkender klammerte er sich an sie, während ein neuerlicher Hustenanfall seinen Körper peinigte. „Du musst fliehen und …“ Er befeuchtete seine trockenen Lippen. „… und Hilfe holen. Ich gebe dir Todd als Begleiter mit.“ Er deutete mit einem Nicken auf den jungen Mann, der mit unergründlicher Miene im Türrahmen stand. „Er … er weiß, was zu tun ist, und er wird dich beschützen.“
Elena blickte kurz auf, widmete sich aber sogleich wieder ihrem Vater.
„Was ist mit Lord Grenwick und seinen Männern? Sie waren doch heute deine Gäste. Warum haben sie dir nicht geholfen?“
Elena glaubte zu spüren, wie ihr Vater leicht zusammenzuckte, bevor er sein Gesicht von ihr abwandte und flüsterte: „Ich weiß es nicht. Sie sind entweder gefallen oder gefangen genommen worden. Ich gewährte ihnen Schutz durch meine Gastfreundschaft und nun … Ich … Ich habe versagt.“
„Bitte, quäle dich nicht, Papa! Dich trifft keine Schuld. Ich werde König Malcolm eine Nachricht schicken. Er wird wissen, was zu tun ist.“
Lord Cambell schüttelte erschöpft den Kopf. „Der König ist zu Friedensverhandlungen in … in Edinburgh. Du bist die Einzige, Elena.“
Elena nahm wahr, dass sich der Husten ihres Vaters allmählich in ein röchelndes Keuchen verwandelte, und die Angst um ihn schnürte ihr die Kehle zu.
„Meine Tochter, du bist die Einzige, die jetzt Hilfe holen kann.“
„Papa, bitte sprich nicht!“, beschwor sie ihn leise. „Spare deine Kräfte.“
Lord Cambell schüttelte langsam den Kopf. „Du darfst keine Zeit verlieren, mein Kind. Nicht auszudenken, wenn die da unten dich in die Finger bekommen würden!“ Ein Schaudern durchlief seinen Körper. „Geh jetzt, die Zeit wird knapp!“
Er gab dem Mann an der Tür ein Zeichen, woraufhin dieser neben Elena trat.
„Mylady, wir müssen uns beeilen.“
Elena hörte, wie das Schwerterklirren näher kam, schüttelte aber dennoch energisch den Kopf. „Ich gehe nirgendwohin!“ Entschlossen stand sie auf. „Nun steh’ nicht herum, hilf mir lieber, meinen Vater in Sicherheit zu bringen.“
Todd rührte sich nicht. „Es ist Eures Vaters Wunsch, dass ich Euch aus der Burg schaffe.“
Die Art, wie er das Wort Wunsch betonte, ließ keinen Zweifel daran, dass Todd den Befehl seines Herrn zu befolgen gedachte.
„Aber …“ Elena wollte sich wehren, doch Lord Cambell unterbrach sie mit erstaunlich fester Stimme.
„Elena, so flieh doch endlich, bring dich in Sicherheit! Geh und finde den Feldherrn, den man den Höllendämon nennt! Nur er kann uns jetzt noch helfen.“ Und etwas leiser fügte er hinzu: „Bei Gott, ich wünschte, ich könnte dir diese Aufgabe ersparen, mein Kind.“