Читать книгу Dr. Norden Bestseller Paket 5 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 12
ОглавлениеDer letzte Kunde hatte die Bank verlassen. Der Banklehrling Günter Gross war ihm gefolgt und wollte die Tür abschließen. Es war Januar und schon dunkel. Da stürzten zwei vermummte Männer auf die Tür zu und drückten sie auf. Einer umklammerte den achtzehnjährigen schmächtigen Günter mit eisernem Griff.
»Hände hoch, das ist ein Überfall!«, schrie der andere. Nur noch die Kassiererin und der Zweigstellenleiter Manfred Schreiber befanden sich in dem Kassenraum.
»Nicht schon wieder!«, stöhnte die Kassiererin Gretl Böhm.
Diesmal nicht!, dachte Manfred Schreiber und drückte den Alarmknopf.
»Geld her! Aber rasch!«, zischte der Mann und fuchtelte mit dem Revolver.
»Es gibt kein Geld«, sagte Manfred und drängte sich vor Gretl Böhm.
»Ich knall den Günter ab, wenn du kein Geld rausrückst.«
Manfred nahm ein Bündel Hunderter aus der Kasse und hoffte, dass die Polizei kommen würde. Da ertönte auch schon das Martinshorn.
»Du Hund, da hast du dein Fett!«, schrie der Gangster und schoß wild auf Manfred Schreiber los.
Günter stieß einen schrillen Schrei aus, als der zweite Mann ihn mit zur Tür schleppen wollte. Da stürmten die Polizisten schon herein, aber der Mann mit der Waffe schoß wild um sich, traf Günter, aber auch seinen Komplicen. Dann wurde er überwältigt.
Gretl Böhm zitterte, aber sie griff schon nach dem Telefon und wählte Dr. Nordens Nummer. Er war ihr Hausarzt, sie hatte seine Nummer im Kopf, und selbst in den Minuten der Angst ließ sie ihr Gedächtnis nicht im Stich.
Dr. Norden kam und auch der Notarztwagen. Draußen sammelten sich schon die Sensationslüsternen, während Dr. Norden sich um den schwer verletzten Manfred Schreiber bemühte.
»Sofort in die Behnisch-Klinik«, sagte er leise. »Höchste Lebensgefahr.«
Gretl Böhm begann zu weinen. Günter, der einen Streifschuss abbekommen hatte, schluchzte jammervoll, und als dem Gangster dann die Strumpfmaske vom Gesicht gezogen wurde, schrie er gellend auf und verlor das Bewusstsein.
Der zweite Mann, der Günter festgehalten hatte, lag schon leblos am Boden, und als Dr. Norden nun auch da Erste Hilfe leisten wollte, konnte er nur feststellen, dass er tödlich getroffen war. Diesen Burschen kannte er.
Sein Gesicht wirkte wie versteinert, als er sich aufrichtete. »Die armen Eltern«, sagte er leise. »Es ist Heiner Raabe.«
»Allmächtiger«, murmelte Gretl Böhm. Dann sank sie in einen Sessel und schlug die Hände vor ihr Gesicht.
Auch Günter Gross wurde in die Behnisch-Klinik gebracht, und Dr. Norden nahm dann Gretl Böhm auch mit dorthin, denn es konnte durchaus möglich sein, dass sich der schwere Schock noch auswirkte.
»Diesmal warst du wenigstens nicht dabei«, empfing ihn Dr. Jenny Behnisch.
»Mir langt’s auch so«, erwiderte er heiser. »Wie geht es Manfred?«
Er kannte den jungen Mann, der in seinem Leben schon viel Schmerzliches durchmachen musste. Den Vater hatte er verloren, als er fünfzehn war, die Mutter hatte sich hart getan, um ihm eine gute Ausbildung zuteilwerden zu lassen, und als er es geschafft hatte, verlor er seine Verlobte durch einen tragischen Unfall. Nun schwebte er selbst zwischen Leben und Tod, und Dr. Norden wusste nicht, wie er es Paula Schreiber beibringen sollte.
Doch da kam sie schon, eine schlanke, ja, zierliche Frau von fünfzig Jahren mit schon schneeweißem Haar.
Man hatte es ihr berichtet, dass die Bank überfallen worden sei. Sie war geisterhaft bleich und ihrer Stimme kaum mächtig.
Dr. Norden griff gleich beruhigend nach ihren Händen, obwohl er nicht wusste, wie hier zu trösten sein konnte.
»Er darf nicht sterben«, flüsterte sie. »Mein Junge, er hat doch niemandem etwas getan. Er war immer so ein guter Junge.«
»Es wird alles für Manfred getan werden, was menschenmöglich ist«, sagte Dr. Norden. »Alles, das kann ich Ihnen versprechen, Frau Schreiber.«
»Menschenmöglich«, wiederholte sie leise. »Gott hat uns verlassen. Was haben wir denn getan, dass er uns solche Prüfungen auferlegt? Was soll ich beten, wenn es doch nichts nützt.« Ihre Stimme erstickte in einem trockenen Schluchzen, und in ihrem Blick stand nur noch unendliche Verzweiflung.
Er führte sie ins Ärztezimmer, wo auch Gretl Böhm saß. Die sprang sofort auf und umarmte Paula Schreiber. »Es tut mir ja so leid, Frau Schreiber«, stammelte sie. »Manfred war so mutig. Aber es wird ihm geholfen. Dr. Norden war schnell da.«
»Er muss leben, mein Junge muss leben«, flüsterte Paula Schreiber wieder.
Dr. Norden war inzwischen einem Wink von Schwester Martha gefolgt. »Der Chef braucht Sie«, sagte sie leise. »Lungendurchschuss. Er muss sofort operieren. Alles hängt davon ab, dass die Anästhesie genau dosiert wird.«
»Wer kümmert sich um den Jungen?«, fragte Dr. Norden, während ihm die Operationskleidung angelegt wurde.
»Dr. Neubert. Der Junge hat nur einen Streifschuss abbekommen.«
Bei Manfred war ein Schuss dicht an der Schlagader vorbeigegangen, ein zweiter in den Arm, der dritte war der Lungendurchschuss. Beim Sturz hatte er noch Schnittwunden durch Glassplitter im Gesicht davongetragen.
Jetzt war keine Zeit für lange Besprechungen. Dr. Norden führte die Anästhesie gewissenhaft durch. Jenny assistierte ihrem Mann, und sie atmete erleichtert auf, als Dieter ihr einen ermunternden Blick zuwarf, den sie dann an Daniel weitergab. Sie waren Freunde und ein eingespieltes Team, das sich durch Blicke verständigen konnte.
Es herrschte absolute Stille im OP. Währenddessen kümmerte sich Dr. Neubert um Günter Gross. Der Junge war wieder bei Bewusstsein, aber völlig verstört.
»Es war der Rudi«, murmelte er.
»Welcher Rudi?«, fragte Dr. Neubert.
»Der Maurer, der, der geschossen hat. Ich hab’ aber damit nichts zu tun, das müssen Sie mir glauben.«
»Das sagt doch niemand, Junge.«
»Was ist mit Herrn Schreiber?«
»Er wird operiert.«
»Ist es schlimm?«
»Jetzt denk nicht daran. Deine Eltern sind gekommen.«
»Mama hat immer gesagt, dass sie nicht will, dass ich in eine Bank gehe, weil da soviel passiert. Aber im Rechnen war ich doch immer gut, sonst nicht.«
Das Ehepaar Gross konnte seinen Sohn in die Arme schließen und mit nach Hause nehmen. Dr. Neubert wollte nun nach Frau Böhm sehen, aber Gretl meinte, er solle sich lieber um Frau Schreiber kümmern.
»Ich hab’ das schon mal mitgemacht, aber da haben sie das Geld genommen und nicht geschossen.«
»Aber Sie sind doch als Geisel mitgenommen worden«, murmelte Frau Schreiber.
»Ich habe es überstanden«, erklärte Gretl. »Ob da der Raabe auch schon dabeigewesen ist?«
»Raabe? Meinen Sie Heiner Raabe?«, fragte Paula Schreiber erregt. »Das sind doch unsere Nachbarn!«
Gretl nickte. »Und nun ist der Heiner tot. Von seinem Komplicen erschossen. Und für seine Eltern ist das wohl besser so.«
»Es sind doch so anständige Leute«, sagte Paula erschüttert. »Herr Raabe kann doch nichts dafür, dass er vorzeitig in die Rente geschickt wurde wegen seiner Krankheit. Sie haben auch schon soviel durchgemacht.«
Nun dachte sie nicht mehr nur an ihr eigenes Leid. Ihr Mitleid galt auch den Eltern eines ungeratenen Sohnes, von dem ihnen schon genug Kummer bereitet worden war.
»Was ist mit dem Günter?«, fragte Gretl Böhm.
»Seine Eltern haben ihn gerade abgeholt«, erwiderte Dr. Neubert.
»Jetzt wollen wir Sie mal durchchecken, Frau Böhm.«
»Ach was, ich komm schon wieder von selbst auf die Beine, wenn es Manfred bessergeht. Wenn er Blut braucht, wir haben die gleiche Blutgruppe, Herr Doktor.«
»Das fehlte noch, dass wir Ihnen jetzt auch noch Blut abzapfen«, sagte Dr. Neubert. »Wir haben Konserven zur Verfügung.«
»Mir ist es aber lieber, wenn der Manfred mein Blut kriegt«, sagte Gretl. »Da kann ich wenigstens auch was für ihn tun, nachdem er sich so schützend vor mich gestellt hat. Ich bin gesund, das kann Ihnen Dr. Norden bestätigen.«
Sie war Mitte Dreißig und eine sehr ansehnliche Frau. Dr. Neubert überlegte, ob sie Manfred Schreiber persönlich verbunden sei.
»Wenn Sie das für meinen Jungen tun würden, Frau Böhm, ich würde es Ihnen immer danken«, sagte Paula Schreiber.
»Na, dann kommen Sie mal mit«, sagte Dr. Neubert so forsch, wie auch Gretl geredet hatte.
Und forsch ging es auch weiter. »Jetzt denken Sie bloß nicht, dass ich was mit Manni habe«, sagte Gretl. »Ich bin ja fünf Jahre älter als er. Aber er ist so ein feiner Mensch. Ich verstehe nicht, warum es immer solche erwischen muss, nur weil sie sich nicht feige verkriechen. Und er ist doch der Lebensinhalt seiner Mutter. Da kann ich doch nicht schlappmachen!«
Und sie machte nicht schlapp. Dr. Behnisch willigte in eine Direkttransfusion ein, weil eine solche tatsächlich die Beste sein konnte.
Manfred merkte nichts davon, dass nun Gretls Blut in seine Adern floss, und sie fühlte sich dann doch ein bisschen schlapp, wenn sie es auch nicht zugeben wollte.
Sie wurde von Dr. Neubert betreut. Sie musste ruhen. »Sollten wir nicht auch Ihre Angehörigen verständigen, Frau Böhm?«, fragte er.
»Ich hab’ doch niemand, außer meinem Jungen, und der ist im Internat«, sagte sie. »Den soll man nicht verschrecken, er ist so sensibel. Aber ich wollte nicht, dass er mal in solche Gesellschaft kommt wie der Heiner Raabe.«
»Und Ihr Mann?«, fragte der Arzt.
»Ich hab’ keinen. Er hat mich sitzenlassen mit dem Kind.« Ihre Augen begannen zu funkeln. »Erinnern Sie mich bloß nicht an diesen Kerl.«
»Gott bewahre, ich bitte um Verzeihung.«
»Haben Sie Kinder?«, fragte Gretl.
»Nein, ich bin auch nicht verheiratet.«
»Auch Pech gehabt?«, fragte sie blinzelnd.
»So könnte man es nennen.«
»So was werd ich nie verstehen«, murmelte sie, »dass so oft die Falschen zusammenkommen und anständige Eltern ungeratene Kinder haben.«
»Wie alt ist Ihr Sohn?«, fragte Dr. Neubert.
»Zwölf. Ich würde ihn ja auch gern bei mir haben, aber ich muss arbeiten. Hoffentlich bringen sie nicht gleich was im Radio von dem Überfall, damit es Tommi nicht hört.« Sie richtete sich auf.
»Ich muss nach Hause, falls er anruft.«
»Das kann ich nicht verantworten, Frau Böhm, wirklich nicht«, sagte Dr. Neubert.
»Dann rufen Sie doch bitte im Internat an und sagen Sie, dass mir nichts passiert ist. Darf ich darum bitten?«
»Selbstverständlich.«
Sie gab ihm die Nummer, dann schloss sie die Augen.
Dr. Norden konnte Frau Schreiber inzwischen sagen, dass es Manfred den Umständen entsprechend zufriedenstellend gehe. Sie wollte in der Klinik bleiben. Dafür hatte man Verständnis, und man war in der Behnisch-Klinik auch darauf vorbereitet.
*
Inzwischen waren auch Heiner Raabes Eltern von dem Geschehen unterrichtet worden und wussten, dass ihr Sohn tot war. Der einzige Sohn, der auch einmal ein normales Kind gewesen war, in ordentlichen Verhältnissen aufgewachsen, um dann aber in schlechte Gesellschaft zu geraten, als sich die finanzielle Situation seiner Eltern verschlechtert hatte, und er nicht mehr alles bekam, was er sich wünschte, vor allem nicht das ersehnte Auto, das die meisten seiner Freunde bereits besaßen. Sein Verderb war es gewesen, dass er Rudi Maurer kennengelernt hatte. Da hatte es damit angefangen, dass sie Spritztouren mit Autos machten, die zur Reparatur gebracht worden waren. Das war noch das Harmloseste gewesen, da diese Autos immer unbeschädigt den Besitzern zurückgegeben wurden. Worauf Heiner sich dann allerdings noch eingelassen hatte, musste erst noch recherchiert werden. Jetzt war er tot, und er konnte für nichts mehr zur Rechenschaft gezogen werden.
»Gut, dass wir schon einen Käufer für das Haus haben«, sagte Herr Raabe zu seiner Frau. »Hier ist unseres Bleibens nicht mehr. Wie sollten wir Frau Schreiber noch in die Augen schauen können?«
»Wie sollen wir denn weiterleben?«, fragte sie tonlos.
»Wie es uns bestimmt ist. Wir müssen das Kreuz tragen, das uns aufgebürdet ist.«
»Unser Sohn ist tot«, sagte sie bebend.
»Für mich ist er schon lange tot«, sagte er hart. »Dass ausgerechnet Manfred Schreiber, dieser anständige Mann, so leiden muss, ich kann auch für Heiner keine Entschuldigung mehr finden.«
Eine menschliche Tragödie! Ihnen konnte es auch keinen Trost geben, dass Paula Schreiber am nächsten Morgen bei ihnen anrief und ihnen sagte, dass dieses Geschehen ihr gutnachbarschaftliches Verhältnis nicht beeinträchtigen solle.
Tränen rannen über Paulas Gesicht, als sie den Hörer auflegte. »Sie gehen weg«, sagte sie zu Jenny Behnisch. »Alte Bäume soll man nicht verpflanzen, sie wurzeln doch nicht mehr ein, Frau Dr. Behnisch.«
Sie sterben schneller, dachte Jenny. Und für diese Eltern ist wohl auch das Leben nicht mehr lebenswert. Aber wenigstens Paula Schreiber konnte getröstet werden. Es war schon eine leichte Besserung in Manfreds Befinden eingetreten, und wenn er die Krise überstand, würde er weiterleben.
*
Gretl Böhm hatte von der Direktion einen Sonderurlaub bewilligt bekommen und dazu auch die Zusicherung, dass sie fortan in der Verwaltung eine angemessene Stellung bekommen würde.
Sie war am Morgen wieder in der Behnisch-Klinik und fragte, ob Manfred nochmals eine Bluttransfusion brauchte. Man bewunderte sie. Sie war eine Frau, die mit beiden Füßen fest im Leben stand und sich nicht so leicht umwerfen ließ.
Überraschend war für sie, was Dr. Neubert ihr dann sagte: »Sie haben doch gesagt, dass Sie Ihren Sohn gern bei sich haben würden, aber es ist niemand da, der ihn beaufsichtigen könnte, Frau Böhm.«
»Ja, das ist nun mal so«, erwiderte sie. »Die liebe Großmutter gibt es nicht.«
»Und wie wäre es mit einer Ersatzoma?«, fragte er.
»Dazu hab’ ich kein Vertrauen.«
»Und wenn es meine Mutter wäre? Sie würde gern eine Aufgabe haben. Wir haben auch genug Platz, und meine Mutter ist noch sehr fit. Wir haben gestern abend über Ihren Tommy gesprochen. Meine Mutter ist Bankkundin bei Ihnen und kennt Sie auch.«
»Liebe Güte, die nette Frau Neubert ist Ihre Mutter? So einen erwachsenen Sohn hat sie schon, der bereits graue Haare hat?«
Er lachte. »Das liegt bei uns in der Familie, und meine Eltern haben jung geheiratet. Leider ist mein Vater vor einem Jahr gestorben. Deshalb habe ich jetzt auch hier diese Stellung angenommen, um in Mutters Nähe zu sein. Überlegen Sie es sich mal, Frau Böhm. Sprechen Sie mit Ihrem Tommy darüber. Das Gymnasium ist in der Nähe, und um einiges billiger würde es für Sie auch werden.«
Sie sah ihn staunend an. »Und so was von Mann ist von einer Frau enttäuscht worden?«, sagte sie verwirrt.
»Manche Frauen erwarten mehr, als man zu bieten hat«, erwiderte er ruhig. »Und man zieht eben auch Vergleiche, wenn man eine gute Mutter hat.«
»Das nennt man denn die ausgleichende Gerechtigkeit«, sagte Gretl. »Mein Gott, wäre das schön, wenn ich den Buben jeden Tag sehen könnte.« Ihre Augen wurden feucht. »Dass Sie darauf gekommen sind, Sie kennen mich doch gar nicht.«
»Jetzt schon sehr gut«, erwiderte er. »Eine so mutige Frau, die nach einem solchen Schock auch noch Blut spendet, das gibt es nur einmal.«
Gretl stieg das Blut in die Wangen. »Jetzt loben Sie mich nur nicht empor, schließlich hätte ich die Schüsse abbekommen, wenn Herr Schreiber mich nicht zurückgedrängt hätte. Ich fahre jetzt zu Tommy. Vielen Dank auch, dass Sie das Internat angerufen haben.« Sie machte eine kleine Pause. »Ich werde mich ja wohl dann öfter bei Ihnen bedanken können.«
»Das sollen Sie aber nicht. Meine Mutter hat sich mächtig aufgeregt, dass Ihnen auch was passiert sein könnte. Und deshalb sind wir auf Ihren Tommy zu sprechen gekommen. Was meinen Sie, wie Muttchen sich freut, wenn sie wieder etwas zu bemuttern hätte, da ihr Sohn ja nun schon graue Haare hat.«
»So habe ich das aber nicht gemeint, Herr Doktor«, sagte Gretl. »Ich dachte ja nur, dass Frau Neubert noch so jung ausschaut. Und in Zusammenhang habe ich Sie auch nicht bringen können, weil wir drei Neuberts in der Filiale haben.«
»Ist aber keine Verwandtschaft, das nur als Hinweis«, sagte er schmunzelnd. Er fand Gretl herzerfrischend und schaute ihr gedankenverloren nach, als sie ging.
»Eine nette Frau«, sagte Schwester Martha. »Die hat Rückgrat.«
»Sie haben es gesagt, Schwester Martha.«
»Und flott ist sie auch«, sagte Martha.
Und dann lächelte sie breit, als er schnell davoneilte.
*
Gretl fuhr schon in ihrem kleinen klapprigen Wagen zum Internat.
Dann konnte sie ihren Jungen in den Armen halten, der auch so ein schmächtiges Bürscherl war wie Günter Gross.
»Mamichen, ich hatte solche Angst«, stammelte er.
»Brauchst du doch nicht, Tommy, ich bin ja da und gesund.«
»Aber der Manni, was ist denn mit ihm? Das haben sie mir nicht gesagt.«
»Er wird bestens versorgt. Reg dich nicht auf, Tommy. Wir haben viel zu besprechen. Du weißt ja nun, auf was für schiefe Bahnen Kinder geraten können, und das wollte ich vermeiden, deshalb hab’ ich dich in das Internat gegeben. Verstehst du mich jetzt?«
»Ist ja alles okay, Mami, aber ich würde lieber bei dir sein. Ich werd nicht so wie der Heiner Raabe, das versprech ich dir. Hier sind auch so welche, die dauernd motzen, denen nichts passt. Und wenn man nicht mitmacht, ist man ein Feigling oder ein Duckmäuser.«
Gretl erschrak. Daran hatte sie noch nicht gedacht, aber sie war froh, dass Tommy es offen sagte.
»Es gäbe einen anderen Weg, Tommy«, sagte sie. Und dann sprach sie von Dr. Neubert und seiner Mutter.
»Willst du ihn heiraten, Mami?«, fragte Tommy.
»Gott bewahre, ich kenne ihn doch kaum, aber ich fand es so nett, dass Frau Neubert Ersatzoma sein will. Ich kenne sie. Sie ist sehr lieb.«
»Ich wäre ja einverstanden. Aber du musst mir versprechen, dass ich keinen Ersatzvater bekomme.«
»Daran denke ich überhaupt nicht, Tommy. Ich bekomme eine besser bezahlte Stellung in der Verwaltung, und wir kommen allein zurecht. Aber schön wäre es schon, wenn wir öfter zusammen sein könnten.«
»Da wäre ich auch froh, Mami.«
»Dann spreche ich mit Frau Neubert. Und jetzt nehme ich dich gleich mit, und wir machen uns ein paar schöne Tage.«
»Darf ich denn weg?«
»Du darfst«, erwiderte sie. »Du hättest mir aber früher sagen können, dass es dir nicht gefällt, Tommy.«
»Ich wollte dich nicht kränken, Mami, weil du doch so viel zahlen musst.«
»Das müssen die anderen Eltern doch auch, Tommy.«
»Die sind reich, die wollen ihre Kinder nur abschieben. Die meisten wenigstens.«
Gretl kroch ein Frösteln über den Rücken. »Aber du weißt doch, dass ich dich nicht abschieben wollte, Tommy. Du solltest nur eine gute Schulbildung haben.«
»Klar weiß ich das. Aber die anderen haben keine so liebe Mami wie ich. Manche haben bloß Väter, und die haben mehr Geld als du. Und ich bin froh, dass ich nicht solchen Vater habe.«
»Und ich bin froh, dass ich einen Sohn wie dich habe, Tommy. Wir werden es schon schaffen, dass du bald zu mir kommen kannst. Dr. Neubert und Dr. Norden werden uns schon helfen. Jetzt fahren wir in die Berge.«
Weit fuhren sie nicht. Allzu viel konnte Gretl ihrem alten Wagen nicht mehr zumuten. Aber für Tommy war es das höchste Glück, zwei volle Tage mit seiner Mami verbringen zu können, und Gretl erfuhr so manches, was seine Seele bewegte und bedrückte.
Als sie am Montag dann Marianne Neubert aufsuchte, konnte sie mit ihr darüber sprechen.
»Ich habe ja gar nicht gewusst, dass Sie einen Sohn haben, Frau Böhm«, sagte Frau Neubert. »Man hat sich ja immer nur am Schalter gesehen, und als Ferdi mit mir darüber gesprochen hat, hab’ ich ganz spontan gesagt, wie gern ich ein Kind im Hause hätte. Es ist nicht so einfach, wenn man nur einen Sohn hat und der nicht die richtige Frau findet. So ähnlich wird es auch Frau Schreiber gehen. Da hängt man sein ganzes Herz an das einzige Kind und will es doch nicht einengen. Aber Ferdi ist an so eine Kollegin mit großen Ambitionen geraten. Lassen wir das, es ist lange her, aber er hat sich dann ganz in sich zurückgezogen, und als mein Mann starb, hat er gemeint, dass er nun nur noch für mich sorgen muss. Ich würde mich freuen, wenn Tommy bald herkommen würde. Vielleicht sieht Ferdi dann auch ein, dass ich auch noch ganz gut zurechtkomme, wenn er nicht jeden Abend, oder jede freie Stunde bei mir hockt. Ich wünsche ihm doch auch noch ein bisschen Glück.«
»Bestimmt alles Glück, Frau Neubert«, sagte Gretl. »Und das würde er auch verdienen. Und für mich hat er ja sozusagen das große Los gezogen, wenn Sie Tommy unter Ihre Fittiche nehmen.«
»Ich freue mich darauf, Frau Böhm«, sagte Marianne Neubert.
»Sagen Sie einfach Gretl, wenn ich darum bitten darf.«
»Gern, Gretl«, sagte Marianne Neubert.
*
Da Paula Schreiber tagsüber immer in der Behnisch-Klinik war, bekam sie es gar nicht mit, dass nebenan der Möbelwagen vorfuhr. Als sie am Montagabend nach Hause kam, fand sie einen Brief vor und ein recht gewichtiges kleines Päckchen.
Den Brief hatte Frau Raabe geschrieben, das Päckchen war an Manfred adressiert. Beides war im Zeitungskasten deponiert.
Liebe Frau Schreiber, wir konnten uns nicht persönlich von Ihnen verabschieden, so sehr drückt uns die Last, dass Heiner uns, aber vor allem auch Ihnen und Ihrem Sohn solches Leid zugefügt hat. Wir bitten Manfred, den wir ja auch schon als kleinen Jungen kannten, darum, dass er das Geschenk von uns annimmt. Wir haben niemanden, dem wir es lieber überlassen würden, was mein Mann so liebevoll gesammelt hat in der Hoffnung, dass sein Sohn auch einmal so werden würde wie Manfred. Wir bitten ihn um Vergebung für das, was ihm angetan wurde, und mein einziger Trost ist es, dass nicht Heiner auf ihn geschossen hatte. Wir werden Sie immer in dankbarer Erinnerung behalten und wünschen Ihnen von Herzen, dass Sie Nachbarn bekommen, von denen Glück und Freude auf Sie ausstrahlt. Ihre Raabes, die so gern Ihre Nachbarn waren.
Paula Schreiber weinte. Endlich kamen ihr wieder Tränen, und die brachten ihr ein wenig Erlösung von den peinigenden Gedanken.
Nun war das Haus drüben leer, eine hübsche alte Villa, wie die ihre.
Sie hätte diesen so tief getroffenen Eltern gern noch ein paar gute Wünsche für die Zukunft mitgegeben, aber sie ahnte doch, dass es für sie keine Freude mehr geben konnte. Sie dachte darüber nach, warum dieser aufgeweckte, fröhliche Junge so auf die schiefe Bahn geraten konnte. Aber es gab ja leider so viele junge Menschen, die sich verführen ließen, die plötzlich zur Gewalt neigten oder Drogen nahmen, oder gar die ganze Welt umkrempeln wollten, und auch solche, die sich dann mit Haut und Haaren den Sekten verschrieben und für ihre Familien auch verloren waren.
Würde in dieses Haus da drüben wirklich Glück und Freude einziehen können, dass vielleicht doch wieder ein Lachen herüberklingen würde?
Es vergingen nur drei Tage, dann werkelten dort die Handwerker, Maurer, Tapezierer, Elektriker. Davon bekam Paula Schreiber auch nicht viel mit, denn sie war auch jetzt tagsüber in der Klinik. Jetzt schöpfte sie doch schon mehr Hoffnung, denn ab und zu war Manfred bei Bewusstsein, wenngleich er nur mühsam manches Wort über die Lippen brachte, stockend, ja, sogar stotternd. Aber er wusste, dass seine Mutter bei ihm war, er erkannte auch Dr. Norden. Er wollte leben, und das half ihm und auch den Ärzten, und es half seiner Mutter, die Kraft zu finden, die schweren Wochen, die noch vor ihnen lagen, durchzustehen.
Günter Gross war bald wiederhergestellt, und in Anbetracht dessen, dass er soviel besser weggekommen war als Manfred, ging er wieder mutig an die Arbeit, obgleich seine Eltern alles versucht hatten, ihn umzustimmen.
Er hatte bei der Kriminalpolizei auch klarere Hinweise geben können als Gretl Böhm.
Er kannte Rudi Maurer nicht nur von der Autowerkstatt her, sondern auch vom Sportverein, in dem Günter Handball spielte, und aus dem Rudi ausgeschlossen worden war, weil er es mit der Ehrlichkeit nie sehr genau genommen hatte.
Günter hatte ihn auch mal zufällig ertappt, als Rudi Maurer einen anderen Jungen zusammengeschlagen hatte, und ihm dann drohte, dass es ihm genauso ergehen würde, wenn er davon etwas sagen würde.
Günter litt unter dem Schuldbewusstsein, dass er darum geschwiegen hatte, und auch darunter, dass Heiner Raabe mit Rudi gemeinsame Sache machte, denn auch er kannte Heiners Eltern als Bankkunden.
Rudi Maurer hatte schon ein paar Jugendstrafen auf dem Kerbholz, und nun, da er zweiundzwanzig war, würde er voll für seine Tat büßen müssen, für die es keine Milderungsgründe gab.
Es wurde lang und breit über diesen Fall in den Zeitungen berichtet. Paula Schreiber bekam von der Direktion der Bank die Zusicherung, dass alles, was finanziell helfen konnte, Manfred zuteilwerden sollte.
Gretl Böhm war bereits in die Buchhaltung versetzt worden mit der Zusicherung, zur Prokuristin aufrücken zu können, wenn sie sich weiterhin so bewährte.
Und Tommy konnte der Obhut von Marianne Neubert übergeben werden. Man konnte es als Zuneigung auf den ersten Blick bezeichnen, als sie sich kennenlernten. Mit großer Herzlichkeit sagte Marianne, wie sehr sie sich freue, für ihn sorgen zu können.
Im nahegelegenen Gymnasium war er auch schon angemeldet, und den Anschluss hatte er schnell gefunden. Jedenfalls war für ihn und seine Mutter aus dem Unglück unerwartetes Glück erwachsen.
Wenn Tommy mittags aus der Schule kam, bekam er jedes Mal ein Essen vorgesetzt, das ihm so schmeckte, dass er die »Oma Marianne« begeistert loben musste.
Dass er sie so nennen sollte, hatte sie gewünscht. Und es hatte schnell jene Vertraulichkeit geschaffen, wie sie es erhofft hatte.
Restlos begeistert war Tommy, dass sie so gut im Latein helfen konnte, wo er noch viel nachzuholen hatte, da im Internat diesbezüglich nicht solche Ansprüche gestellt wurden wie auf dem Gymnasium.
»Du bist so wahnsinnig gescheit, Oma Marianne«, sagte er bewundernd.
»Ich war mal Lehrerin«, erwiderte sie lächelnd. »Und was man so eingepaukt hat, das vergißt man nicht. Ferdi habe ich auch immer helfen müssen.«
»Dein Sohn ist doch Arzt, und da braucht man Latein«, sagte Tommy.
»So ist es, auch mit den Sprachen hat Ferdi es nicht gehabt«, erwiderte sie lächelnd. »Er hatte es im Gespür und in den Händen, welchen Beruf er ergreifen wollte.«
»Arzt würde ich auch gern werden, aber nicht Chirurg«, sagte Tommy. »Kinderarzt oder auch Tierarzt.«
»Du hast ja noch einige Jahre Zeit, dir das zu überlegen.«
Er nickte. »Man kann nur etwas leisten, wenn man etwas mit Freuden tut«, sagte Tommy. »Mami sagt das auch immer.«
Mit Ferdi Neubert war er noch nicht zusammengetroffen. Der hatte jetzt immer Tagesdienst, der sich oft bis weit in den Abend hineinzog, aber das war auch so organisiert worden, denn Tommy sollte erst ganz vertraut mit seiner Ersatzoma werden, und wenn Ferdi heimkam, hatte Gretl ihren Sohn bereits abgeholt.
Marianne Neubert war das ebenso recht wie Gretl Böhm. Sie verstanden sich, ohne viele Worte zu verlieren. Gretl bedrückte es nur, dass Marianne Neubert kein Geld annehmen wollte.
»So war das aber nicht geplant, Frau Neubert«, sagte sie.
»Der Junge macht mir so viel Freude, die nicht mit Geld zu bezahlen ist«, war Mariannes Erwiderung.
»Sie brauchen sich wirklich keine Gedanken zu machen, Gretl. Das bisschen Essen fällt doch nicht ins Gewicht. Ich bin nicht mehr allein, und Tommy ist ein so lieber Junge. Ich lebe richtig auf. Ferdi ist jetzt doch schon so ein richtiger Einzelgänger geworden. Freilich können wir miteinander reden, aber dann geht es doch meist um den Beruf. Er könnte längst eine eigene Praxis haben, das Geld ist doch da, aber da braucht er dann wieder eine Hilfe, und er ist so verdammt misstrauisch Frauen gegenüber.«
»Das Gefühl hatte ich eigentlich nicht«, erwiderte Gretl unbefangen.
»Weil Sie eine gestandene Frau sind, die allein für ihren Sohn sorgt, das hat er auch gleich zugegeben«, erwiderte Marianne Neubert mit einem verschmitzten Lächeln.
»Er muss sehr schlechte Erfahrungen gemacht haben«, sagte Gretl nachdenklich.
»Das kann man wohl sagen. Er war mit einer Ärztin verlobt, die hochfliegende Pläne hatte, aber kein Geld. Sie müssen das für sich behalten, Gretl!«
»Selbstverständlich, Frau Neubert!«
»Sie wollten eine Gemeinschaftspraxis gründen, aber dann kam Ferdi glücklicherweise noch dahinter, dass sie ein Verhältnis mit einem anderen Arzt hatte, nachdem sie mal beiläufig bemerkte, dass sie doch auch noch eine Röntgenabteilung einbeziehen könnten. Das wäre für Ferdi dann aber doch ein bisschen zu teuer geworden, da es keine konkrete Zusage gab, wie viel Geld jener Kollege einbringen würde. Ferdi fühlte sich schlicht zum Narren gehalten, aufs Kreuz gelegt, um es noch deutlicher zu sagen, und zum Glück hat er darüber auch mit mir gesprochen, da ich ja auch Geld investieren wollte. Wir sind mit dem blauen Auge davongekommen. Das ist nun fünf Jahre her, aber den Schock hat er noch nicht überwunden. Es ist nicht so, dass er ihr nachtrauert, aber so hintergangen worden zu sein, hat seinem Stolz doch arg zugesetzt.«
»Das verstehe ich sehr gut, ich bin auch mal hintergangen worden, aber mich hat es allerhand gekostet. Ich hatte mein Erbe in eine gemeinsame Existenz investiert und blieb mit nichts als einem Kind sitzen. Aber mich hat wenigstens Tommy für alles entschädigt, was ich sonst verloren hatte, aber ich bin ebenso misstrauisch geworden wie Ihr Sohn, Frau Neubert.«
»Ich sage Gretl, und ich heiße Marianne, und schön wär’s, wenn das Frau Neubert wegfallen würde. Der Junge ist mir schon so ans Herz gewachsen, dass ich direkt Angst habe, er käme eines Tages nicht mehr.«
Ganz spontan umarmte Gretl jetzt die Ältere. »Ich werde bis zum Ende arbeiten müssen, Marianne«, sagte sie leise, »aber wenn ich Tommy so gut aufgehoben weiß, fällt es mir leichter. Ich kann viel mehr leisten, und ich bin so unendlich dankbar.«
»Sagen wir es doch so, dass wir uns gegenseitig etwas schenken, Gretl. Und das soll nach einer alten Weisheit ja Glück bringen, wenn es nicht materielle Geschenke sind.«
*
Am Tag nach diesem Gespräch kam es zur ersten Begegnung zwischen Ferdi Neubert und Tommy. Ferdi hatte einen dienstfreien Tag und war demzufolge auch schon mittags anwesend, als Tommy von der Schule kam.
»Das ist aber fein, dass wir uns endlich auch kennenlernen, Tommy«, sagte er. »Ich hab’ heute frei.«
»Stör ich da auch nicht?«, fragte Tommy schüchtern.
»Aber das wirst du doch nicht denken«, sagte Ferdi.
»Ich dachte bloß, dass Sie auch gern mal mit Oma Marianne allein sein möchten, wenn Sie schon zu Hause sind.«
»Und ich dachte, dass wir mal gemeinsam einen Ausflug machen könnten, damit wir uns auch anfreunden, Tommy, oder hast du was dagegen?«
»Ich habe so viel Hausaufgaben auf«, seufzte Tommy, »ausgerechnet heute.«
»Für morgen?«
»Morgen ist Samstag, da haben wir nur zwei Stunden.«
»Na, dann könnten wir die Hausaufgaben doch ein bisschen aufschieben. Ich habe das auch so gemacht, wenn es nicht pressiert hat.«
»Mami sagt aber: Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen.«
»Und heute kommt Gretl früher«, warf Marianne ein.
»Ich mache einen anderen Vorschlag. Tommy macht seine Hausaufgaben, und wenn Gretl kommt, fahren wir alle zusammen noch ein Stück hinaus und essen dann im Jagdschlössl. Da ist heute großes Fischessen, und Fisch magst du doch auch sehr gern, Tommy.«
»Und Dr. Neubert?«, fragte Tommy verlegen.
»Das haben wir schon mal gemeinsam, Tommy. Ich mag Fisch auch sehr gern.«
»Mami auch«, sagte Tommy.
»Na, das ist doch fein, dann sind wir alle mal beisammen«, sagte Marianne heiter.
Gretl war zuerst auch überrascht, als sie kam, diesmal auch früher als sonst, denn es war Freitag, aber mit der ihr eigenen Gelassenheit zeigte sie sich auch sogleich erfreut.
»Dann kann ich mich endlich mal erkenntlich zeigen für alles, was Sie für Tommy tun, Marianne«, sagte sie zufrieden. »Sie sind heute meine Gäste.«
»So war es aber nicht gedacht«, sagte Ferdi. »Ich wollte euch alle einladen.«
»Wollen wir uns raufen?«, fragte Gretl mit leisem Lachen. »Ich habe heute meinen Bonus bekommen für den ausgestandenen Schrecken, und man war recht großzügig. Eine Einladung kann ich nicht annehmen. Ich bin tief in Ihrer Schuld.«
»Und so was will ich nicht hören, Gretl«, sagte Marianne. »Darüber waren wir uns doch schon einig.«
»Und gerauft wird nicht«, sagte Ferdi. »Das meinst du doch auch, Tommy. Wir Männer müssen zusammenhalten.«
»Mami kann auch mächtig stur sein«, sagte Tommy. »Meine Hausaufgaben habe ich aber gemacht.«
»Zur vollsten Zufriedenheit«, sagte Marianne lächelnd. »Das ist auch eine Belohnung wert. Aber mein Bub ist ja so fleißig«, fügte sie weich hinzu und strich Tommy durch das Haar.
»Aber dass ich in Latein so gut bin, habe ich nur Oma Marianne zu verdanken«, sagte Tommy.
»Und noch viel mehr«, sagte Gretl leise. »Aber wir haben auch Dr. Neubert zu danken, Tommy, das dürfen wir nicht vergessen.«
»Wie lange wollen wir darüber diskutieren?«, fragte Ferdi Neubert lächelnd. »Fahren wir doch lieber und genießen wir den schönen Abend.«
Kalt war es schon noch, aber die Luft war herrlich, und als sie dann eine Stunde durch den Wald gewandert waren, hatten sie auch den richtigen Appetit.
Ein Tisch im Jagdschlössl war für sie schon festlich gedeckt, dafür hatte Marianne schnell noch gesorgt, und im Kaminzimmer, in dem auch Dr. Norden mit seiner Familie so gern speiste, waren sie ganz ungestört.
Sie hatten sich alle für gebackene Renken entschieden, und Tommy fand es toll, dass sie sich die Salate selbst zusammenstellen konnten.
»Da kriegt man das, was man mag«, sagte er strahlend, »und richtig knackig. Und der Kartoffelsalat schmeckt fast so gut wie der von Oma Marianne. Mami hat das aber auch raus.«
Er war ganz unbefangen.
Ferdis Anwesenheit schien ihn nicht einzuschüchtern, aber wie sollte das auch möglich sein, da er so gelöst und heiter mit dem Jungen sprach.
Sie hätten ihn noch länger ausgedehnt, wenn Tommy anderntags nicht zur Schule gemusst hätte, aber dann schlug Ferdi vor, dass sie einen richtigen Ausflug doch am Sonntag nachholen könnten.
»Falls Sie nicht schon was Besseres vorhaben, Frau Böhm«, sagte er.
»Was Besseres bestimmt nicht«, erwiderte Gretl. »Bügeln müsste ich halt, aber morgen kann ich ja auch noch allerhand schaffen.« Sie warf Ferdi einen Seitenblick zu. »Sie haben tatsächlich mal einen Sonntag frei?«
»Unsere schwersten Fälle befinden sich auf dem Weg der Besserung, und der Chef hat es befohlen, dass ich Sonntag freinehme.«
»Es geht Manfred wirklich besser?«, fragte Gretl. »Kann man ihn besuchen?
»Diese Woche noch nicht, aber ich denke, dass es nun doch aufwärtsgeht.«
»In der Bank wird schon gemunkelt, dass er nicht mehr zurückkommt.«
»Daran ist noch nicht zu denken. Er leidet an Sprachstörungen, deren Ursache wir noch nicht erforscht haben. Möglicherweise sind sie durch den Schock bedingt.«
»Er hätte es bald zum Bankdirektor bringen können«, sagte Gretl nachdenklich.
»Aber seine Mutter würde vor Angst zugrunde gehen.«
»Sie hat auch schon genug mitgemacht«, meinte Gretl.
Auf der Heimfahrt dachte sie darüber nach, dass es zwischen Mutter und Sohn Neubert und Mutter und Sohn Schreiber gewisse Parallelen gäbe, aber Marianne Neubert konzentrierte sich nicht so voll auf ihren Sohn, sondern suchte sich auch andere Aufgaben.
»Ich finde den Ferdi mächtig nett, Mami«, sagte Tommy in ihre Gedanken hinein. »Du auch?«
»O ja.«
»Er hat auch so eine liebe Mutter wie ich. Du bist prima, Mami. Ich bin froh, dass ich jetzt immer bei dir sein kann.«
Und wie froh sie war, dass es das Schicksal nun so gut mit ihnen meinte. Verbittert war sie nie gewesen, aber schön war es doch, nun so etwas wie eine Familie zu haben.
Genauso dachte auch Marianne Neubert. »Gretl ist eine tüchtige Frau«, sagte sie.
»Und Tommy hat mir den Rang abgelaufen«, scherzte Ferdi.
»Ach was, du bist mein Sohn, und für mich ist er eben der Ersatz, dass ich keine Enkel habe. Diese Hoffnung habe ich ja aufgegeben.«
Er zwinkerte ihr zu. »Gib sie noch nicht auf, Mutschka. Mir gefällt Gretl sehr, aber behalt es für dich. Sie ist sehr eigen.«
»Du auch, aber einer müsste ja anfangen«, sagte Marianne resolut.
»Zuerst musste ich mich ja wohl mal mit Tommy anfreunden.« Er nahm sie in den Arm. »Aber mir gefällt es auch so, wie es jetzt ist.«
Da lächelte sie zufrieden. »Dann kannst du dich ja doch mal selbstständig machen, mein Junge. Mit Gretl zur Seite könnte nichts schiefgehen. Davon bin ich überzeugt.«
»Sie hat jetzt aber eine sehr gute Stellung«, sagte Ferdi nachdenklich.
»Aber sie ist eine Frau, und sie ist eine gute Mutter. Und die schwierigen Jahre kommen für Tommy erst, wo man schon einen Vater braucht.«
»Na, ich bin überzeugt, dass die Oma den doch ausstechen würde«, lächelte er.
*
Für Paula Schreiber begann der Samstagmorgen ein bisschen aufregend. Schon in aller Frühe wollte sie die notwendigen Einkäufe tätigen, da sie dann ja wieder den ganzen Tag in der Klinik verbringen würde.
Da stand vor dem Nachbarhaus schon ein großer Möbelwagen mit Anhänger, und aus der Aufschrift konnte sie erkennen, dass er aus dem hohen Norden kam.
Das Haus hatte auch einen neuen Anstrich bekommen, neue Fenster mit dunklen Rahmen und auch eine neue Haustür. Hübsch sah es aus, sehr hübsch. Und nun kam auch ein großer Personenwagen, braunmetallic schimmernd. Schnell ging Paula in ihre Garage. Sie wollte nicht neugierig erscheinen, aber sie fragte sich doch, wer dort nun wohl einziehen würde. Es kam ihr auch in den Sinn, dass die Raabes schon länger geplant hatten, ihr Haus zu verkaufen, da alles so schnell gegangen war.
Sie fuhr zum Markt und machte ihre Einkäufe. Viel brauchte sie ja nicht, solange sie allein war.
Als sie wieder heimkam, waren die Packer schon mit dem Ausladen fertig. Paula sah schöne Möbel, dann vernahm sie eine weiche Stimme, die sagte: »Es sind vier Stufen, Liebes, du wirst dich bald daran gewöhnen.«
»Es ist sehr gute Luft hier, Mami«, sagte eine zarte Stimme.
»Du wirst dich bestimmt wohl fühlen, Manuela.«
Unwillkürlich blieb Paula doch stehen und lauschte.
»Ist es ein großer Garten, Mami?«, fragte die zarte Stimme.
»Nicht zu groß, als dass du dich nicht zurechtfinden würdest, mein Liebling. Aber jetzt ist es noch Winter, es dauert noch ein wenig, bis alles blüht.«
Das Kind kann nicht sehen, dachte Paula, und sogleich war sie wieder voller Mitgefühl. Die Stimmen hatten ihr zudem verraten, dass es warmherzige Menschen waren, die dort einzogen, und das war beruhigend. Und es waren Menschen, die wohl auch ihr Sorgenpäckchen zu tragen hatten.
An diesem Tag nahm sie das Päckchen mit, das die Raabes für Manfred zurückgelassen hatten.
Als sie nun zu ihrem Wagen ging, stand eine schlanke Frau bei dem Möbelwagen, vielleicht vierzig Jahre alt, schlank und blond und sehr schön, wie Paula feststellen konnte, als sie sich jetzt umwandte. Und sie neigte den Kopf zum Gruß.
»Wir sind die Nachbarn«, sagte sie, »Verbrüggen.«
»Ich wünsche Ihnen einen guten Einzug«, erwiderte Paula und stellte sich auch vor, etwas verwirrt, aber angenehm berührt von dieser Ungezwungenheit.
»Darf ich bei dieser Gelegenheit gleich etwas fragen? Oh, bitte einen Augenblick.« Frau Verbrüggen wandte sich an die Packer. »Bitte, mit dieser Kiste besonders vorsichtig sein.«
»Okay, Madam«, kam die Antwort. Frau Verbrüggen wandte sich wieder Paula zu.
»Es ist nämlich ein Glockenspiel, es gehört meiner Tochter. Manuela ist fast blind, wenn ich das gleich sagen darf, Frau Schreiber. Nicht, dass Sie denken, sie wäre unhöflich, wenn sie nicht grüßt. Und dann wollte ich Sie auch noch fragen, ob es Sie stört, dass wir einen Hund mitbringen.«
»Aber nein, keineswegs.«
»Puck kann sehr aggressiv sein, wenn er Gefahr für Manuela wittert, aber Sie brauchen ihn bestimmt nicht zu fürchten«, sagte Anke Verbrüggen.
»Wir mögen Hunde. Zur Zeit bin ich noch allein im Haus, und da ist es sogar beruhigend, wenn ein Hund da ist. Mein Sohn muss noch einige Wochen in der Klinik bleiben.«
»Es tut mir sehr leid. Wir haben gehört, was Ihrem Sohn widerfahren ist. Der Makler war von Frau Raabe dazu beauftragt. Es ist sehr tragisch. Es würde uns freuen, wenn wir auch so ein gutes nachbarschaftliches Verhältnis zueinander bekommen.«
Daran zweifelte Paula Schreiber gar nicht mehr, und das sagte sie auch.
»Zwei Mütter, die ihre Sorgen haben«, sagte Anke Verbrüggen leise. »Wir werden uns noch näher kennenlernen, Frau Schreiber. Und wie gut, dass auch Puck willkommen ist. Wir hatten bisher Schwierigkeiten seinetwegen.«
Paula fasste einen spontanen Entschluss, als sie zur Klinik fuhr. Sie hielt bei dem Blumengeschäft und bestellte ein wunderhübsches Gesteck, das den neuen Nachbarn gebracht werden sollte.
Mit einem herzlichen Willkommensgruß von Paula Schreiber schrieb sie auf ein Kärtchen.
*
Nun saß sie wieder bei ihrem Sohn am Bett. So weh es ihr tat, wenn sich die Worte so mühsam über seine Lippen quälten, so glücklich war sie auch, wenn er sie nun schon erwartungsvoll anblickte, damit sie erzählte. Und an diesem Morgen konnte sie allerlei erzählen. Das Päckchen von den Raabes ruhte noch in ihrer Tasche.
»Die neuen Nachbarn ziehen ein. Verbrüggen heißen sie, und Frau Verbrüggen ist ganz reizend. Sie hat mich gleich angesprochen.«
»Zufrieden, Mutti?«, fragte er stockend.
»Ja, ich bin jetzt beruhigt. Sie haben eine blinde Tochter und einen Hund, der Puck heißt. Frau Verbrüggen hat gefragt, ob er uns stören würde.«
Ein Lächeln legte sich um seine blassen Lippen. Sie hatte schon lange keines mehr gesehen.
»Hunde sind zuverlässiger als Menschen«, sagte er stockend, aber doch deutlicher, als sie es bisher gehört hatte. »Dich ausgenommen, Mutti.«
»Es gibt viele gute Menschen, Manfred«, sagte sie. »Auch die Raabes sind gut. Ich bringe dir ein Geschenk von ihnen.«
»Sie können nichts dafür«, murmelte Manfred. »Sie haben keine Schuld.«
Paula nahm das Päckchen aus ihrer Tasche, und es schien ihr plötzlich bleischwer in den Händen zu liegen, aber als sie es enthüllte, kam eine Lederkassette zum Vorschein, und als sie den Deckel aufschlug, funkelte ihr blankes Gold entgegen, kostbare Münzen.
Sie war fassungslos, und Manfred schüttelte verneinend den Kopf.
»Zu wertvoll, viel zu sehr«, flüsterte er.
Sie brauchte ein paar Minuten der Besinnung, bis sie ihm die Zeilen vorlesen konnte, die beigefügt waren.
Lieber Manfred, wir haben uns lange gekannt und immer gewünscht, dass unser Sohn auch so wird wie Du. Es sollte nicht sein, und es ist uns ein Herzensanliegen, es Dir, unserem Nachbarkind, zu beweisen, wie sehr wir wünschen, dass Du wenigstens uns in guter Erinnerung behältst. Es soll nicht irgendjemand bekommen, was mit Liebe gesammelt und behütet wurde. Du wirst es schätzen. Wir haben nur noch den einen Wunsch, dass Du genesen wirst. Die Raabes von nebenan.
Manfred hatte die Augen geschlossen. »Sie tun mir leid«, murmelte er, »so leid. Warum hat Heiner ihnen das angetan?«
Das würden sie wohl nie erfahren, denn den Behauptungen Rudi Maurers, dass es Heiner gewesen war, der alles angezettelt hatte, wurde kein Glauben geschenkt.
Aber es mochte in Heiner doch ein Widerstand gewesen sein, die eigenen Eltern zu bestehlen, da er wohl gewusst haben musste, dass sich diese wertvolle Münzsammlung im Hause befand, deren Verkauf aber auch den Raabes ein sorgloseres Leben gestattet hätte.
Das ging Paula durch den Sinn, als Manfred wieder eingeschlafen war. Und sie überlegte auch, dass der Verkauf des Hauses eine ganz beträchtliche Summe gebracht haben musste, da es nicht belastet gewesen war.
Nur keine Schulden machen, lieber bescheiden leben, so hatten die Raabes immer gedacht.
Als Paula Schreiber an diesem Abend heimwärts fuhr, war es ihr ein bisschen bange, da sie nun wusste, dass sie ein Vermögen in der Tasche trug. Aber da stand der mächtige Schäferhund am Zaun. Sie vernahm ein leises Knurren, das aber schnell aufhörte.
Ohne eine Spur von Angst trat Paula auf den Hund zu. »Wir werden uns schon vertragen, Puck«, sagte sie.
»Ist das die Dame, die uns die schönen Blumen geschickt hat, Mami?«, ertönte die zarte Mädchenstimme.
»Ja, das ist Frau Schreiber, Manuela. Kommen Sie doch bitte auf einen Begrüßungsschluck. Sie haben uns eine große Freude bereitet. Es ist wirklich ein guter Neubeginn, Frau Schreiber.«
Anke Verbrüggen stand schon an der Gartenpforte und neben ihr ein zierliches Mädchen, bei dessen Anblick Paula der Atem stockte, hatte sie doch ein Kind erwartet. Aber es war ein bildschönes Mädchen. Die zarte Anmut dieses Gesichts wurde auch nicht durch die dunkle Brille gestört.
Leicht lockte sich das dunkelblonde Haar um das ebenmäßige Oval, und eine schmale, feingliedrige Hand streckte sich Paula entgegen, die sie behutsam ergriff.
Puck drückte sich jetzt an die Hüfte des Mädchens, setzte sich und streckte Paula seine Pfote hin.
»Sie sind von allen voll akzeptiert«, sagte Anke mit beschwingter Stimme.
»Wo ist Papi?«, fragte Manuela.
»Hier«, erwiderte eine tiefe Männerstimme. »Ich werde es mir doch nicht nehmen lassen, die Frau Nachbarin auch willkommen zu heißen in unserem noch nicht aufgeräumten Haus.«
Jens Verbrüggen war groß, breitschultrig, imponierend mit seinem markanten Kopf, der von dichtem eisgrauem Haar bedeckt war.
Er verneigte sich tief vor Paula und küsste ihr die Hand.
»Sie haben uns eine große Freude bereitet, gnädige Frau«, sagte er. »Wir haben das Gefühl, endlich ein richtiges Zuhause gefunden zu haben nach langen Irrwegen.«
»Sie ahnen nicht, wie froh ich jetzt bin«, sagte Paula leise. Sie streichelte ganz unbewusst Pucks mächtigen Kopf, und er brummelte behaglich. »Er ist doch so ein lieber Hund«, flüsterte sie.
»Bis ihn jemand auf die Palme bringt«, lächelte Jens Verbrüggen. »Aber Sie dürfen jetzt sicher sein, dass Sie mit beschützt werden.«
Noch nicht alles stand an seinem Platz, aber es strahlte doch schon Behaglichkeit aus, und hell war es.
Auf dem Tisch stand das Blumengesteck, und Anke Verbrüggen brachte wunderschöne Sektkelche.
»Ob ich das vertrage«, sagte Paula, »ich habe schon so lange keinen Sekt mehr getrunken.«
»Es ist ein Champagner, der fröhlich macht«, sagte Anke. »Und wir sind glücklich, dass wir uns für dieses Haus entschieden haben.«
»Weil wir nie liebe Nachbarn hatten«, sagte Manuela leise.
»Denk nicht mehr daran zurück, Liebling«, sagte Jens Verbrüggen zärtlich.
Anke begleitete Paula später bis zu ihrem Haus. »Ich möchte es Ihnen sagen, Frau Schreiber. Manuela hat sehr gelitten unter dummen Kindern, die Blindekuh johlten, wenn sie vor die Tür ging. Als wir dann umzogen, gab es Ärger mit den Nachbarn wegen Puck, den wir zu uns geholt hatten, nachdem unsere treue Blondi gestorben war, worunter Manuela auch sehr gelitten hatte. Wir suchten nach einem Haus am Ende einer Straße, wo wir nur einen Nachbarn hatten, und was für ein Glück für uns, dass wir dieses hier gefunden haben.«
»Für mich ist es auch ein Glück«, erwiderte Paula. »Wir wohnen schon so lange hier, und nachdem das mit meinem Sohn geschah, habe ich manchmal gedacht, ob es nicht besser wäre, wenn wir von hier fortgehen würden. Aber jetzt bleibe ich gern.«
»Wir haben nicht lange gebraucht, um zu wissen, dass es eine gute Nachbarschaft sein wird«, sagte Anke mit einem lieben Lächeln.
»Manuela ist so reizend«, sagte Paula leise. »Kann man ihr nicht helfen?«
»Bisher war alles vergeblich. Wir sprechen ein andermal darüber. Wird Ihr Sohn bald gesund sein?«
»Ob er ganz gesund wird, steht noch nicht fest, aber ich bin dankbar, dass er lebt.«
»So denken wir auch.«
»Ist das Augenleiden auch durch eine Verletzung gekommen?«, fragte Paula stockend.
Anke nickte. »Ich erzähle es Ihnen später einmal, Frau Schreiber, nicht heute. Später, wenn Sie Ihren Sohn wieder daheim haben. Lassen Sie sich nicht entmutigen, wenn es lange dauert. Letztlich zählt nur, dass man sein Kind nicht verloren hat.«
*
In der Nacht vom Samstag zum Sonntag machte Dr. Neubert Nachtdienst. Dr. Dieter Behnisch und seine Frau Jenny konnten ein paar gemütliche Stunden bei ihren Freunden Daniel und Fee Norden verbringen. Sie wussten, dass sie sich auf Ferdi Neubert verlassen konnten, und er wusste, wo sie zu erreichen waren, wenn ein Notfall eintrat. Aber es wurde eine ruhige Nacht.
Nur Manfred Schreiber erwachte nach Mitternacht und war ziemlich unruhig. Schwester Martha hatte Dr. Neubert sogleich gerufen.
Manfred hatte geträumt, und nun machte er sich Gedanken um seine Mutter.
»Es sind neue Nachbarn eingezogen«, sagte er stockend, aber daran war man ja jetzt schon gewöhnt, auch dass er manchmal ein paar Silben wiederholte. »Hoffentlich täuscht sich Mutti nicht.«
»Was meinen Sie, Herr Schreiber?«, fragte Dr. Neubert nachdenklich.
»Das Haus – kann von daher etwas Gutes kommen? Ich möchte es auch nicht annehmen«, murmelte Manfred.
»Was meinen Sie?«, fragte Dr. Neubert.
»Die Sammlung ist ein Vermögen wert. Goldmünzen. Warum hat Heiner die nicht genommen?«
Es waren Gedanken, die ihn bewegten, die auch mit seinem Traum in Zusammenhang standen, aber Dr. Neubert konnte daraus keine Schlüsse ziehen. Er wusste ja nicht, worum Manfreds Gedanken kreisten.
»Gretl könnte sich erkundigen«, sagte Manfred. »Sie ist ehrlich und kann schweigen. Sie soll mich besuchen.«
»Ich werde es Frau Böhm sagen«, erwiderte Dr. Neubert, aber für sich sah er da schon Probleme aufkommen. Ob sich Manfred und Gretl doch näherstanden, als sie zugeben wollte?
»Ich will sie nicht behalten«, flüsterte Manfred, dann schlummerte er wieder ein.
Darauf war es wieder ganz ruhig in der Klinik, und Manfred konnte sogar drei Stunden schlafen. Es war schon eigenartig, aber wenn der Sonntag nahte, schien die Vorfreude auf lange Besuche bei den Patienten schon beruhigend zu wirken.
Fee und Daniel Norden hatten inzwischen von Jenny Behnisch erfahren, dass Frau Schreiber neue Nachbarn bekommen hatte.
»Sie wirkte richtig aufgelebt«, erzählte Jenny. »Es müssen sehr nette Leute sein. Es muss für sie auch eine zusätzliche Belastung gewesen sein, wer da wohl einziehen würde. Und ihr werdet staunen, wer das ist.«
»Sollten wir die Leute kennen?«, fragte Fee.
»Den Namen bestimmt. Verbrüggen.«
»Professor Verbrüggen, der neue Chef von der Bio-Pharma?«, fragte Daniel. »Das ist allerdings eine Überraschung.«
»Aber er könnte sich doch ein Superhaus im Prominentenviertel leisten«, warf Fee ein.
»Darauf scheint er keinen Wert zu legen«, sagte Jenny, »und Frau Schreiber scheint auch keine Ahnung zu haben, welch prominenten Nachbarn sie bekommen hat.«
»Es kann ja auch sein, dass er den ›Professor‹ für eine lukrativere Stellung in der Industrie an den Nagel gehängt hat«, warf Dieter Behnisch ein.
»Frau Schreiber hat mir erzählt, dass er eine blinde Tochter hat und dass sie Schwierigkeiten wegen des Hundes hatten, der zur Bewachung da ist«, sagte Jenny. »Das kann ja auch ein Grund sein, dass sie nicht in einem so stinkfeinen Viertel wohnen wollen, wo man dauernd im Blitzlicht steht.«
»Wenn Jenny es sagt, wird es schon stimmen«, sagte Dieter gemächlich. »Dein Geflügelsalat ist wieder mal verführerisch, Fee.«
»Sag es Lenni«, meinte Fee lachend. »Aber sag lieber, ob Manfred Schreiber wieder ganz gesund wird.«
»Narben werden schon bleiben, und mit der Sprache hapert es, aber wir kommen nicht dahinter, woran es liegt. Jedenfalls ist soweit alles klar, dass er vorerst als Anlageberater zu Hause arbeiten kann.«
»Wird er finanziell abgesichert?«, fragte Daniel.
»Doch, diesbezüglich zeigt sich die Bank sehr großzügig, aber das gehört sich ja wohl auch so. Schließlich hat er sein Leben eingesetzt, damit kein Geld verlorenging«, sagte Dieter.
»Da kommt mir etwas anderes in den Sinn«, warf jetzt Fee ein, »was damit eigentlich gar nichts zu tun hat und einem doch zu denken gibt. Ich habe es heute wieder in der Zeitung gelesen. Wenn uns ein Reh in den Wagen springt, und es bleibt auf der Strecke, wird der Schaden von der Versicherung ersetzt, wenn wir dem Reh aber ausweichen und es kommt davon, muss der Schaden vom Autobesitzer selbst getragen werden. Und ein bisschen muss ich da doch Vergleiche ziehen, wenn mich auch das Frösteln überkommt. Wäre Manfred nicht am Leben geblieben, würde seine Mutter eine Million bekommen, das habe ich erfahren. Aber was hätte es ihr genützt? Und wenn er nicht mehr den Ansprüchen genügt, muss er eben mit einer Rente zurechtkommen. Das ist doch eine Diskrepanz, die ein normaler Mensch kaum verstehen kann.«
»Aber wir können es nicht ändern, Fee«, sagte Daniel, »so sind nun mal die Versicherungen. Wir wollen sehr froh sein, dass Manfred am Leben geblieben ist, denn seine Mutter hätte mit einer Million auch nicht mehr anzufangen gewusst. Gottergeben hätte sie es nicht hingenommen, denn sie hat wahrhaftig schon allen Grund, an der himmlischen Gerechtigkeit zu zweifeln.«
»Man sagt doch: Hilf dir selbst, so hilft dir Gott«, meinte Dieter trocken. »Aber wenn einem dann tatsächlich geholfen worden ist, kann man es auch nicht so genau sagen, wessen Verdienst es eigentlich ist.«
»Und wenn Menschen an Gutes glauben, an eine heile Welt, in die sie sich flüchten, weil so vieles um sie herum so negativ ist, werden sie verhöhnt«, sagte Jenny. »Das ist ja alles so trivial. Darüber kann man bis ins Gehtnichtmehr diskutieren. Hochgelobt wird doch meist nur, was die wenigsten verstehen.«
»Da fällt mir gerade wieder etwas ein«, sagte Dieter. »Kommt doch gestern so ein netter junger Bursche zu mir, der von seinem Betriebsarzt geschickt wurde. Es sei der Appendix, hat der zu ihm gesagt. Und dieser verstörte, von Schmerzen geplagte junge Mann fragte mich, ob das was mit Appetit zu tun hätte, den er seit Tagen sowieso nicht hätte. Ich sagte ihm, dass es sich um seinen Blinddarm handele, und da sah er mich noch verstörter an und fragte, warum ihm das nicht gleich gesagt worden wär. Eine halbe Stunde später war er den Blinddarm gerade noch rechtzeitig los.«
»Ein Witz war das aber nicht, Dieter«, sagte Daniel.
»Nein, es ist verdammt traurig, wenn man nicht so mit den Leuten redet, dass sie es auch begreifen. Aber ich futtere jetzt lieber noch diesen köstlichen Geflügelsalat auf.«
»Aber wehe, wenn du vor Magendrücken nicht schlafen kannst«, meinte Jenny anzüglich.
»Und wie viel Nußhörnchen hast du verspeist?«, konterte er. »Das sind erst Kalorien!«
»Die renne ich mir morgen wieder ab«, erwiderte Jenny.
»Heute, mein Schatz. Mitternacht ist vorbei. Vollgestopft werden wir uns verabschieden, aber es war schön wie immer.«
»Und dürfte öfter so sein«, sagte Fee. Aber leider hatten sie eben selten Zeit, solchen ungestörten Abend gemeinsam zu verbringen.
*
Kurz nach sieben Uhr war Ferdi heimgekommen und hatte bis zehn Uhr geschlafen, aber dann war er hellwach, duschte, kleidete sich an, trank drei Tassen von dem guten Kaffee, den Marianne frisch aufgebrüht hatte und aß einen Toast.
»Nicht mehr?«, fragte sie.
»Nein, ich hebe mir den Appetit auf, damit Gretl und Tommy auch ordentlich essen«, erwiderte er.
Es freute Marianne, wie sehr er sich auf diesen gemeinsamen Ausflug freute. Und punkt elf Uhr holten sie Gretl und Tommy ab.
»Ich setz mich zu Tommy, ich sitze lieber hinten, da brauch ich mich nicht anzuschnallen«, sagte Marianne.
»Hast es gehört, Mami, erst Gurt anlegen.«
»In jedem Wagen ist das anders«, sagte sie. »Da soll man zurechtkommen.«
»Ich mache das schon«, sagte Ferdi, und da berührten sich ihre Finger.
Gretl errötete. »Ich bin nicht fürs Technische«, sagte sie leise.
»Man muss ja auch nicht in allem perfekt sein«, sagte Ferdi schmunzelnd.
»Aber Stecker kann Mami schon reparieren«, sagte Tommy.
»Um Gottes willen, das wird sie aber in Zukunft hübsch bleiben lassen!«, rief Ferdi aus. »Das soll man lieber Fachleuten überlassen.«
»Siehst du, Mami, Ferdi sagt das auch. Ich habe ja gleich gesagt, dass du was falsch gemacht hast, als es dann den Kurzen gab.«
»Alles brauchst du auch nicht gleich zu verraten, Tommy«, sagte Gretl verlegen.
»Ich wollte ja nur wissen, was Ferdi dazu sagt.«
Marianne lachte in sich hinein. Für sie verlief alles wunschgemäß.
»Ferdi hat zwei linke Hände, wenn es nicht gerade um seinen Beruf geht«, sagte sie. »Er kann nicht mal einen Nagel gerade einschlagen.«
»Das kann Mami aber prima«, erklärte Tommy sofort. »Streichen und tapezieren kann sie auch, Möbel tut sie auch allein beziehen.«
»Aber wie«, murmelte sie. »Tommy übertreibt.«
»Ist nicht wahr. Du hast doch gesagt, dass man da einen Haufen Geld spart, und Ferdi kann es sich ja anschauen, wie gut du das machst.«
»Das werde ich auch tun«, sagte Ferdi.
»Ich weiß nicht, was in den Jungen gefahren ist, sonst redet er doch nicht so geschäftig«, sagte Gretl.
»Er mag mich, und das freut mich«, erwiderte Ferdi. Und Marianne freute sich noch mehr und warf Tommy einen ermutigenden Blick zu. Den deutete er aber nicht ganz richtig.
»Oma Marianne kann das bestimmt auch«, sagte er leise.
»Weit gefehlt, Tommy«, lächelte sie. »Das kann ich nicht.«
»Dafür kannst du aber Latein«, sagte er.
»Die Rollen sind gut verteilt«, bemerkte Ferdi mit einem hintergründigen Lächeln. »Im Rechnen werden sie uns weit schlagen, Gretl.«
»Das kannst du glauben«, sagte Tommy eifrig. »Schneller als ein Taschenrechner ist Mami.«
»Jetzt langt es aber, Tommy«, sagte Gretl mahnend.
»Ich sage doch nur, was stimmt.«
»Und das darf man auch«, warf Marianne ein. Sie bestimmte dann, wo Ferdi halten sollte. Und als sie ausstiegen, wehte milde Luft.
»Das riecht schon nach Frühling«, sagte sie.
»Sehr nach Föhn«, meinte Gretl.
»Sind Sie empfindlich?«, fragte Ferdi.
»I wo, ich bin robust. An mir haben die Ärzte noch nicht viel verdient.«
»Das freut den Arzt«, sagte Ferdi. »Aber Dr. Norden kennt Sie sehr gut.«
»Weil ich eben nicht so perfekt bin, wie Tommy sagt. Ich schneide mich in den Finger, anstatt das Brot, kippe mir kochendes Wasser über, stolpere die Kellertreppe hinunter, und so weiter, aber richtig krank war ich nie.«
Sie war von so umwerfender Offenheit und Natürlichkeit, und ihr Lachen war so warm, dass schon da ein Funke übersprang. Er hielt ihren Blick fest, und dann schob er seine Hand unter ihren Arm. Sie merkten gar nicht, dass Marianne und Tommy immer weiter zurückblieben.
Marianne hatte gesagt, dass sie nicht so schnell gehen könne, und Tommy war natürlich bei ihr geblieben.
»Ist ja auch gut, wenn Mami und Ferdi sich mal allein unterhalten«, meinte er verschmitzt. »Das möchtest du doch auch, Oma Marianne.«
»Du Schlauberger«, lachte sie, »ist es nicht schön, dass wir uns so gut verstehen?«
»Ganz prima ist das«, nickte er. »Mami hat nämlich mit Männern sonst gar nichts im Sinn, und ich habe auch immer gesagt, dass wir allein besser auskommen. Aber wenn einer so wie Ferdi ist, habe ich gar nichts dagegen, dass er unser Freund ist, und außerdem habe ich dich ja so lieb.«
Sie legte ihren Arm um seine Schultern. »Ich euch auch, Tommy.«
Es war ein wundervoller Tag, erfüllt von ahnungsvoller Hoffnung, als dann auch Ferdi und Gretl einen guten Schluck auf das Du tranken. Verlegen war sie wie ein junges Mädchen, als er erst ihre Hand küsste, dann auch ihre frischen Lippen, und Tommy hielt den Atem an, als Oma Marianne seine Mami in die Arme nahm und sagte: »Bist ein richtiger Schatz, Gretl.«
*
Auch den Behnischs konnte es nicht lange verborgen bleiben, dass sich da etwas angebahnt hatte, denn Gretl besuchte Manfred nun öfter. Und da konnte man schon sehen, welch tiefe, vielsagende Blicke zwischen ihr und Ferdi getauscht wurden.
»Niemand weiß, wie es geschah, plötzlich ist die Liebe da«, meinte Dr. Behnisch schmunzelnd.
»Wurde auch Zeit, dass er die Richtige gefunden hat«, stellte Jenny fest. »Da braucht er wirklich nicht lange zu überlegen.«
Das tat Ferdi auch nicht. Schon den nächsten freien Abend verbrachte er mit Gretl allein. Tommy hatte nichts dagegen, bei der Oma zu schlafen.
»Wenn sie in ein Konzert gehen, können sie doch gar nicht miteinander reden«, gab er zu bedenken.
»Das wird sich dann schon noch ergeben, Tommy«, meinte Marianne lächelnd. »So ein Konzert kann einen erst in die richtige Stimmung versetzen.«
So war es auch, aber dennoch zogen sie es vor, in der Pause zu gehen, weil ihnen beiden nach dem Beethoven-Konzert nicht mehr der Sinn nach einer modernen Sinfonie stand.
»Trinken wir lieber noch ein Gläschen Wein, Gretl«, sagte Ferdi.
»Du musst Auto fahren«, sagte sie warnend.
»Ich habe doch nicht die Absicht, mir einen Rausch anzutrinken«, meinte er lachend. »Ich bin doch sowieso berauscht.«
»Es war ja auch sehr schön«, sagte sie. »Ich war noch nie in so einem Konzert. Dafür hatte ich nicht das Geld. Ich habe es mir nur im Radio angehört.«
»Ich bin nicht von der Musik berauscht, sondern von deiner Nähe«, raunte er ihr ins Ohr. »Wirst du mich heiraten, Gretl?«
Große Worte lagen ihm nicht, und solche brauchte er auch nicht, da er sie so fest im Arm hielt. Seine Augen sagten mehr als viele Worte.
»Ja«, erwiderte Gretl ebenso direkt und schlicht. »Mit dir kann ich mir ein gemeinsames Leben vorstellen, und du weißt ja, welche lebendige Mitgift ich mitbringe. Sonst ist es nicht viel, Ferdi.«
»Du hast einen unbezahlbaren Wert, Gretl. Mit dir zur Seite riskiere ich es sogar, eine eigene Praxis zu gründen.«
»Davon habe ich aber wenig Ahnung. Da muss ich erst mal einen Kursus machen. Meinst du nicht, dass ich dazu nicht doch ein bisschen zu alt bin?«
»Du und alt, das will ich überhört haben.«
»Ich könnte es mir schön vorstellen«, sagte sie gedankenvoll, »für einen Menschen dazusein, den man liebt, nicht nur mit Zahlen umzugehen.«
»Und ich bekomme einen Sohn«, sagte er weich. »Weißt du was, wir fahren jetzt heim, da macht es nichts aus, wenn wir zur Feier des Tages einen Schluck mehr trinken, und was meinst du, wie Mutti sich freuen wird.«
»Dass ich mal so viel Glück haben würde, hätte ich mir nicht träumen lassen«, sagte Gretl gedankenverloren. »Und dazu musste die Bank überfallen werden. Aber Manfred hätte es wirklich nicht so erwischen müssen.«
»Warst du sehr mit ihm befreundet?«, erkundigte sich Ferdi nun mit leiser Eifersucht.
»Er hatte auch schon so viel Unglück erfahren, das verbindet irgendwie. Aber sonst stand mir der Sinn wirklich nicht mehr nach einem Mann, bis eben du alle meine Grundsätze über den Haufen warfst.«
»Und du alle meine Vorurteile gegen Frauen vergessen ließest. Es ist ungerecht, dass man erst Umwege machen muss. Ich wäre gern Tommys richtiger Vater.«
»Das wäre mir auch lieber«, sagte sie. »Aber eigentlich fühle ich mich auch jetzt gar nicht zu alt, noch ein Kind zu bekommen.«
Ja, so war sie, und er konnte nichts anderes tun, als sie in die Arme zu nehmen und innig zu küssen.
»Hoffentlich ist Tommy damit einverstanden«, murmelte er.
»So weit geht es doch nicht, dass wir seine Erlaubnis einholen müssen, und außerdem liebt er ja seine Oma.« Sie machte eine kleine Pause. »Und vielleicht hat er später mal das Glück, gleich die richtige Partnerin zu finden.«
*
Tommy schlief bereits, als sie heimkamen, aber Marianne saß noch vor dem Fernsehapparat, den sie aber schnell ausschaltete, als die beiden kamen.
»War sowieso wieder mal so ein Käse«, sagte sie. »Ihr seid aber früh zurück.«
»Wir wollten lieber zu Hause noch einer Flasche Sekt den Hals brechen, Mutschka«, sagte Ferdi. »Wir haben beschlossen, aufs Standesamt zu gehen.«
»Na, da bin ich aber froh. Ich hatte schon Angst, ihr hättet euch zu platonischer Freundschaft entschlossen, da ihr so früh heimgekommen seid.« Sie nahm Gretl in die Arme. »Mein Liebes, das ist eine Freude, mit der ich auf meine alten Tage nicht gerechnet habe.«
»Das Wort alt wird gestrichen«, sagte Ferdi. »Ich fühle mich wie zwanzig, da hatte ich nämlich noch Träume, die jetzt in Erfüllung gehen, und was dazwischen war, ist vergessen.«
»Es ist auch bedeutend erfreulicher, an die Zukunft zu denken«, sagte Marianne sinnend. »Ein Gläschen trinke ich noch mit euch darauf, aber dann verziehe ich mich. Wir sehen uns beim Frühstück. Gretl bleibt natürlich hier.«
»Ich kann doch nicht so ins Büro gehen«, sagte Gretl.
»Ich habe erst mittags Dienst«, erklärte Ferdi, »ich bringe dich morgen früh nach Hause, dann kannst du dich umziehen. Aber du könntest doch mal einen Tag fehlen?«
»Kommt nicht infrage«, widersprach sie. »Ich bin gespannt, was Tommy sagt.«
Der schien sich gar nicht zu wundern. »War es schön im Konzert, Mami?«, fragte er.
»Sehr schön. Es ist dann ziemlich spät geworden, und deshalb bin ich hiergeblieben.«
»Omi hat schon gesagt, dass du hier schlafen wirst«, erklärte Tommy.
»Nun ja, ich dachte, dass es besser so sei«, sagte Marianne leicht verlegen. »Diese Herumfahrerei in der Nacht bringt doch nichts. Das Haus ist ja auch groß genug. Ich wollte ohnehin vorschlagen, dass ihr gleich zu uns zieht, wenn ihr doch in ein paar Wochen heiratet.«
»Das finde ich wirklich toll«, sagte Tommy. »Schade, dass ich schon zur Schule muss.« Und während Ferdi und Gretl noch sprachlos waren über diese Reaktion, ging er zu Ferdi und klopfte ihm auf die Schulter. »So einen Vater habe ich mir immer gewünscht. Aber das Beste ist, dass ich solche Omi bekommen habe.«
Gretl bekam einen Kuss auf die Wange gedrückt, Marianne ging mit ihm hinaus, und als sie zurückkam, sagte Ferdi: »Da hat die Omi aber gute Vorarbeit geleistet.«
»Ein Kind muss schließlich vorbereitet werden«, erwiderte Marianne. »Ich konnte ja nicht ahnen, dass du auch mal die Initiative ergreifst, Ferdi.«
»Da siehst du, was meine Mutter von mir hält, Gretl«, sagte Ferdi lachend.
»Nur das Beste«, erwiderte Gretl, »und wenn jeder solche tolle Mutter hätte …«
»Nichts da«, fiel ihr Marianne ins Wort, »stell mich nicht auf einen Podest, die beste Mutter könnte nicht verhindern, was schicksalhaft bestimmt ist.«
»Und wenn wir darüber noch lange reden, komme ich zu spät ins Büro«, sagte Gretl. »Aber ich muss dir danken, der besten aller Mütter, die ich kenne, für all die Liebe, die du Tommy entgegenbringst.«
»Aber jetzt sag bitte nicht, dass du mich nur deswegen heiratest«, rief Ferdi aus.
»Das ist ja nun wirklich was ganz anderes«, sagte Gretl.
*
Sie kam an diesem Morgen doch mit Verspätung ins Büro, und obgleich ihr das durchaus nicht übel vermerkt wurde, flüchtete sie sich nicht in Ausreden.
»Ich muss kündigen«, sagte sie.
»Doch nicht wegen des erstmaligen Zuspätkommens«, sagte ihr Abteilungsleiter verblüfft.
»Aus privaten Gründen. Ich werde heiraten. Ich habe meinem zukünftigen Mann versprochen, das gleich heute zu klären.«
Das hatte man von Gretl Böhm zu allerletzt erwartet, aber man kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie mit allem guten Zureden nicht umzustimmen war, wenn sie einen Entschluss gefasst hatte.
Aber dann fragte man doch vorsichtig, ob es Manfred Schreiber sei, dem sie ihr Jawort gegeben hatte.
Geheimniskrämerei schien ihr nicht angebracht, und man war sprachlos, als sie erklärte, dass sie Dr. Neubert heiraten würde.
Ein bisschen überrascht war auch Manfred, als er von dieser frohen Kunde hörte. Gretl und Ferdi sagten es ihm gemeinsam.
»Das ging aber schnell«, sagte er, und weil es ihn bewegte, stotterte er noch mehr als sonst.
»Und jetzt musst du schnell gesund werden, Manfred, weil wir erst heiraten, wenn du Trauzeuge sein kannst.«
Besorgt fragte Gretl später, ob es bei den Sprachstörungen bleiben würde.
»Schwer zu sagen«, erwiderte Ferdi. »Sie ist psychisch bedingt. Wahrscheinlich wollte er gerade etwas sagen, als ihn dann die Schüsse trafen. Nur so können wir es erklären.«
»Und die Narben im Gesicht werden wohl auch bleiben«, meinte Gretl.
»Sie werden verblassen.«
»Aber die Erinnerungen immer wieder wachrufen. Und das für nichts und wieder nichts.«
»Er hat sich schützend vor dich gestellt, das werde ich ihm immer danken, Gretl«, sagte Ferdi.
»So schlimm hätte es ihn aber nicht treffen müssen, und vielleicht denkt Frau Schreiber auch so und findet es taktlos, dass er Trauzeuge bei uns sein soll.«
Aber so dachte Frau Schreiber nicht, dazu freute sie sich zu sehr, dass Gretl ihr Glück gefunden hatte und Tommy einen guten Vater bekam, und sie konnte sich nun auch darüber freuen, wie gute Fortschritte Manfreds Genesung machte.
So einsam brauchte sie sich in ihrem Haus zwar nicht zu fühlen, da der nachbarschaftliche Kontakt zu den Verbrüggens sich noch vertieft hatte.
Gegenseitige Anteilnahme am Kummer der andern hatte schnell die Brücke zueinander geschlagen. Manuelas zartes Gesichtchen verklärte sich, wenn sie Paula Schreibers Stimme vernahm, da musste Puck erst gar nicht freudig winseln.
Nun war Paula auch nicht mehr den ganzen Tag in der Klinik, da Manfred aufsitzen und lesen konnte, und einen Fernsehapparat hatte man ihm auch ins Zimmer gestellt. Paula unternahm mit Manuela kleine Wanderungen, und natürlich wurden sie von Puck begleitet, manchmal auch von Anke, die aber im Haus noch sehr beschäftigt war, da sie alles allein machte und auch keine Hausangestellte nehmen wollte, weil Manuela doch sehr empfindlich auf Fremde reagierte. Um so beruhigender war es für ihre Eltern, dass sie zu Paula eine so herzliche Zuneigung gefasst hatte, und für Paula wiederum war es schön, wenn sie abends manche Stunde mit diesen vielgereisten und vielseitig interessierten Menschen verbringen konnte.
Sie hatte auch erfahren, durch welchen Unfall Manuela ihr Sehvermögen verloren hatte.
Im Alter von vierzehn Jahren war sie im Schwimmbad so unglücklich ausgerutscht, dass sie mit dem Hinterkopf auf den Beckenrand gefallen war. Anke hatte es Paula erzählt. Drei Wochen hatte Manuela im Koma gelegen.
»Sie können sich nicht vorstellen, wie glücklich wir waren, als sie wieder zum Bewusstsein kam«, erzählte Anke. »Dass sie sagte, sie könne uns nicht sehen, machte uns da auch noch nicht so viel aus, aber die Ärzte hatten auch nicht damit gerechnet, dass sich nun dies noch herausstellen würde. Wir haben später einige Kapazitäten konsultiert, und es wurde uns auch gesagt, dass eine Operation möglicherweise eine Besserung bringen könnte, aber sie wäre so außerordentlich schwierig, dass möglicherweise auch andere Folgen auftreten könnten. So schmerzlich es auch für uns ist, dass Manuela nur noch hell und dunkel unterscheiden kann, dass sie lebt, dass sie denken, hören und sprechen kann, ist für uns doch wichtiger.«
Wie gut konnte Paula das verstehen, aber traurig stimmte sie es doch, dass dieses bezaubernde Geschöpf sich nicht mehr an der Schönheit der nun langsam erwachenden Natur erfreuen konnte.
*
Manfred erfuhr viel von dem Mädchen von nebenan, von den Nachbarn, und seine Bedenken schwanden, dass seine Mutter da doch eine Enttäuschung erleben könnte, denn wie oft schon war es so gewesen, dass anfängliches Entgegenkommen rigoros ausgenutzt wurde.
»Du wirst sie auch mögen, Manfred«, sagte Paula, als nun der Tag nahte, da er die Klinik verlassen konnte.
»Sei mir nicht böse, Mutti, aber ich möchte vorerst lieber allein sein«, sagte er.
»Ich muss mich erst zurechtfinden, und außerdem habe ich ja auch meine Schwierigkeiten, die unüberhörbar sind.«
Darunter litt er, denn gerade seine Sicherheit im Ausdruck hatte ihm doch auch den schnellen beruflichen Erfolg eingebracht. Jetzt verstummte er plötzlich mitten in Gedankengängen, musste nach Worten suchen, brachte sie dann immer noch nur stockend über die Lippen, und es wurde ihm schon bewusst, dass er oft eigentlich etwas anderes hatte sagen wollen.
Aber er konnte sich bewegen, konnte wieder klar sehen, was um ihn vor sich ging, und es gelang ihm auch zu verbergen, wie viel Misstrauen sich in ihm angesammelt hatte.
Dr. Neubert brachte ihn nach Hause. Dieter und Jenny Behnisch begleiteten sie zum Wagen.
»Es sieht alles anders aus«, sagte Manfred leise.
»Es wird Frühling«, sagte Jenny. »Ostern steht vor der Tür. Das Fest der Auferstehung. Viele mussten schuldlos leiden, solange es Menschen gibt.«
Manfred presste die Lippen aufeinander. »Ich danke Ihnen, dass ich lebe«, sagte er dann, jede Silbe betonend.
»Sein Glaube an Gott ist erschüttert«, sagte Jenny zu ihrem Mann.
Er nahm ihre Hand. »Und dein Glaube ist unerschütterlich, mein Liebes.«
»Ich habe ihn wiedergefunden, Dieter, durch dich, durch treue Freunde, durch all das, was dennoch gut ist in dieser Welt. Manfred wird auch wieder glauben lernen an das Gute.«
*
Glücklich konnte Paula Schreiber ihren Sohn in die Arme schließen. Alle Vasen waren gefüllt mit Blumen, und eine wunderschöne Schale stand auf dem Tisch im Wohnraum.
»Du wirst doch nicht alle Blumenläden leergekauft haben, Mutti«, sagte Manfred stockend.
»Von mir sind nur die Narzissen, aber du kannst dann schon lesen, wer alles an dich gedacht hat. Ich bin ja auch ganz gerührt, mein Junge.«
Ferdi verabschiedete sich schnell. Er musste wieder in die Klinik, aber es war schon abgemacht, dass sie sich bald in großer Runde treffen wollten, wenn Manfred sich wohl genug fühlte.
Manfred sank mit einem tiefen Seufzer in einen Sessel. »Wieder daheim«, sagte er ohne zu stocken.
»Ich bin glücklich, mein Junge«, sagte Paula. »Die Schale ist von Verbrüggens.« Und als wäre dies ein Stichwort, begann drüben Puck zu bellen.
»Er sagt dir auch Grüß Gott, Manni«, sagte Paula leise.
»Übertreibst du nicht ein bisschen, Mutti?«, fragte Manfred.
»So ein Hund hat ein gutes Gespür, du wirst das schon noch merken.«
Manfred erhob sich und trat ans Fenster. Er konnte in den Garten hinüberblicken, und er sah den Hund, der am Zaun stand und freudig herüberbellte. Aber dann sah er das Mädchen, das grüßend die Hand hob, als wüsste sie, dass man sie sehen konnte.
»Ich denke, das Mädchen von nebenan ist blind«, sagte Manfred, keinen Blick von dem zierlichen Geschöpf wendend.
»So ist es, aber sie weiß, dass ich hinüberblicke, wenn Puck bellt.«
»Sie hat die Hand zum Gruß erhoben«, sagte Manfred leise.
»Sie weiß, dass du gekommen bist. Sei nett zu ihr, Manfred, sie ist ein liebes Geschöpf.«
»Gut, dass sie mich nicht sehen kann, sie würde erschrecken«, sagte er stockend.
»Denk doch nicht so was. Du brauchst doch keine Komplexe zu haben.«
»Schön ist das Haus geworden, so freundlich«, sagte er mehr zu sich selbst.
»Wie die Menschen, die drinnen wohnen«, sagte Paula. »Jetzt ruh dich bis zum Mittagessen aus.«
»Ich habe lange genug gelegen. Ich gehe ein Weilchen in den Garten. Die Krokusse blühen ja schon.«
»Und die Schneeglöckchen«, sagte Paula.
Sie blickte ihm nach. Sie hatte das Gefühl, dass er noch Schwierigkeiten mit dem Gleichgewicht hatte, aber sie wollte nichts sagen.
Drüben sprang Puck am Zaun entlang, als er Manfred im Garten gewahrte, und Manfred vernahm Manuelas weiche Stimme.
»Du freust dich ja so, Pucki. Mutti Schreiber hat heute keine Zeit zu kommen. Der Manfred ist doch wieder zu Hause.«
Ein warmes Gefühl durchströmte Manfred.
Er begriff jetzt, dass seine Mutter so schnell mit den neuen Nachbarn vertraut geworden war. Er trat näher an den Zaun und sah Manuela ganz deutlich.
»Und der Manfred freut sich, dass er von Puck nicht verbellt wird«, sagte er, »und möchte sich auch gleich für die schönen Blumen bedanken.«
Er sprach langsam, aber ohne jene deutliche Unsicherheit, die ihm so zu schaffen machte. Er sah, wie ein Lächeln über Manuelas feines Gesichtchen flog und ihre Wangen sich röteten.
»Wir freuen uns, dass Sie daheim sind«, sagte sie.
»Es riecht schon nach Frühling, spüren Sie es? Aber Sie können ja auch sehen, wie alles grün wird. Wir würden uns sehr freuen, wenn Sie uns bald besuchen.«
»Ich denke, jetzt sollten Sie erst uns besuchen«, erwiderte Manfred. »Ich muss mich herzlich bedanken, dass Sie meiner Mutter über das Alleinsein hinweggeholfen haben.«
»Wir mögen Mutti Schreiber sehr.«
Durch das offene Fenster hörte Paula ebenso wie Anke die Worte, die da gewechselt wurden, und beiden wurde es warm ums Herz. Aber keine verriet sich, als Manfred hier und Manuela drüben ins Haus zurückkehrten.
»Im Garten muss noch viel getan werden«, sagte Paula beiläufig.
»Ich kann mich jetzt ja betätigen«, erwiderte Manfred. »Es wird mir guttun.«
Er machte eine kleine Pause. »Das Mädchen von nebenan war auch im Garten.« Plötzlich stotterte er wieder. »Sie ist sehr hübsch. Sie tut mir leid.«
»Sie braucht dir nicht leidzutun, Manfred. Manuela ist trotz allem sehr glücklich.«
»Sie mag dich sehr gern, sie sagt ›Mutti Schreiber‹.«
»Hast du etwas dagegen?«, fragte sie betroffen.
»Nein, ich wundere mich nur. Ihr kennt euch doch erst ein paar Wochen.«
»Wo so viel Sympathie ist, braucht man nicht lange, um miteinander vertraut zu werden.«
»Ich denke, wir sollten sie einladen. Bisher warst du doch schon öfter drüben«, sagte Manfred.
»Wenn es dir recht ist, sehr gern. Nun iß erst mal, die frische Luft macht doch Appetit.«
Es gab sein Leibgericht, Rehrükken mit Spätzle und Preiselbeeren und Pilzrahmsauce, ein richtiges Festessen.
»Das hast du dich aber was kosten lassen, Mutti«, sagte Manfred schmunzelnd.
»Ich habe ja lange genug sparen können«, gab sie schlagfertig zurück. »Und schließlich musste ich ja was Besonderes auf den Tisch bringen, da das Essen in der Klinik auch sehr gut war.«
»Aber bei Muttern schmeckt es doch am besten«, erwiderte er. »Es ist schön, wieder daheim zu sein.«
Und dann konnte er ein paar Stunden tief und traumlos schlafen, bei offenem Fenster, durch das die würzige Luft des Waldes hereingeweht wurde. Er ruhte in seinem Bett, in vertrauter Umgebung, und er erwachte erst, als Pucks wütendes Bellen herübertönte.
»Was war denn los?«, fragte er seine Mutter, als er herunterkam.
»Da waren wohl so ein paar Burschen am Zaun, die Puck nicht gefallen haben«, erwiderte sie. »Er ist ein guter Wachhund, da brauchen wir uns keine Sorgen mehr zu machen.«
»Manuela geht doch nicht allein spazieren?«, erkundigte sich Manfred besorgt.
»Mit Puck zur Seite kann ihr wirklich nichts passieren, aber sie kommt höchstens zu uns herüber. Ich bin schon öfter mit ihr gewandert, und natürlich ist Puck immer dabei.«
So ergab es sich dann auch bald, dass Manfred die Verbrüggens kennenlernte, und ihnen gegenüber schwand seine Scheu bald. Sicher trug auch Manuelas heiteres Wesen dazu bei. Er bewunderte sie, da sie sich so mit ihrem Schicksal abgefunden hatte, aber manchmal bemerkte er doch einen sehr sehnsüchtigen Ausdruck in ihrem Gesicht, wenn davon die Rede war, welche Farbenpracht der Frühling nun in den Garten zauberte.
Berühren konnte sie die Blumen, und so konnte sie auch sagen, um welche es sich handelte, aber die Farben sah sie nicht.
Manfred ging mit ihr durch den Garten, in dem er selbst mit seiner Mutter die Rabatten angelegt hatte. Am Rosenbeet blieb Manuela stehen und wollte sich hinabbeugen, aber schnell griff er nach ihren Händen. »Die Rosen blühen noch nicht, Manuela, aber sie haben schon Dornen, und die könnten Ihnen weh tun«, sagte er.
Schnell ging er mit ihr zu dem Beet, in dem Tulpen und Narzissen in voller Pracht standen.
»So schön hat es vor Ostern noch nie geblüht«, sagte er. »Hoffentlich kommt nicht noch einmal harter Frost.«
»Man kann nichts dagegen tun«, sagte Manuela leise. »Haben Sie früher auch Ostereier im Garten gesucht?«
»Wir verstecken unsere Nestchen immer noch«, erwiderte er. »Für uns ist das ein Riesenspaß, wenn manche das auch kindisch finden.«
»Ich finde es schön, aber leider kann ich ja nicht allein suchen. Und ich könnte für Mami und Papi auch nichts verstecken. Manchmal tut es doch weh, dass dies alles vorbei ist, Manfred.«
Schnell griff er wieder nach ihren Händen. »Nicht traurig werden, Manuela. Heuer verstecken wir gemeinsam Nestchen bei uns im Garten, und dann müssen Ihre Eltern auch suchen. Meinen Sie, dass es ihnen Spaß macht?«
»Bestimmt.«
»Und Ihnen kann doch Puck beim Suchen helfen.«
»Da bin ich aber gespannt«, sagte sie mit einem leisen melodischen Lachen. Aber schnell wurde ihr Gesichtchen wieder ernst. »Haben Sie keine Freundin, mit der Sie lieber beisammen sein möchten?«, fragte sie.
»Nein, ich habe keine Freundin, aber ich denke, dass eine gewisse Manuela doch schon so etwas wie eine Freundin ist«, erwiderte er. »Freunde sagen du zueinander. Darf ich du sagen?«
Sie nickte, und er sah, wie Tränen über ihre Wangen rollten, und da legte er leicht seine Arme um sie und küsste diese Tränen weg. »Nicht weinen, kleine Manuela«, sagte er zärtlich, »ich möchte immer dein bester Freund bleiben.«
Paula war auf die Terrasse getreten, um die beiden zum Kaffee zu rufen. Aber sie hielt den Atem an und wich schnell ins Haus zurück. Ihr Herz schlug schneller.
Ungetrübte Freude konnte sie in diesem Augenblick nicht empfinden, so lieb sie Manuela auch hatte. Ja, wenn Manuela nicht so sehr auf Hilfe angewiesen wäre … Doch sofort kam ihr der andere Gedanke, dass eine sehende Manuela, mit strahlenden Augen in dem reizvollen Gesicht, auch eine umschwärmte Manuela sein würde, die dem vom Schicksal geschlagenen Manfred auch nur Mitgefühl entgegenbringen würde.
Nun kamen sie über den Rasen auf das Haus zu. Manfred hatte seinen Arm um Manuelas Taille gelegt. Puck trottete neben ihnen her, aber er drängte sich nicht so eng an Manuela, als wüsste er schon, dass nun noch jemand da war, der sie beschützen würde.
*
»Hast du dich gut mit Manfred unterhalten, Liebes?«, fragte Anke, als Manuela heimkam.
»Ja, sehr gut. Wir sagen du zueinander, es ist dir doch recht, Mami?«
»Freilich, es freut uns, wenn ihr euch versteht.«
»Ich höre ihn gern sprechen, aber ich würde ihn gern auch einmal sehen«, sagte Manuela sinnend.
Auch Anke hörte dies mit gemischten Gefühlen. Es machte ihr Sorgen, dass Manuela zu viel für Manfred empfinden könnte. Sie sah die Konflikte voraus, so sehr sie ihrem leidgeprüften Kind alles Glück der Welt wünschte. Aber wie sollte sich das erfüllen können. Jetzt war Manfred noch menschenscheu und misstrauisch, aber er würde ganz ins Leben zurückfinden, und die Narben würden verblassen, die ihm jetzt wohl auch noch als Handikap erschienen.
»Wenn ich doch wenigstens auf einem Auge sehen könnte«, sagte Manuela leise.
Anke drängte die aufsteigenden Tränen zurück. »Paula hat uns so viel Gutes von Dr. Norden erzählt und von der Insel der Hoffnung. Wie wäre es, wenn wir ein paar Wochen dorthin fahren würden, mein Liebes?«
»Du meinst, damit ich Manfred nicht treffe«, sagte Manuela leise.
»Ich weiß, was du denkst. Er kann ja sehen, und er kann auch viele andere Mädchen sehen und Vergleiche ziehen.«
So tief saß es also schon. Anke zog es das Herz zusammen.
»Dich kann man gern anschauen, Manuela, du bist ein hübsches Mädchen.«
»Mir kann man ja viel erzählen«, flüsterte Manuela. »Ich weiß ja gar nicht, wie ich jetzt ausschaue, und damals war ich nicht gerade hübsch.«
»Natürlich warst du hübsch, nur noch sehr kindlich.« Ihre Stimme zitterte.
Sofort war Manuela bei ihr und umarmte sie. »Sei nicht traurig, Mami, es war ja meine Schuld.«
»Nein, es war nicht deine Schuld. Du wurdest gestoßen.«
»Das habe ich aber gar nicht gemerkt.«
»Dann hast du es nur vergessen. Ja, es ist ungerecht«, brach es aus Anke hervor.
»Es hat doch keinen Zweck, Mami«, sagte Manuela sanft. »Ich habe doch euch, auch wenn Manfred ein anderes Mädchen findet. Ich hoffe nur, dass er glücklich wird.«
In diesem Augenblick fasste Anke den Entschluss, jetzt nichts mehr unversucht zu lassen, doch noch einen Weg zu finden, wie Manuela geholfen werden könnte.
Es waren in den letzten Jahren so viele Fortschritte auf allen Gebieten der Medizin gemacht worden, warum sollte es nicht jetzt auch schon andere Operationstechniken geben, die schwerwiegende Komplikationen ausschlossen.
Paula Schreiber hatte gesagt, dass Dr. Norden die allerbesten Ärzte kennen würde, und sie beschloss, ihn gleich nach Ostern aufzusuchen.
Nun aber standen die Feiertage vor der Tür. Am Karfreitag waren sie zum Fischessen von Paula eingeladen worden, am Ostersonntag wollte Anke eine Gegeneinladung mit Lammbraten machen.
Anke hatte sich vorgenommen, Manfred genau zu beobachten, um herauszufinden, ob er Manuela nicht doch nur Mitleid entgegenbrachte. Sie wusste ja auch, wie anziehend ihre Tochter mit ihrem anmutigen, unbewussten Charme sein konnte, wie bezwingend ihr Lächeln war, und wie schnell man dabei vergaß, dass ihre Augen nichts sagen konnten.
Aber sie konnte nicht ahnen, welche unendliche Zärtlichkeit Manfred schon empfand, wenn Manuela in seiner Nähe war, wie intensiv er nun schon wieder an sein berufliches Fortkommen dachte, um das, was jetzt noch ein Traum war, verwirklichen zu können, nämlich, ein Leben mit Manuela zu verbringen, ein ganzes Leben. Und er dachte nicht daran, dass ihr das Augenlicht zurückgegeben werden müsse. Er hatte inzwischen so viel über diese komplizierten Operationen gelesen, dass er Angst hatte, es könnte ihr nur noch mehr geschadet werden.
»Du bist sehr viel mit Manuela beisammen«, bemerkte Paula nach dem sehr gelungenen gemeinsamen Fischessen.
»Wir haben uns ein paar Osterüberraschungen ausgedacht, Mutti«, erwiderte er.
»Manuela ist kein Kind mehr, Manfred«, sagte sie betont.
»Das habe ich auch schon bemerkt«, sagte er lächelnd. »Sie ist ein ganz bezauberndes Mädchen, und wenn es nach mir allein ginge, würde ich sie auf der Stelle heiraten. Aber zuerst muss ich ja an mein berufliches Fortkommen denken.«
»Du willst sie heiraten«, sagte Paula tonlos.
»Du hast sie doch gern, was würdest du dagegen einwenden?«
»Ich habe sie sehr gern, aber sie ist hilflos.«
»Sie ist nicht hilflos, du siehst das anders als ich. Und es ist auch nicht Mitleid, es ist Liebe, gegenseitige Liebe, wenn Manuela das auch noch nicht bewusst sein mag. Es ist alles nur Gefühl, Mutti, keine Beeinflussung von Äußerlichkeiten.«
»Du musst doch weiterdenken, Manfred.«
»Ich denke weiter, und ich weiß auch, was du jetzt denkst. Natürlich wünsche ich mir auch Kinder, und ich sehe keinen Grund, warum wir nicht welche bekommen sollten.«
Sie hatte nicht erwartet, dass er dies so deutlich sagen würde und erschrak noch mehr.
»Kinder, die sie nie sehen könnte«, murmelte sie.
»Aber die sie fühlen kann, wie sie mich fühlt. Wenn sie mich will, wie ich sie will, wird es keine Probleme geben. Es sind immerhin zwei Großmütter da, die sich doch eigentlich freuen sollten, wenn sie ein Baby windeln, baden und kleiden können, und wenn beide das nicht wollen, würde ich alles selbst tun. Wenn ich an Manuela denke, hat das Leben wieder einen Sinn für mich.«
So weit dachte Manuela noch nicht, aber sie träumte davon, wie schön es wäre, immer mit Manfred beisammen zu sein, sich an ihn lehnen zu können, von seinen Händen so sanft gestreichelt zu werden.
*
»Sie liebt ihn, Jens«, sagte Anke. »Manuela liebt Manfred.«
»Die unabwägbare Anziehung zwischen den Geschlechtern«, sagte er ruhig. »Immerhin ist es gut, dass sie die erste Liebe einem anständigen Mann zuwendet.«
»Die erste und einzige Liebe, wie sollte es auch anders sein, aber wird sie ihr Glück bringen?«
Er sah seine Frau nachdenklich an. »Wenn du Angst hast, dass Manfred in ihr etwas zerstören könnte, werde ich mit ihm sprechen, von Mann zu Mann.«
»Ja, tu das, bevor sie unglücklich wird. Und wenn es eine Möglichkeit gäbe, ihr doch, zumindest teilweise das Augenlicht wiederzugeben, würde sie auch andere Männer kennenlernen.«
»Was hast du gegen Manfred?«, fragte Jens Verbrüggen nachdenklich.
»Gar nichts. Aber er ist ein gutaussehender junger Mann, trotz seiner Narben, und er wird es auch beruflich weit bringen. Er wird mehr mit anderen Frauen in Berührung kommen als Manuela mit anderen Männern.«
Jens lächelte flüchtig. »Jedenfalls sagst du nicht, dass Manfred auf eine ansehnliche Mitgift aus ist«, bemerkte er ironisch.
»Daran habe ich überhaupt nicht gedacht«, sagte Anke. »Und darauf ist er auch bestimmt nicht aus. Aber er hat auch viel durchgemacht und nach dem Motto: Einer trage des andern Leid, könnte er auch seine Entscheidungen treffen. Aber ist das genug?«
»Könnte es nicht auch das Motto sein: Einer sei des andern Glück?«
Anke sah ihren Mann staunend an. »Das sagst du?«
»Mein Liebes, sind wir zwei nicht lange genug glücklich verheiratet, um so zu empfinden?«
»Zur Liebe gehört so viel, Jens.«
»Natürlich auch Kinder, aber Manuela ist organisch doch völlig gesund. Hast du nie daran gedacht, wie schön es wäre, wenn wir auch Enkel bekämen?«
Sie schlug die Hände vor ihr Gesicht. »Mein Gott, ich wollte es nicht denken, nachdem dies geschah«, schluchzte sie auf.
»Weil du nie darüber nachgedacht hast, wie viel Behinderte doch einen Partner gefunden haben, mit dem sie glücklich wurden und Kinder bekamen, gesunde Kinder. Weißt du, ich habe schon darüber nachgedacht, wie schön es sein könnte, wenn Manfred es ernst meint mit unserer Manuela. Ich mag ihn.«
»Ich mag ihn auch, ich kann es mir nur nicht vorstellen, dass er so weit denkt wie du. Aber ich weiß, dass Manuela schon ganz auf ihn fixiert ist.«
»Nein, das ist sie nicht. Sie bringt ihm die innigsten Gefühle entgegen, die ein so zartbesaitetes Mädchen empfinden kann, und kann das für einen Mann, der schon so viel durchgemacht hat wie Manfred, unendliches Glück bedeuten? Für mich war es wunderbar, ein Mädchen zu bekommen, für das es nie einen anderen Mann gab. Es ist selten geworden, Anke, und es muss nicht ausschlaggebend sein für eine große Liebe, aber es ist eben ein überwältigendes Wunder.«
»Ich frage mich nur, ob Manuela ihn lieben würde, wenn sie ihn sehen könnte.«
»Wegen der Narben?«, fragte er bestürzt. »So kannst du doch nicht denken. Hättest du mich abgewiesen, wenn ich ein paar Narben gehabt hätte?«
Anke blickte zu Boden. »Im Nachhinein ist das eine rhetorische Frage«, antwortete sie leise. »Ich könnte sie auch gar nicht beantworten, Jens. Bei uns stimmte eben alles. Ich könnte dich auch fragen, ob du mir überhaupt Beachtung geschenkt hättest, wenn ich blind gewesen wäre.«
»Gut gekontert«, gab er zu, »aber Manfred hätte Manuela nicht zu beachten brauchen. Seine Mutter hatte uns darauf vorbereitet, dass wir es nicht verübeln sollten, wenn er sich ganz in seinen vier Wänden verschanzen würde. Aber er ist herausgekommen und auf Manuela zugegangen. Und er hat ihre Gesellschaft gesucht, wie sie seine. Es wäre vermeidbar gewesen, aber sie haben sich viel zu sagen, viel mehr, als wir meinen.«
Ein kurzes Schweigen trat ein, und dann sagte Anke: »Und Puck akzeptiert ihn voll.«
Jens lachte leise auf. »Er drängt sich nicht mal dazwischen.«
*
Und sehr bald sollten sie erfahren, wie sehr Puck an Manfred hing. Ein so fröhliches Osterfest hatten die Verbrüggens und auch Paula und Manfred schon lange nicht mehr gefeiert. Es war ein schöner Tag, nicht wie in den Jahren zuvor verregnet oder gar wintermäßig.
Manfred hatte in aller Frühe die Nester und Eier versteckt, und sich sogar einen Plan gemacht, damit nichts schiefgehen konnte. Als er gerade bei den letzten Verstecken war, kam drüben Puck aus dem Haus geschossen. Er hatte jetzt schon einen Durchschlupf zum Nachbargarten gefunden und umschwänzelte Manfred aufgeregt.
»Das sind Manuelas Nester, Puck. Musst dir alles schön merken«, sagte Manfred. »Pass gut auf.« Und zu jedem Platz, der für Manuela bestimmt war, führte er Puck hin. »Hier muss Manuela suchen«, sagte er immer wieder. »Verstehst du das auch? Bist doch ein kluger Hund!«
Puck stellte die Ohren auf und legte den Kopf schief. Manfred streichelte ihn. »Was meinst du, wie stolz sie sein wird, wenn sie die Nester selbst findet«, sagte er. »Sie soll sich doch freuen.«
Gesucht wurde erst ein paar Stunden später. Da stand die Sonne am Himmel. Da war hüben wie drüben Paulas guter Osterfladen genussvoll gegessen worden.
Dann ging Manfred zum Nachbarhaus. »Alles antreten zum Eiersuchen«, sagte er fröhlich.
»Ja, gibt es denn hier noch richtige Osterhasen?«, sagte Jens schmunzelnd, denn er war der einzige, der vom Fenster aus schon gesehen hatte, wie Manfred da herumgekrochen war.
»Bei uns schon«, erwiderte Manfred. »Der Wald ist ja nahe.«
Puck war schon bei Manuela und stupste sie. Und als Manfred nach ihrer Hand griff, hob sie den Kopf und lächelte. Dann gingen sie hinüber, und es wurde gesucht.
»Hoffentlich finden Sie es nicht kindisch«, sagte Paula, »Manni ist nun mal so ein Kindskopf geblieben.«
»Freuen Sie sich doch, Paula«, sagte Anke, »wir freuen uns auch.«
Sie konnten sich auch freuen über die so liebevoll hergerichteten Osternester. Puck hatte Manuela zu den ihren geführt, ohne dass Manfred viel nachhelfen musste. Aber ein Päckchen fand sie ganz allein, das hing an einem Strauch.
»Es riecht nach Manfreds Rasierwasser«, sagte sie. »Es gehört sicher dir, Manni.«
»Nein, dir«, erwiderte er, »du solltest es nur riechen, Manuela.«
Paula blickte Anke an. Ihr Blick war verschleiert, ein bisschen hilflos und ängstlich.
»So kann man es auch machen«, sagte Jens heiter. »Eine sehr gute Idee, Manfred. Da kann ich nur noch frohe Ostern wünschen, für uns waren sie lange nicht mehr so schön. Bei uns war der Osterhase nicht so einfallsreich. Da hat er den Mittagstisch gedeckt. Aber so einen kleinen Aperitif können wir ja vorweg zu uns nehmen.«
»Diese wunderschönen Eier haben Sie doch nicht selbst bemalt, Manfred?«, sagte Anke staunend.
»Doch, das kann er«, sagte Paula rasch.
»Ich würde sie so gern sehen«, flüsterte Manuela.
Manfred nahm rasch ihre Hand. »Du machst dein Packerl auf, das kannst du fühlen«, sagte er leise. »Die Eier sind nicht für die Ewigkeit, die muss man essen.«
Aber in Manuelas Päckchen befand sich ein Etui, und dem entnahm sie mit bebenden Fingern eine Goldkette mit einem Anhänger in Eiform und darin verschlungen in Brillantsplittern zwei M.
Manuelas Zeigefinger tastete darüber hinweg. Aller Blicke hingen an ihr.
»Zwei M«, flüsterte sie.
»Manuela und Manfred«, sagte er verhalten.
»Manfred und Manuela«, flüsterte sie, und dann fiel sie ihm um den Hals. Da brauchte sie sich nicht erst hinzutasten. Ihn spürte sie.
»Es könnte auch heißen ›Meine Manuela‹«, sagte Manfred zärtlich. »Für immer meine Manuela, wenn du willst.«
Paula wandte sich ab und ging schnell zur Tür. Jens folgte ihr.
»Sie wollen es nicht, Paula?«, fragte er verhalten.
»Wollen Sie es denn?«, fragte sie bebend.
»Ich schon. Ihr Mütter macht euch viel zu viel Gedanken. Aber heißt es nicht auch: Wer Liebe sät, wird Liebe ernten?«
*
Als sie sich an den Tisch setzten, trug Manuela die Kette um den Hals. Auf dem zarten Türkis ihres Kleides kam sie besonders schön zur Geltung. Und durch das Fenster fielen Sonnenstrahlen auf ihr Haar und setzten goldene Flämmchen hinein.
Puck knabberte auf der Terrasse an einem großen Fleischknochen und grummelte genüßlich vor sich hin, während Manfred Manuela das Fleisch schnitt, damit kein Kleckser auf ihr hübsches Kleid kam. Und als sie gegessen hatten, erhob er sich.
»Ich möchte herzlich danken, dass wir diesen Tag so schön feiern konnten«, sagte er leise, aber ohne einmal zu stocken. »Und es wäre schön, wenn übers Jahr Manuela meine Frau sein könnte. Bis dahin bin ich bestimmt so weit …«
»Halt ein, Manfred«, fiel ihm Jens Verbrüggen ins Wort, »wir Männer sollten uns erst mal unterhalten.«
»Ich habe aber ja gesagt, Papi, und ich bin mündig«, rief Manuela aus.
»Das höre ich gern, mein Liebling«, erwiderte Jens, »ich möchte nur nicht, dass Manfred erst noch sagt, was er erreichen will, um unsere Zustimmung zu erhalten. Wir wünschen nur, dass ihr glücklich werdet, und wenigstens die Voraussetzungen dafür wollen wir doch gemeinsam schaffen.«
»Ich schaffe es auch allein«, sagte Manfred.
»Davon bin ich überzeugt«, sagte Jens, »aber da die Harmonie doch erhalten bleiben soll, möchte ich mich gern ein paar Minuten mit Manfred unterhalten.«
Manfred beugte sich zu Manuela hinab. »Hab’ keine Angst, ich liebe dich«, sagte er so deutlich, dass jeder es hören musste.
»Daran zweifle ich nun wirklich nicht mehr«, sagte Jens ebenso deutlich.
*
»Ich kann doch warten, wenn Papi es verlangt«, sagte Manuela, als die beiden Männer das Zimmer verlassen hatten. »Ich weiß doch, dass ich noch so jung bin.«
»Und ich weiß jetzt, dass Manfred dich liebt«, sagte Paula. Anke schwieg. Sie überlegte, was ihr Mann wohl nun mit Manfred besprechen würde.
»Mir geht es darum, dass Anke plötzlich den Gedanken hegt, ob Manuela nicht doch operiert werden solle, Manfred«, sagte Jens indessen schon. »Und mir behagt dieser Gedanke nicht. Warum sie einer Gefahr aussetzen, deren Folgen wir nicht abschätzen können?«
»Mir würde dieser Gedanke auch nicht behagen«, erwiderte Manfred.
»Du bist also entschlossen, Manuela zu heiraten, auch wenn sie dich niemals anschauen kann?«, fragte Jens.
»Sie schaut mich an«, erwiderte Manfred leise. »Vielleicht kann es niemand begreifen, aber ich kann in ihrem Gesicht lesen. Ich weiß, was sie denkt und fühlt, und das zählt für mich. Ich will, dass sie lebt.«
»Das will ich auch, Manfred. Sie ist glücklich und soll es bleiben. Du kannst mein engster Mitarbeiter werden. Du brauchst dir keine Sorgen um deine berufliche Zukunft zu machen.«
»Die mache ich mir nicht. Ich werde es allein schaffen, und ich will auch allein für Manuela sorgen. Es soll niemand denken, dass ich mir Vorteile durch diese Heirat verschaffen will.«
»Okay, aber vergiß nicht, dass ich meine Tochter über alles liebe, und ich kann sehr hart sein, wenn man ihr weh tut.«
»Ich auch«, sagte Manfred betont.
*
»Das ging ja schnell«, sagte Anke erleichtert, als die beiden Männer sich wieder zu ihnen gesellten.
»Nun können wir erst recht frohe Ostern feiern«, meinte Jens schmunzelnd, und dann nahm er Manuela in den Arm.
»Werdet glücklich«, sagte er mit dunkler Stimme. »Meinen Segen habt ihr.«
»Das hätten wir uns doch nicht träumen lassen, als wir hier einzogen, aber ich habe dich gleich gemocht, liebe Paula.«
Das Du kam selbstverständlich über ihre Lippen, und es brauchte auch sonst nicht extra erbeten zu werden.
Manfred und Manuela gingen in den Garten. Puck hielt sich auch diesmal diskret zurück. Gedankenverloren blickte Paula den beiden nach.
»Es ging so schnell«, sagte sie leise.
»Manfred überlegt doch sonst alles so genau.«
»Welche Gedanken hegst du?«, fragte Jens.
»Wenn es nun beruflich doch nicht so geht, wie er es sich vorstellt …«
»Dann sind wir auch noch da«, fiel ihr Jens ins Wort, »ohne seinen Stolz zu verletzen, aber ich bin überzeugt, dass er es schafft.«
»Ich habe nicht geglaubt, dass ihr einverstanden sein würdet«, sagte Paula nun doch mit einem Lächeln.
»Manuela ist glücklich«, sagte Anke, »und wir können doch sehr zufrieden sein, dass wir uns so gut verstehen.«
»Ankes größte Sorge war doch, dass wir wieder unfreundliche Nachbarn bekommen könnten«, sagte Jens anzüglich.
»Manfred war zuerst auch so skeptisch, und nun …« Ihr Blick schweifte in die Ferne. »Es ist so seltsam, dass dieses Unglück uns noch Glück bringt.«
Und welches Glück empfanden die beiden jungen Menschen, als sie sich innig umarmten.
»Was dachtest du, als wir uns zum ersten Mal begegneten, Manfred?«, fragte Manuela leise.
»Dass du ein bezauberndes Wesen bist, das man lieb haben muss. Das hatte Mutti mir auch schon gesagt, aber ich konnte mich schnell überzeugen, dass es stimmt. Ich habe allerdings nicht gedacht, dass ich gleich mein Herz verlieren würde.«
Sie legte ihre kleine Hand auf die Stelle, unter der sein Herz schlug. »Es ist aber noch da«, sagte sie schelmisch.
»Und ganz erfüllt von Liebe.« Und dann küsste er sie lange und innig.
*
So harmonisch dieser Tag zu Ende ging, so aufregend sollte der nächste verlaufen.
Der sonnige Morgen ließ keine trüben Ahnungen aufkommen. Jens hatte vorgeschlagen, dass sie gemeinsam einen Ausflug machen könnten, wenn schönes Wetter sei, und dem stand nichts im Wege. So glaubten sie, als sie zum Fenster hinausschauten.
»Scheint die Sonne?«, fragte Manuela.
»Ja, es sind nur ein paar Wölkchen am Himmel«, erwiderte Anke, »aber die brauchen uns nicht zu stören.«
»Puck ist so unruhig«, bemerkte Manuela.
»Vielleicht denkt er, dass er zu Hause bleiben muss«, meinte Anke lachend.
»Er will raus«, sagte Jens.
Bei den Nordens stand man dem Wetter skeptisch gegenüber. »Stell mal das Radio an, was der Wetterbericht sagt«, meinte Fee.
»Das trifft meistens doch nicht zu«, brummte Daniel, aber er stellte das Radio an, ein wenig zu spät, denn sie konnten nur noch hören, dass mit späterer Eintrübung und Regen zu rechnen sei.
»Und nun noch eine Durchsage der Polizei«, ertönte die Stimme des Sprechers. »Heute morgen gelang dem Untersuchungshäftling Rudi Maurer die Flucht, als er wegen angeblicher Magenkrämpfe in die Krankenabteilung verlegt werden sollte. Der wegen eines Banküberfalls Inhaftierte gilt als gewalttätig, und es ist möglich, dass er sich wieder eine Waffe beschafft.«
Fee war blass geworden. »Maurer«, murmelte sie, »ob die Schreibers es auch hören?«
Das brauchten sie nicht mehr, denn sie wurden mit Rudi Maurer persönlich konfrontiert. Es spielte sich ab wie ein böser Spuk.
Arglos hatte Manfred das Haus verlassen. Da begann Puck auch schon zu bellen, aber es war kein freudiges Bellen, sondern ein wütendes. Und da sah Manfred auch schon diesen Burschen, der schon einmal auf ihn geschossen hatte, und wieder richtete er eine Waffe auf ihn.
»Wenn s’ mich schon einsperren, sollst du auch dran glauben, du …« Aber weiter kam er nicht. »Fass, Puck!«, hatte Manuela angstvoll gerufen, und mit einem gewaltigen Sprung war Puck über den Zaun und verbiss sich schon in Maurers Arm. Ein Schuss löste sich noch aus der Waffe, bevor sie ihm aus der Hand fiel, aber diesmal hatte dieser ihn selbst getroffen. Doch Puck roch Blut und ließ nicht los. Maurer lag am Boden und gab keinen Ton mehr von sich. Manuela stürzte schluchzend auf Manfred zu und umarmte ihn zitternd. Paula klammerte sich an die Gartentür, weil es ihr schwarz vor Augen geworden war, und dann kamen auch Jens und Anke. Alles ging blitzschnell, aber sonst rührte sich nichts in der Straße.
Manfred war noch wie gelähmt. Jens war der einzige, der etwas sagte und tat.
»Lass aus, Puck!«, befahl er dem Hund, und dann eilte er ins Haus zurück, um die Polizei zu rufen.
»Sag doch etwas, Manfred, bitte, sag etwas«, stammelte Manuela. »Warum …, was …«, aber mehr brachte auch sie nicht über die Lippen.
Da kam Dr. Norden, und sein Erscheinen brachte auch Paula wieder zu sich. Aber auch er war zutiefst fassungslos und entsetzt.
»Ich hatte im Radio gehört, dass er geflohen ist und wollte Sie warnen«, sagte er tonlos.
Puck rührte sich noch immer nicht vom Fleck. Dr. Norden wagte augenblicklich auch nicht, näher auf den leblos daliegenden Maurer zuzutreten, aber da sagte Manuela: »Komm jetzt, Puck. Es ist gut, bist ein guter Hund.«
»Das ist Dr. Norden«, sagte Paula stockend, und nun kam auch wieder Leben in Manfred. »Warum wollte er das tun? Ich habe ihm doch nichts getan«, sagte er heiser.
Jens kam wieder. »Die Polizei ist schon unterwegs.« Er sah Dr. Norden an und stellte sich vor. Seine Miene hellte sich auf, als er hörte, wer da gekommen war. Und nun konnte Dr. Norden auch Rudi Maurer untersuchen.
»Da wird nicht mehr viel zu machen sein«, sagte er rau, »aber das hat er sich selbst zuzuschreiben.«
Anke hatte jetzt Paula in den Arm genommen, der die Tränen über das blasse Gesicht liefen. »Er hatte die Bank überfallen«, murmelte sie bebend.
Der Funkstreifenwagen kam und auch die Ambulanz. Nun erschienen auch ein paar Neugierige, und Jens sorgte dafür, dass Anke, Paula, Manfred und Manuela ins Haus gingen. Puck knurrte zwar unwillig, aber er folgte.
Maurer war weggebracht worden, aber nun wollten die Beamten hören, was sich hier abgespielt hatte. Dass es sich bei dem Schwerverletzten um den flüchtigen Maurer handelte, hatten sie schon erfahren.
Puck, der Held des Tages, interessierte sich jetzt mehr für den saftigen Fleischknochen, den er als Belohnung von Anke bekommen hatte, und nun wurden sie alle wieder ruhiger.
So blitzschnell hatte sich alles abgespielt, dass sie jetzt erst nachdenken mussten.
»Puck war schon so unruhig«, sagte da Manuela. »Er wollte raus.«
»Und Manuela ist ihm gefolgt«, sagte Anke.
»Ich konnte den Mann ja nicht sehen, aber ich konnte hören, was er sagte, und dass er Manfred drohte.«
»Und ich habe gedacht, dass ich an Halluzinationen leide«, warf Manfred ein. »Ich wusste ja nicht, dass er geflohen war, aber warum wollte er mich umbringen? Das wollte er doch.«
»Er wusste, dass er mit schwerster Strafe zu rechnen hatte«, erklärte Dr. Norden.
»Er ist ein primitiver, skrupelloser Gewalttäter, und Sie hatten es verhindert, dass er an das große Geld kam, das er erbeuten wollte. Er hat vergeblich versucht, die Schuld auf Heiner zu schieben, und wusste, dass er auch für Heiners Tod bestraft werden würde.«
»Und weil ich davongekommen war, wollte er sich rächen«, sagte Manfred tonlos.
»Aber er hat nicht mit Puck gerechnet«, sagte Jens.
»Wenn man so einen Beschützer hat, kann man froh sein«, sagte Dr. Norden.
»Dass Sie so schnell da waren«, staunte Jens.
»Wir hatten es im Radio gehört, dass Maurer ausgebrochen ist«, erklärte Daniel Norden auch ihm. »Meine Frau meinte, es sei besser, wenn ich herfahre, weil Frau Schreiber in Panik geraten könnte, wenn sie die Nachricht hört.«
»Das wäre ich auch«, gab Paula zu, »aber als es geschah, war ich wie gelähmt. Mein Gott, ich hätte gar nichts tun können.«
»Wir haben ja unseren Puck«, sagte Manuela.
»Und unsere Manuela«, sagte Manfred zärtlich, »die so geistesgegenwärtig ist und Puck gleich den richtigen Befehl erteilte.«
Dr. Norden hatte aufgehorcht. Dieser weiche, zärtliche Ton weckte Ahnungen in ihm, aber er sollte dann auch gleich noch erfahren, dass diese Ahnungen schon wirklich waren.
Er konnte Fee zu diesem Schrecken auch Erfreuliches berichten. An einem Ausflug war ihnen ebenso wie auch den anderen die Lust vergangen.
Die Kunde drang schnell zu Dr. Neubert, und da verlor Gretl mehr die Fassung als an jenem denkwürdigen Tag. Ferdi tröstete sie und Tommy sagte: »Da sind wir aber mächtig froh, dass du nicht mehr in der Bank bist, Mami. Gell, Omi?«
Sie nickte wortlos und drückte den Jungen an sich. »Und wie froh sind wir erst, dass wir euch haben«, sagte sie dann leise.
»Und wir erst«, sagte Gretl unter Tränen.
*
Am Abend hörten sie, dass Rudi Maurer an seiner Schussverletzung gestorben war. Freilich hatte er auch viel Blut durch Pucks Bisse verloren, aber der Schuss hatte im Fallen die Hauptschlagader getroffen, und so hatte er letztlich selbst sein Leben ausgelöscht, ein böses, unnützes Leben. Niemand trauerte ihm nach.
»Er hätte lebenslänglich bekommen«, sagte Loni, als Dr. Norden am nächsten Morgen in die Praxis kam, »und wir hätten dafür auch noch mit unseren Steuern bezahlen müssen, auch Manfred Schreiber. So was fuchst einen schon. Ich habe gedacht, ich drehe durch, als ich das gestern Abend noch in den Nachrichten gehört habe.«
»Das Kapitel ist abgeschlossen, Loni, und ich gestehe gern, dass ich erleichtert bin. Gegen elf Uhr kommt Frau Verbrüggen. Sie braucht nicht zu warten.«
»Ist mir noch nicht bekannt«, sagte Loni verwirrt.
»Sie werden sie kennenlernen«, erwiderte Dr. Norden, »eine sehr nette Frau.«
Der Alltag ließ sich geruhsam an. Viele waren noch im Urlaub, und diesmal gab es auch weniger verdorbene Mägen, was Loni lächelnd kommentierte: »Die Süßigkeiten sind ja auch verflixt teuer.«
»Und der Osterbraten auch«, sagte Daniel.
»Was meinen Sie, wie Lenni geschimpft hat.«
Anke Verbrüggen hatte beruhigt das Haus verlassen. Sie hatte nicht gesagt, dass sie Dr. Norden aufsuchen wollte, sondern Besorgungen vorgeschützt.
Manuela und Puck waren drüben gut aufgehoben. Manfred hatte schon in aller Frühe ein paar Latten aus dem Zaun gesägt, damit sie nicht mehr über die Straße zu gehen brauchte, und das war schon beschlossen, dass der Zaun ganz beseitigt werden sollte.
Bei Manuela wirkte der Schrecken jetzt erst richtig nach. Sie wollte von Manfred nun alles genau wissen, und vor allem, ob auch noch andere an dem Überfall beteiligt gewesen waren.
Es blieb ihm nichts übrig, als ihrem Drängen nachzugeben und ihr zu erzählen, woran er sich erinnern konnte.
»Du gehst aber nicht mehr in die Bank zurück«, bat sie flehend, »bitte, versprich es mir.«
»Das ist doch schon beschlossen. Ich werde hier als Anlageberater arbeiten, Liebes. Das Büro wird bald eingerichtet.«
»Und du kommst nicht mit bösen Leuten zusammen?«
»Aber nein, du brauchst dir keine Sorgen zu machen.«
»Puck würde es ja auch gleich merken, wenn einer böse ist«, sagte sie. »Ich würde dir aber auch so gern helfen, Manni.«
»Das brauchst du nicht.«
»Ich konnte nie etwas richtig lernen«, sagte sie traurig.
»Und du bist trotzdem ein so gescheites Mädchen. Du kannst hören und fühlen, und das ist doch sehr viel wert, Manuela. Du kannst dich bewegen.«
Sie schmiegte sich in seine Arme. »Ich möchte dich so gern einmal sehen, wenigstens einmal«, flüsterte sie.
»Vielleicht würde ich dir dann gar nicht mehr gefallen«, sagte er stockend.
»Wie kannst du das sagen? Nein, das darfst du nicht denken.«
Ihre Finger streichelten sein Gesicht, die Narben, die man fühlen konnte.
»Du hast braune Augen und dunkelblonde Haare, das hat Mami mir erzählt.«
»Und du hast auch dunkelblondes Haar und dunkle Augen.«
»Die aber nicht sehen können und so gern sehen möchten.«
Er küsste ihre Augen. Es tat ihm weh, dass sie traurig war, und er sagte weich: »Du weißt ja nicht, wie schön du bist, mein Liebstes.«
»Ihr könnt mir viel erzählen«, sagte sie mit einem Anflug von Trotz.
»Genügt es dir nicht, dass ich dich liebe, sehr liebe, so wie du bist? Spürst du es nicht?«
»Du darfst nie böse sein mit mir, Manni«, flüsterte sie. »Ich habe ja nicht gedacht, dass ich das erleben darf.«
»Ich habe auch nicht gedacht, dass es solche Liebe gibt.«
*
Anke Verbrüggen saß Dr. Norden gegenüber. Sie hatte alle bisherigen Untersuchungsbefunde von Manuela mitgebracht, und Dr. Norden las sehr bekannte Namen.
Einer war nicht darunter, den er besonders schätzte. »Ich kann dazu nicht viel sagen«, erklärte er, »aber Sie sollten vielleicht doch noch Professor Landt konsultieren. Er hat schon mehreren Patienten helfen können, die ich zu ihm schickte, und er soll jetzt eine ganz besondere Operationstechnik entwickelt haben.«
»Mein Mann ist gegen eine Operation, und Manfred anscheinend auch. Sie befürchten andere Folgen, die schwerwiegend sein könnten. Aber ich weiß, wie sehr Manuela sich jetzt wünscht, sehen zu können. Eine Mutter denkt und hofft. Und wenn Manuela ein Kind bekommt, wird der Wunsch in ihr noch größer sein, es sehen zu können.«
»Ihre Tochter wird es selbst entscheiden müssen, Frau Verbrüggen. Niemand kann ihr solche Entscheidung abnehmen, auch Ihr Mann, auch Manfred nicht. Wie ich Professor Landt kenne, würde er eine Operation auch nur wagen, wenn keine anderen Schäden zu befürchten sind, ohne jedoch einen Erfolg garantieren zu können.«
»Vielleicht hätten wir damals doch in die Operation einwilligen sollen«, sagte Anke leise, »aber wir hatten solche Angst, unser einziges Kind zu verlieren. Diese entsetzlich quälenden Wochen, ob sie überhaupt wieder aufwachen würde …« Ihre Hände verkrampften sich ineinander. »Verstehen Sie es bitte. Ich war doch dabei, als es passierte. Ich sah sie da liegen, so leblos. Ich werde es nie vergessen können. Ich habe mich nicht sehr mutig gezeigt, Herr Dr. Norden. Wäre ich doch schneller gewesen und hätte sie auffangen können.«
»Sie dürfen sich deshalb keine Vorwürfe machen, Frau Verbrüggen.«
»Ich hoffte doch immer, dass es vorübergehen würde, dass sie eines Tages wieder sehen könnte. Ja, ich hoffte auf ein Wunder.«
»Ein Wunder ist doch geschehen«, sagte Dr. Norden. »Sie wird geliebt, so wie sie ist, freuen Sie sich darüber.«
»Die Freude wiegt die Sorge nicht auf«, erwiderte sie leise. »Bitte, verstehen Sie das. Und würden Sie ein Gespräch mit Professor Landt vermitteln?«
»Sehr gern.«
»Ich möchte Ihnen auch noch herzlich danken, dass Sie gestern ungerufen so schnell zur Stelle waren und uns allen über diesen Schreck hinweghalfen.«
»Ich bin froh, dass alles so ausgegangen ist«, erwiderte Daniel Norden. »Ich benachrichtige Sie, wann Professor Landt einen Termin für Sie hat.«
*
Damit musste sich Anke noch ein paar Wochen gedulden, denn der Professor war in Amerika, aber so hatte sie Zeit, Manuelas Einstellung ganz vorsichtig zu erforschen. Sie erzählte von Professor Landt, diesem berühmten Augenarzt, der jetzt in Amerika auch einige ganz diffizile Operationen vornehmen würde.
»Wenn ich wüsste, dass es etwas nützt, Mami«, sagte Manuela nachdenklich, »ich wäre sofort bereit.«
»Ich habe mit Dr. Norden gesprochen, Liebes, aber sag es Papi nicht, sonst macht er mir Vorwürfe. Ich will doch auch nur nicht, dass noch mehr passiert.«
»Manfred hat davor auch Angst«, sagte Manuela.
»Aber Dr. Norden sagt, dass Professor Landt bestimmt nicht operiert, wenn Komplikationen zu befürchten sind. Er kann nur keine Garantie für einen vollen Erfolg geben.«
»Mir würde es schon genügen, wenn ich ein bisschen sehen könnte«, sagte Manuela.
»Du musst es allein entscheiden, Kleines«, sagte Anke.
»Aber du musst mir ja helfen, Mami. Allein kann ich nicht zu ihm gehen.«
»Ich werde dir helfen, mein Liebling.« Und ich werde beten, dachte Anke. Sie soll vollkommen glücklich sein.
Nun stand jedoch erst eine Hochzeit bevor, und an dieser sollten sie auch teilnehmen. Länger wollten Ferdi und Gretl nicht mehr warten. Und es sollte nicht nur bei einer standesamtlichen Trauung bleiben. Tommy hatte es sich so gewünscht, dass es eine richtige Hochzeit mit kirchlicher Trauung sein sollte. Da war er sich mit seiner Omi ganz einig.
So sollte es auch sein. Anke fragte, welche Farbe sich Manuela für das Festkleid wünsche.
»Manfred soll es aussuchen«, sagte sie.
Er entschied sich für ein ganz zartes Grün, und darin sah Manuela wie eine Elfe aus. Um den Hals trug sie Manfreds Kette.
»Werden viele Leute da sein?«, fragte sie.
»Ich weiß es nicht, sicher werden Kollegen in die Kirche kommen.«
»Sie brauchen doch nicht zu merken, dass ich blind bin«, sagte sie. »Wenn ich mich bei dir festhalten kann, brauche ich Puck nicht. Hunde dürfen ja sicher nicht mit in die Kirche gehen.«
»Niemand wird es merken, mein Liebes«, sagte Manfred leise. »Aber was geht es uns an?«
Ihm tat es weh, wenn sie so sprach, und ihn quälten geheime Ängste, dass sie eines Tages doch noch die Entscheidung treffen könnte, nicht seine Frau zu werden. Sie war so oft so nachdenklich.
*
Der Tag der Hochzeit war gekommen. Manfred hatte gewünscht, dass Manuela auch bei der standesamtlichen Trauung dabei sein solle, damit sie sich mit der Zeremonie schon vertraut machen könne.
Andächtig lauschte sie dann auch und nahm jedes Wort in sich auf. Sie saß zwischen Tommy und Marianne Neubert, und mit ihnen verließ sie dann auch den Saal, während die Trauzeugen mit dem Brautpaar noch ein paar Minuten von dem Standesbeamten festgehalten wurden.
Langsam, von Tommy und Marianne fürsorglich geführt, ging sie hinaus ins Freie.
»Es war sehr feierlich«, sagte sie.
»In der Kirche ist es bestimmt noch viel schöner«, sagte Tommy.
Da fing Manuela schon ein paar Wortfetzen auf. Sicher waren es frühere Kolleginnen von Gretl, die nicht wussten, dass man sie hören konnte, aber Manuela hatte ja ein besonders gutes Gehör.
»Da hat die Gretl ja noch einen tollen Mann bekommen, wer hätte das gedacht.«
»Aber gut schaut sie aus«, sagte eine andere Stimme.
»Wenn ich aber bedenke, wie gut der Manfred früher ausgeschaut hat, ein Jammer ist das, wie der Bursche ihn zugerichtet hat.«
»Wenn er nicht so mutig gewesen wäre, würde Gretl vielleicht so zugerichtet sein. Für eine Frau ist das schlimmer, und er hat ja nichts für Frauen übriggehabt.«
Inzwischen war auch Marianne Neubert auf das Getuschel aufmerksam geworden.
»Kommen Sie, Manuela, wir gehen lieber schon zum Wagen«, sagte sie leise.
»Ich finde es ganz interessant, was man da so hört«, gab Manuela ebenso leise zurück. »Mich kennt ja keiner.«
»Mich auch nicht«, sagte Marianne. »Aber jetzt gehen wir doch lieber voraus. Das Brautpaar und die Trauzeugen kommen.«
Das Brautpaar wurde noch einige Zeit mit Glückwünschen überschüttet, und auch Manfred wurde aufgehalten.
Aber als er dann zu Manuela eilte und sie in den Wagen hob, erstarrten die Gratulanten. Und darüber ließ sich später Ferdi belustigt aus.
»Was meint ihr, wie sie alle geschaut haben, als du Manuela in den Wagen gehoben hast, Manfred«, sagte er.
»Und wie dumm erst, als ich sagte, dass es bald die nächste Hochzeit gibt«, fügte Gretl hinzu. »Schade, dass ihr diese Gesichter nicht mehr sehen konntet.«
»Mir hätte es Spaß gemacht«, sagte Manuela heiter, »weil Manfred noch nie etwas für Frauen übrig hatte.«
»Was haben sie denn noch alles geklatscht?«, fragte Manfred.
»Dass Gretl einen tollen Mann bekommen hat«, sagte Manuela, »aber sonst habe ich nicht viel hören können.«
Wie klug und einfühlsam sie ist, dachte Marianne Neubert. Nun aber folgte auf das Sektfrühstück im engsten Familienkreis, für das sich auch Dieter und Jenny Behnisch Zeit genommen hatten, die kirchliche Trauung.
Bevor Manfred Manuela aus dem Wagen half, drückte er ihre Hand an seine Lippen.
»Betrachte es als eine Generalprobe, Liebling. Das nächste Mal schreiten wir allen voran, und sie müssen uns folgen.«
Und nun hörte Manuela nichts mehr, als sie an seinem Arm die Kirche betrat. Sie fühlte sich so sicher. Sie wusste nun, was andere über ihn dachten, und wenn sie auch nicht sehen konnte, wie viel Augenpaare jetzt besonders an ihnen hingen, so spürte sie es doch fast prickelnd. Aber dann wurde sie ganz eingefangen vom Orgelklang und dieser Feierlichkeit.
Ja, flüsterte sie dann auch unwillkürlich, als Gretl ihr Ja gesagt hatte, und fest umschloss Manfred ihre kleine, zarte Hand.
*
Bis zum Herbst wollte Ferdi noch in der Behnisch-Klinik bleiben, aber es wurde nun schon fest an der Einrichtung der Praxis gearbeitet.
Die Behnischs mussten sich damit abfinden. Als Belegarzt würde ihnen Ferdi erhalten bleiben, und so wurde es für sie doch ein wenig leichter. Aber ein Arzt von Ferdis Format musste sich auch selbst beweisen können, das sahen sie ein, und sie gönnten ihm auch, dass er zu sich selbst gefunden hatte und eine Frau ihm zur Seite stand, auf die er sich verlassen konnte.
Manfreds Büro war schnell eingerichtet worden, und über Arbeit brauchte er sich nicht zu beklagen. Dafür hatte im geheimen auch Jens gesorgt, aber gar so dick hätte es nicht zu kommen brauchen. Das meinte auch Manuela.
Aber dann war es ihr doch ganz willkommen, denn Professor Landt war aus Amerika zurück, und dank Dr. Nordens Vermittlung hatte er auch bald einen Termin für sie eingeplant.
So ganz gefiel Manuela die Geheimnistuerei nicht, aber wer A sagt muss auch B sagen, und sie wollte ja Gewissheit haben.
Die Ausreden erfand Anke. Manuela müsste mal zum Friseur, meinte sie.
»Meinetwegen nicht«, sagte Manfred.
»Aber mein Haar muss ab und zu mal geschnitten werden«, erklärte Manuela. »Du hast doch so viel zu tun.«
Das hatte er, und es war auch eine große Beruhigung für ihn, und Puck blieb bei ihm.
Der erste Besuch bei Professor Landt beeindruckte Anke zwar sehr, aber er ließ auch alle Fragen offen. Er müsse sich erst mit den früheren Befunden beschäftigen und seine ersten Untersuchungen auswerten, erklärte der Professor. Und wenn das zuträfe, was er vermute, vorerst nur vermuten könne, wäre eine langwierige Behandlung nötig.
»Ich will alles ganz genau wissen«, sagte Manuela, »ganz genau.«
»Wenn ich es Ihnen erklären würde, könnten Sie es doch nicht verstehen«, erwiderte Professor Landt. »Anhand der Röntgenaufnahmen, die ich jetzt machen werde, könnte ich es Ihnen zeigen, aber Sie können diese ja nicht sehen. Und wenn eine Operation möglich ist, kann ich nicht im Voraus sagen, ob sie von Erfolg sein wird. Mehr kann ich jetzt nicht dazu sagen.« Er machte eine kleine Pause. »So gern ich Ihnen mehr Hoffnung machen möchte. Ich muss mich mit solchen Fällen erst auseinandersetzen. Ich müsste Sie einige Tage gründlich beobachten.«
»In der Klinik?«, fragte Manuela.
»Ja, selbstverständlich in der Klinik. Hier habe ich alle Apparaturen.«
»Wie bringen wir das Manfred und Papi bei, Mami?«, fragte Manuela.
»Ich weiß es nicht, Kleines«, erwiderte Anke mit einem schweren Seufzer.
»Mein Vater und mein zukünftiger Mann wollen von einer Operation nichts wissen, weil sie Angst haben, sie könnte eher mehr schaden«, erklärte Manuela zögernd.
»Man sollte sich niemals mit etwas abfinden, was möglicherweise doch korrigierbar ist«, sagte Professor Landt ernst.
»Wenn ich eine Chance habe, dann werde ich sie nutzen«, sagte Manuela mit fester Stimme.
»In ein paar Tagen sage ich Ihnen Bescheid«, versprach Professor Landt mit einem aufmunternden Lächeln, das vor allem Anke galt. »Und ich muss sagen, dieser Fall interessiert mich sehr.«
»Es ist völlig gleich, was es kosten sollte, Herr Professor«, sagte Anke.
»Das wollte ich damit allerdings nicht sagen«, bemerkte er. »Schöne Augen sollten auch sehen dürfen.«
*
»Wie alt ist er, Mami?«, fragte Manuela auf der Heimfahrt.
»Ungefähr wie Papi.«
»Und wie sieht er aus?«
»Recht interessant. Warum fragst du?«
»Ich wollte es nur wissen. Du hast ihn doch lange angeschaut.«
»Wie kommst du denn darauf?«
»Du hast nicht viel gesagt, also warst du beeindruckt.«
»Gebe ich zu. Er redet nicht viel herum.«
»Nicht nur mit lateinischen Ausdrücken, die man doch nicht versteht, wie die anderen. Ich überlege, was ich Manfred sagen soll.«
»Wollen wir nicht doch bei der Wahrheit bleiben, Manuela?«
»Nein, sie machen sich nur Sorgen oder reden es mir doch aus. Aber ich denke, es kommt doch so, wie es mir bestimmt ist. Wenn nichts zu ändern ist, muss ich mich damit abfinden, Mami, aber dann kann ich wenigstens sagen, dass ich alles versucht habe. Ihr braucht euch dann keinen Vorwurf zu machen, weil ich alles entschieden habe.«
Sie war so ruhig, dass Anke sie nur bewundern konnte. Natürlich machte sie sich auch Sorgen, aber sie war eine Mutter, die sich in ihr Kind hineindenken konnte, und sie wusste, wie brennend sich Manuela wünschte, ihre Umwelt sehen zu können, ihren Mann, und vor allem auch die Kinder, die sie doch so gern haben würde.
»Wir müssen jetzt noch zum Friseur«, lenkte sie ab. »Das haben wir doch als Vorwand angegeben.«
»Daran habe ich überhaupt nicht mehr gedacht. Aber Manfred würde es sicher merken, wenn meine Frisur noch genauso ist.«
Viel wurde nicht geändert, und Manfred sagte dann, dass für das Wenige sehr viel Zeit gebraucht worden wäre.
»Du wirst mich noch lange genug ertragen müssen«, scherzte Manuela.
»Ertragen will ich überhört haben«, sagte er. »Auf Händen will ich dich tragen.«
»Übertreib es nicht, Manni.«
»Ich vermisse dich, wenn du nicht da bist.«
»Du musst doch arbeiten. Ich würde auch so gern etwas tun, am liebsten dir helfen.«
Er sah sie forschend an. Er konnte wirklich ihre Gedanken von ihrem Gesicht ablesen, nur deuten konnte er sie jetzt nicht.
»Du hast doch etwas auf dem Herzen«, sagte er.
Er lässt sich nicht täuschen, ging es ihr durch den Sinn, er schaut in mich hinein.
»Ich möchte ein paar Tage in die Augenklinik gehen und alles noch mal untersuchen lassen«, sagte sie stockend.
»Das ist es also«, murmelte er. »Aber keine Operation!«
»Vielleicht kann man es auch ohne Operation bessern«, erklärte sie.
»Aber ihr habt doch schon die besten Ärzte konsultiert.«
»Vielleicht waren sie damals noch nicht so weit. Und Professor Landt soll einer der allerbesten sein.«
»Du trägst es also schon mit dir herum, und man hat Erkundigungen eingezogen.«
»Ja, Mami hat sich erkundigt«, gab sie zu. »Ich will es, Manni.«
»Ich liebe dich so, wie du bist«, sagte er eindringlich, »wie oft muss ich dir das noch sagen.«
Sie wandte sich ab. »Ich möchte doch so gern auch Kinder haben und sie heranwachsen sehen«, flüsterte sie. »Ich möchte all die süßen Sachen auch selbst aussuchen. Und wenn ich sie nicht sehen kann, will ich auch keine haben«, sagte sie trotzig.
»Gut, dann werden wir eben keine haben«, erwiderte er. »Mir ist deine Gesundheit wichtiger. Es macht mich traurig, wenn durch mich dieser Konflikt in dein Leben kommt.«
»Du kannst das nicht verstehen«, sagte Manuela bebend. »Papi und Mami konnte ich doch wenigstens vierzehn Jahre sehen, und ich habe sie so bildlich vor mir, auch wenn ich sie jetzt nicht mehr sehen kann, aber jetzt habe ich die Hoffnung, dass doch etwas zu ändern ist, dass ich auch dich sehen kann.«
»So sehenswert bin ich gar nicht, Manuela.«
»Du sollst nicht so reden, ich will es nicht. Wenn du Angst hast, dass mich die paar Narben stören könnten, vertraust du mir nicht, glaubst du nicht, dass ich dich liebe. Gut, dann heiraten wir, bevor ich die Untersuchung vornehmen lasse, und dann wirst du mich nie mehr los, wie es auch kommt.«
»Ich will dich ja nicht loswerden«, sagte er nachsichtig.
»Und ich will nicht, dass du meinetwegen bedauert wirst«, erklärte sie eigensinnig.
»Man wird mich höchstens beneiden und sich wundern, wie dieses bezaubernde Mädchen ausgerechnet auf mich fliegen konnte.«
»Jetzt muss ich aber wirklich lachen. Mein Manni hat Minderwertigkeitskomplexe.«
»Vielleicht kann man es so nennen, aber vor allem habe ich Angst um dich. Ich hatte durch den Schock Sprachstörungen, das weißt du doch, und wenn ich mich über etwas aufrege, stottere ich immer noch. Gefällt dir das etwa?«
»Ich habe davon noch nicht viel bemerkt, aber was macht das schon?«
»Das Nervensystem ist so fein verästelt, Manuela, bedenke das.«
»Reden wir doch mal vernünftig, Manfred. Du meinst also, dass durch eine Operation, die möglicherweise mein Sehvermögen verbessern könnte, mein angeblich so hübsches Gesicht leiden würde?«
»Ja, reden wir vernünftig. Alle Regungen, alle Bewegungen werden durch das Nervensystem gesteuert, Manuela, und es gibt doch keine Garantie, dass eine Operation Erfolg hätte.«
»Du denkst also, ich könnte dann doppelt behindert sein.« Sie ballte ihre Hände zu Fäusten. »Damit würde ich dich dann allerdings nicht belasten. Reden wir jetzt nicht mehr darüber.«
»Bist du jetzt böse?«
»Nein, ich bin nicht böse. Ihr könnt alles lesen, und das herauslesen, was euch passt. Ich kann das nicht. Ich muss mich darauf verlassen, was mir gesagt wird. Dass Papi und Mami gegen eine Operation waren, kann ich verstehen. Wenn sie misslungen wäre, hätten sie sich ewig Vorwürfe gemacht, sich die Schuld gegeben. Aber jetzt hätte ich es allein zu verantworten.«
»Und mir bedeutet ein Leben ohne dich nichts mehr, Manuela«, sagte er mit erstickter Stimme.
»Ich möchte auch leben, Manni, mit dir leben, ein ganz normales Leben führen, für dich kochen, mit dir reisen, wenn du mal Zeit hast, selbst Geschenke für dich aussuchen. Willst du das nicht verstehen?«
»Ich verstehe es, aber für mich ist das nicht so wichtig, mein Liebes.«
»Und wenn du anderen Frauen begegnest, würde ich eifersüchtig werden und könnte doch nichts unternehmen, weil ich dir nicht nachlaufen kann, um ihnen zu sagen: Das ist mein Mann. Lasst die Finger weg von ihm!«
Er lachte leise auf. »Das wird niemals nötig sein. Das brauchst du wirklich nicht zu denken, aber du siehst süß aus, wenn du wütend wirst.«
»Es wäre noch viel besser, wenn meine Augen funkeln könnten.«
Aber die Augen waren blicklos, obwohl die Lider sich ganz normal heben und senken konnten, und er fragte sich, wie das möglich sein konnte.
Er küsste sie zärtlich und streichelte ihre Wangen. »Ich habe es lieber, wenn du lächelst«, sagte er.
Sie lehnte ihre Stirn an sein Kinn. »Schau, Manni, es ist ja nicht so, dass alles schwarz ist. Ich kann hell und dunkel unterscheiden, manchmal auch Umrisse erkennen.« Sie drehte den Kopf herum. »Da drüben ist das Fenster, das stimmt doch.«
»Ja, es stimmt.«
»Es fällt Sonne herein. Wenn es trübe ist, kann ich es nicht so bemerken.«
So eifrig war sie bemüht, ihn zu überzeugen, dass doch nicht alle Hoffnung vergeblich sein müsse, dass er schließlich sagte: »Gut, dann werden wir diesen Professor Landt aufsuchen.«
»Nein, das ist meine Sache. Das musst du mir zugestehen.« Und das klang so fest entschlossen, dass er nichts mehr darauf sagte.
Anke hatte indessen mit Paula gesprochen und ihr sehr vorsichtig angedeutet, was sich Manuela vorgenommen hatte.
»Warum sollte sie es nicht tun?«, sagte Paula. »Es könnte doch sein, dass sich neue Gesichtspunkte ergeben. Mir kommt es auch so vor, als wäre sie in letzter Zeit viel sicherer beim Gehen.«
»Sie kennt jetzt die neue Umgebung schon besser«, sagte Anke, »das spielt auch eine Rolle, aber Professor Landt scheint mir ein sehr verantwortungsbewusster Arzt zu sein. Nun, vielleicht hat Jens seinerzeit die anderen Ärzte eingeschüchtert, indem er sofort sagte, dass er kein Risiko eingehen würde. Das will Professor Landt auch nicht, Paula, und Jens darf keinesfalls etwas erfahren. Er würde wieder hinrennen und seinen Standpunkt klarmachen. Und wie ich ihn kenne, würde er auch sofort sagen, dass er keinen Cent für eine Operation bezahlen würde. Wenn sie möglich ist, würde ich diese bezahlen. Ich habe ja mein Erbteil von meinen Eltern. Es ist nicht angerührt und sollte Manuela sowieso gehören. Aber ich darf mich auf dein Schweigen verlassen.«
»Selbstverständlich. Danke, dass du mich eingeweiht hast.«
»Ich bin hin und her gerissen, aber wenn dem Kind zu helfen wäre, wäre ich der glücklichste Mensch der Welt.«
»Und ich ganz sicher der zweitglücklichste«, sagte Paula.
*
Jens Verbrüggen hatte an diesem Abend noch eine Konferenz mit wichtigen ausländischen Kunden, und so waren Anke und Manuela einmal allein.
»Kommt Manfred noch rüber?«, fragte Anke.
»Er muss noch arbeiten, eine wichtige Sache. Ich habe ihm Andeutungen gemacht, Mami, damit du Bescheid weißt. Er kann in mich hineinschauen und merkt sofort, wenn mich etwas beschäftigt.«
»Und was hat er gesagt?«
»Mit einer Operation ist er natürlich nicht einverstanden, aber ich habe ihm auch meinen Standpunkt klargemacht. Er wollte selbst mit mir zu Professor Landt gehen, aber das habe ich ihm ausgeredet. Dass ich schon dort war, habe ich verschwiegen.«
»Und wenn er hingeht?«
»Das tut er nicht. Er ist nicht wie Papi, und er wäre Professor Landt auch nicht gewachsen.«
»Wie meinst du das?«, fragte Anke überrascht.
»Nun, der Professor würde ihm keine Auskunft geben, aber Papi würde da ganz anders auftreten.«
»Wie denn, Kleines?«
»Von mir keinen Cent, Herr Professor«, imitierte sie den Tonfall ihres Vaters so treffend, dass Anke lachen musste. Aber Manuela lehnte sich zurück, und ein träumerisches Lächeln legte sich um ihre weichen Lippen.
»Ich weiß, dass Papi alles für mich tun würde, um mein Leben zu erleichtern, aber den Ärzten vertraut er nicht mehr. Ich hatte ja auch kein Vertrauen mehr, Mami, aber seit ich weiß, wie schlimm es um Manfred stand und was die Ärzte für ihn alles getan haben, habe ich wieder Hoffnung gewonnen.«
»Wir wollen uns aber nicht zu viel Hoffnung machen, Manuela«, sagte Anke sanft.
»Warum nicht? Bisher war ich immer nur euer Kind. Ihr habt mich verwöhnt, und ich brauchte nie für mich selbst zu denken, und ich dachte auch nicht, dass ich einmal einen Mann lieben würde, so lieben, dass ich nicht immer umsorgt werden möchte. Um mich zu trösten habt ihr mir doch auch immer geschildert, wie viel Schlimmes es gibt. Ich habe nie Not leiden müssen, stets alles bekommen, aber nun bin ich plötzlich erwachsen und denke weiter. Manfred ist ein guter Mensch. Er hat sein Leben für Gretl riskiert.«
»Aber er will deines nicht gefährdet wissen, Kind.«
»Das steht doch gar nicht zur Debatte. Professor Landt würde solch Risiko nicht eingehen. Er tut nur, was er verantworten kann. Und wenn er sagt, dass ich mich abfinden muss, werde ich das hinnehmen müssen. Aber ich glaube, dass er es nicht sagen wird.«
Glaube kann Berge versetzen, heißt es in der Bibel, ging es Anke durch den Sinn.
»Warten wir also voller Hoffnung auf seinen Bescheid, mein Kind«, sagte Anke weich.
»Ich wollte doch auch nichts unversucht lassen.«
»Und dafür danke ich dir von Herzen, liebste Mami«, sagte Manuela.
*
Zwei Tage später bekam Paula Schreiber ein amtliches Schreiben vom Postboten gebracht, das sie bestätigen musste. So was erschreckte sie immer. Da es aber an sie gerichtet war, konnte sie nicht gleich zu Manfred laufen.
Sie setzte sich in die Küche und öffnete den Umschlag mit einem Messer. Und dann kamen ihr die Tränen.
Von den Raabes hatte sie nichts mehr gehört, und nun wurde ihr mitgeteilt, dass das Ehepaar gemeinsam aus dem Leben geschieden sei wegen der unheilbaren Krankheit von Herrn Raabe.
Betreffs der Nachlassregelung wurde Paula aufgefordert, mit ihrem Sohn am 15. des Monats beim Nachlassgericht zu erscheinen.
Paula musste das ein paarmal lesen, aber dann ging sie doch zu Manfred.
»Was könnte das bedeuten, Manfred?«, fragte sie, ihm das Schreiben hinlegend.
Auch er las das Schreiben zweimal. »Es ist erschütternd, Mutti«, sagte er leise. »Sie werden uns doch hoffentlich nicht noch etwas hinterlassen haben. Der Gedanke, dass Schuldgefühle sie verzweifeln ließen, ist schrecklich.«
Paula wischte sich die Tränen aus den Augen. »Heiner war ihr einziges Kind, Manfred, und sie waren so gute, aufrichtige Menschen. Da kann man schon verzweifeln. Und Herr Raabe war durch seine Krankheit deprimiert. Ja, wenn er noch im Beruf hätte sein können. Ich kann mir schon vorstellen, dass man da nicht mehr weiter kann. Und dann werden sie auch von dem zweiten Anschlag auf dich gehört haben. Warum haben sie sich nur nicht gemeldet, uns nicht wissen lassen, wo sie zu finden sind.«
»Sie haben sich verkrochen an einem Ort, wo niemand sie kannte, wo sie auch mit niemandem Kontakt aufnehmen und sprechen wollten. Wie mögen sie gelitten haben«, sagte Manfred heiser.
Dr. Norden hatte auch ein solches Schreiben erhalten, und auch er war erschüttert. Ebenso fragte er sich, warum er zum Nachlassgericht bestellt wurde, doch genauso wie Paula und Manfred Schreiber musste er sich bis zum festgesetzten Termin gedulden, nicht ahnend, dass er die beiden Schreibers treffen würde. Für Paula und Manfred war es eine Beruhigung, als Dr. Norden erschien.
»Diese bedauernswerten Menschen«, sagte er.
»Es hat uns sehr erschüttert«, sagte Paula. Aber dann wurden ihre Namen schon aufgerufen, und sie betraten den nüchternen Raum. Es sollte ein bedeutungsvoller Tag werden, denn gerade an diesem war auch Manuela zu Professor Landt bestellt worden.
*
Für den Beamten, der das Testament verlas, war es einfach nur eine Pflicht. Seine schnarrende Stimme machte die Zuhörer nervös.
Zuerst überreichte er Paula einen Brief, den sie mit ihrer Unterschrift bestätigen musste, desgleichen war es auch bei Dr. Norden.
»Es sind persönliche Schreiben, deren Inhalt uns nicht bekannt ist«, sagte der Beamte sachlich. »Ich komme jetzt zur Verlesung des Testaments, das notariell beglaubigt ist. Da das Ehepaar Raabe keine Blutsverwandten mehr hatte, ist dieses Testament nicht anfechtbar, das sei vorausbemerkt.«
Irgendwie schien ihm der Inhalt merkwürdig vorzukommen, denn seine Stimme wurde merklich leiser, sogar etwas persönlicher.
Paula und Manfred Schreiber und Dr. Norden erfuhren, dass der gesamte Nachlass zu je einem Drittel an sie fallen sollte, doch die Höhe erschreckte sie. Da war einmal die beträchtliche Summe aus dem Erlös des Hauses, dazu aber auch noch Wertpapiere, sodass für jeden Erben mehr als zweihunderttausend Euro blieben.
Sie konnten ahnen, was der Beamte dachte. Wie konnte man aus dem Leben scheiden, wenn man soviel besaß, ging ihm wohl durch den Sinn.
Dr. Norden dachte nur daran, was Heiner seinen Eltern angetan hatte, die doch auch besonnen seine Zukunft hatten sichern wollen.
Sie bekamen die Abschriften ausgehändigt, mussten wieder unterschreiben, und dann konnten sie gehen.
Alle drei waren benommen und schauten sich nur reihum an.
»Vielleicht haben sie in den Briefen geschrieben, was sie dazu bewegte«, sagte Dr. Norden.
»Sie haben mir doch schon diese wertvolle Münzsammlung geschenkt«, sagte Manfred leise. »Und wir konnten für sie gar nichts tun.«
»Ich denke, dass für sie das Leben sinnlos geworden ist«, sagte Daniel Norden.
»Sie haben immer nur darüber nachgegrübelt, warum Heiner auf die schiefe Bahn gekommen ist, warum er ihnen das angetan hat. Es ist bitter für solche Eltern, so schmerzlich enttäuscht zu werden. Sie hatten ja nichts mehr, für das es sich zu leben lohnte.«
Paula nickte. »Ich bin dankbar, dass mir Manfred erhalten geblieben ist.«
»Und ich muss das jetzt erst mal verkraften«, sagte Manfred.
Dr. Norden lächelte flüchtig. »Ich auch.«
*
Professor Landt hatte zu dieser Zeit Manuela bereits erklärt, dass er zu der Diagnose gekommen sei, dass der fünfte Gehirnnerv verletzt worden sei bei dem Unfall.
»Aber ich habe keine Schmerzen, manchmal nur so ein Puckern«, erklärte Manuela. »Bitte, erklären Sie mir das genau.«
»Der Druck auf den Sehnerv beeinträchtigt die Sehschärfe und das Gesichtsfeld, und um so weiter nach hinten die Ursache der Schädigung liegt, um so schwerer ist das Sehvermögen betroffen. Nerven und Gefäße treten am hintersten Punkt der Augenhöhle in den Augapfel ein.«
»Und das bedeutet?«, fragte Manuela.
»Dass Sie auf eine Besserung hoffen dürfen«, erwiderte der Professor.
Sie hielt den Atem an. Ein heller Schein flog über ihr zartes Gesicht. »Sie werden mich operieren?«, fragte sie.
»Wir wollen es nicht Operation nennen, Fräulein Verbrüggen, und für mich ist es auch eine Beruhigung, Ihnen versprechen zu können, dass andere Schädigungen bei meiner Therapie nicht zu befürchten sind. Allerdings dürfen Sie nicht gleich zu viel erwarten. Vielleicht gelingt auch nur eine Besserung auf einem Auge.«
»Das würde mir doch schon genügen«, sagte sie leise und bebend vor innerer Erregung.
»Genügen sollte es uns nicht«, sagte Professor Landt. »Ich bin da sehr ehrgeizig. Und wenn jemand so tapfer ist wie Sie, möchte man auch jeder Kritik standhalten.«
»Ich werde nichts kritisieren, Herr Professor. Sie machen mir so viel Mut, und ich bin Ihnen so dankbar.«
Wie glücklich muss der Mann sein, der dieses Mädchen zur Frau bekommt, dachte Professor Landt, wie beneidenswert!
Ungeduldig und unruhevoll hatte Anke draußen gewartet. Und sie musste lange warten.
Dann kam Professor Landt. »Ihre Tochter muss jetzt noch ruhen, gnädige Frau«, erklärte er. »Ich habe die Behandlung bereits eingeleitet.«
»Eingeleitet?«, wiederholte sie bebend.
»Ich weiß genau, wo ich ansetzen muss. Ersparen Sie mir bitte einen langen Vortrag.«
»Wären wir doch nur schon vorher zu Ihnen gekommen«, flüsterte Anke.
»Vor vier Jahren war ich auch noch nicht so weit. Insofern ist meinen Kollegen kein Vorwurf zu machen. Freilich wäre es besser gewesen, wenn man gleich etwas hätte unternehmen können, aber jedenfalls ist es noch nicht zu spät, da die Augenmuskeln noch nicht bedenklich geschädigt sind. Zur Beruhigung kann ich Ihnen sagen, dass wir heute Apparaturen besitzen, von denen ich selbst vor einigen Jahren noch nicht zu träumen wagte. Aber ein großer Helfer ist der Patient selbst, der nicht resigniert, der die Hoffnung nicht aufgibt. Zu dieser Tochter kann man Ihnen nur gratulieren. Ich werde bemüht sein, das Beste zu erreichen, was möglich ist.«
»Wie soll ich Ihnen danken«, sagte Anke leise.
»Nicht schon jetzt.«
*
Paula und Manfred waren von Puck empfangen worden, der sich vor der Haustür niedergelassen hatte.
»Nanu«, sagte Manfred. »Hat man dich ausgesperrt?«
Paula hatte in den Briefkasten geschaut. Da lag ein Zettel.
Wir hatten auch dringend etwas zu erledigen. Auf bald, Anke, stand darauf.
»Sie sind bestimmt wieder bei diesem Professor Landt«, sagte Manfred nachdenklich.
»Er könnte doch vielleicht helfen, Manfred«, sagte Paula.
»Ich bringe ihn um, wenn er noch mehr kaputt macht«, stieß Manfred hervor, und Paula erschrak.
»So darfst du doch nicht reden, Junge. Er ist berühmt. Er hat schon in vielen, aussichtslos scheinenden Fällen geholfen.«
»Aber für ein Experiment ist mir Manuela zu schade. Wenn Hoffnungen in ihr erzeugt werden, die sich nicht erfüllen, wird sie deprimiert sein.«
»Nein, das wird nicht der Fall sein. Sie will nur nicht ihre Chance verpassen. Dr. Norden hat großes Vertrauen zu Professor Landt, und deshalb vertraue ich ihm auch.«
Sie legte den Brief auf den Tisch, der ihr übergeben worden war. »Mach du ihn auf, Manfred.«
Puck hatte sich zu seinen Füßen niedergelassen und sah ihn erwartungsvoll an.
Ganz vorsichtig öffnete Manfred den Umschlag.
Manfred las die ersten Zeilen und fuhr sich dann über die Augen.
»Hoffentlich hast du ein Taschentuch zur Hand, Mutti«, sagte er leise.
Das hatte sie. Und ganz still, in sich versunken saß sie da, als sie las, was Frau Raabe mit zittriger Hand geschrieben hatte.
Du musst in allen Dingen Bruder
und Schwester sein,
dass sie Dich ganz durchdringen,
dass du nicht scheidest Mein und
Dein.
Kein Stern, kein Laub soll fallen –
Du musst mit ihm vergeh’n!
So wirst Du auch mit allen
allstündlich aufersteh’n!
Und so wollen wir Adieu sagen, liebe Frau Schreiber, lieber Manfred. Es gibt für uns keine Hoffnung mehr. Als wir erfuhren, dass Maurer ein zweites Mal versuchte, Manfreds Leben zu vernichten, haben wir den Entschluss gefasst, dieses Leben zu beenden. Wir haben erfahren, dass Sie liebe Nachbarn bekommen haben, und dass Manfred in der leidgeprüften Tochter der Verbrüggens eine liebenswerte Lebensgefährtin gefunden hat. Wir wünschen ihm alles Glück. Uns ist nur materieller Besitz geblieben, mit dem wir nichts mehr anzufangen wissen, und deshalb möchten wir Sie von ganzem Herzen bitten anzunehmen, was von Herzen gegeben wird. Nichts anderes denken, als dass unsere Seelen Frieden suchen und zu wünschen, dass sie ihn finden mögen. Nicht verdammen, sondern verstehen und auch Heiner verzeihen. Sie haben noch eine Zukunft, wir nicht. Möge Gott uns verzeihen und Sie begreifen, dass wir nur gutmachen wollten, was Heiner Ihnen angetan hat. Nochmals Adieu!
Schweigen herrschte nun lange Zeit. Paula weinte still in sich hinein.
»Diese armen, lieben Menschen«, flüsterte sie dann tonlos.
»Sie haben ihren Frieden gefunden, Mutti«, sagte Manfred.
*
Der Brief an Dr. Norden hatte einen anderen Wortlaut. Daniel hatte ihn seiner Frau wortlos auf den Tisch gelegt, bevor er in die Praxis gefahren war.
Hochgeschätzer Herr Dr. Norden, lautete die Anrede. Wenn wir Sie zum Miterben bestimmt haben, dann deshalb, weil wir von der Insel der Hoffnung wissen. Wenn es aber für Menschen keine Hoffnung gibt, sollen sie dazu beitragen, dass anderen geholfen werden kann, und so wünschen wir, dass dies mit dem, was wir Ihnen zurücklassen können, auf der Insel der Hoffnung geschieht. Sie haben nie gezögert, anderen zu helfen, gleich, ob sie hilflos oder schuldig waren. Wir haben Abschied von einer Welt genommen, die wir nicht mehr verstehen konnten. Wir erwarten, dass das Leben einen Sinn haben müsse, aber es hat nur so viel Sinn, wie wir ihm selbst geben können. Helfen Sie den Menschen, denen noch zu helfen ist.
Sie haben all diese Wochen nur damit verbracht, zu denken, zu überlegen, die Ursachen zu suchen, die zu alldem geführt haben könnten, ging es Fee durch den Sinn. Sie haben mit ihrem Leben bei vollem Bewusstsein abgeschlossen und nur daran gedacht, noch etwas Gutes zu tun. Wie viel Kraft, wie viel menschliche Größe musste dazu gehören!
Das war anders, als wenn sich Menschen aus einer unseligen Konfusion heraus aus dem Leben flüchteten. Diese beiden Menschen hatten zusammen gelebt, sich geliebt und gemeinsam gelitten, und sie wollten auch im Tode vereint sein. Wer wollte da einen Stein werfen?
Manfred konnte sich nicht auf seine Arbeit konzentrieren, obgleich er ein paar wichtige Projekte zu bearbeiten hatte und ihm die Vormittagsstunden, die sie auf dem Gericht verbracht hatten, schon fehlten.
Puck lag unter dem Schreibtisch, gab ab und zu mal tiefe Seufzer von sich, rührte sich aber sonst nicht. Aber plötzlich war er auf den Beinen und schon an der Tür und winselte. Kurz darauf hörte Manfred auch einen Wagen kommen, und nun eilte er auch schnell zur Tür.
Als er dann die Haustür öffnete, schoß Puck wie der Blitz an ihm vorbei, und gleich darauf sprang er bellend um Ankes Wagen herum. Aber nur sie stieg aus, und Puck suchte Manuela vergebens. Er stieß ein so klägliches Heulen aus, dass der Manfred durch Mark und Bein ging und er Anke schreckensvoll anblickte.
»Nun beruhigt ihr beiden euch mal«, sagte sie mit gekünstelter Forschheit. »In ein paar Stunden hole ich Manuela heim. Führ dich nicht so auf, Puck, Frauchen kommt ja wieder.«
»Und wo ist sie?«, fragte Manfred rau.
»In der Augenklinik bei Professor Landt«, erwiderte Anke.
»Was hat er denn mit ihr gemacht?«
»Das weiß ich nicht, aber er will sie beobachten, und du brauchst dich nicht so aufzuregen, Manfred. Der Mann weiß, was er tut.«
Manfreds Augenbrauen schoben sich zusammen. »Ihr habt euch den Tag ausgesucht, weil Jens abwesend ist«, sagte er heiser. »Und ihr wusstet, dass wir am Vormittag auf dem Gericht sein würden.«
»Es hat sich ganz zufällig so ergeben, aber ich muss sagen, dass es mir sehr willkommen war«, erklärte Anke ruhig. »Was hat sich bei euch ergeben?«
»Ich möchte zuerst wissen, was mit Manuela ist«, sagte er unwillig.
»Professor Landt will sie beobachten. Er hat eine sehr sichere Diagnose gestellt.«
»Und welche?«, fragte Manfred.
»Dass der fünfte Gehirnnerv verletzt ist und dadurch diese Sehschwäche ausgelöst wurde.«
Manfred starrte sie an. »Und andere Auswirkungen soll diese Verletzung nicht gehabt haben?«, fragte er drängend.
»Anscheinend nicht, da Manuela sich ja recht normal entwickelt hat, wie du ja auch schon feststellen konntest«, erwiderte Anke. »Sei doch nicht so aggressiv wie Jens, Manfred. Professor Landt will Manuela helfen, nicht ihr schaden. Und sie will, dass ihr geholfen wird. Mit eurem Starrsinn hättet ihr das verhindert, wenn sie nicht selbst so stark wäre. Und du hast doch auch erfahren, was gewissenhafte Ärzte vollbringen können.«
»Manuela hat gesagt, dass wir heiraten würden. Bevor sie etwas unternimmt«, stieß er hervor.
»Professor Landt hat nicht nur diese eine Patientin, die auf seine Hilfe hofft«, sagte Anke sanft. »Aber er will jetzt das schnell tun, was schon hätte getan werden können, wenn früher die Voraussetzungen dafür vorhanden gewesen wären.«
»Ich will mit ihm sprechen«, sagte Manfred.
»Nun gut, aber du wirst Manuela nicht umstimmen können«, erwiderte sie.
»Wenn er Manuela helfen kann, werde ich ihn fürstlich entlohnen können«, sagte Manfred leise. »Die Raabes haben uns und Dr. Norden alles hinterlassen, was sie besaßen.«
Anke sah an ihm vorbei. »Sprich bitte nicht von entlohnen, Manfred«, sagte sie ruhig. »Außerdem ist das meine Angelegenheit. Ich habe meine Tochter zu Professor Landt gebracht, und ich werde auch für alles geradestehen. Ich weiß, wie unendlich wichtig es für sie ist, und ich wollte nicht den Kopf in den Sand stecken. Was immer du heute denkst und fühlst, in ein paar Jahren könnte das anders sein. Nein, widersprich mir nicht, ich möchte dir etwas ganz eindringlich sagen. Ich habe einen Mann, den ich sehr liebe, und wir haben eine glückliche Ehe geführt, aber er war auch ein beruflich sehr zielstrebiger Mann und ist es noch, und das bist du auch, Manfred. Du kannst nicht in den Hauspantoffeln stecken bleiben, um es ganz deutlich zu sagen. Manche Männer mögen dazu das Talent haben, den Hausmann zu spielen, die Kinder zu betreuen und alles was dazugehört, wenn sie eine tüchtige Frau haben, die für den Lebensunterhalt sorgen kann, aber das könnte Manuela nicht. Und dir würde es schon gar nicht gefallen, wenn wir für euren Lebensunterhalt sorgen würden. Aber alles auf einmal kannst du nicht machen. Den Willen will ich dir nicht absprechen, aber in der Wirklichkeit sieht alles anders aus, als in der Theorie. Ich will mich gewiss nicht mit Lorbeeren schmücken, aber bei uns würde es auch anders aussehen, wenn ich Jens den lästigen Alltagskram nicht abgenommen hätte.«
Er sah sie an und wurde verlegen. »Und so ganz beiläufig willst du mir auch zu verstehen geben, dass bei mir auch manches anders wäre, wenn ich meine Mutter nicht gehabt hätte«, sagte er einsichtig.
»Siehst du, wir verstehen uns. Wir können an den Realitäten nicht blind vorbeigehen. Ich weiß, dass viele heute so denken, dass man alles ganz locker sehen müsse oder solle, aber eines Tages stehen sie dann vor Mauern unbewältigter Probleme, die sich nicht mehr so rasch wegräumen lassen. Sie werden zur Kasse gebeten und können nicht zahlen. Sie erwachen aus ihren Träumen und sind der Wirklichkeit nicht mehr gewachsen. Und wir haben dafür ja auch ein Beispiel, Manfred. So leid mir die Raabes auch tun, aber sie haben ja auch in der begrenzten Welt ihrer Einstellung gelebt. So wie sie dachten, meinten sie, dass es weitergehen müsse, auch für ihren Sohn. Und weil es nicht so war, sind sie an ihrem Schicksal zerbrochen. Du solltest stolz sein, dass Manuela, obwohl sie in gewisser Weise fast noch ein Kind ist, so viel Charakter hat, weiterzudenken und nicht nur zu träumen, weil sie dem Mann begegnet ist, von dem sie wohl geträumt hat.«
»Und vielleicht wird ihr bewusst, dass ich doch nicht der Mann bin, wenn sie sehen kann«, sagte er leise.
»Wenn du diese Angst hast, dann tust du mir leid«, sagte Anke. »Wenn allein das der Grund sein soll, dass du ihr keine Chance geben willst …«
»Aber nein, bitte, denkt nicht so, ich liebe Manuela. Ich will nur, dass sie lebt.«
»Das wollen wir auch, Manfred, aber sie ist ein denkender Mensch. Sie ist nicht geistig zurückgeblieben. Und sie liebt dich so sehr, dass sie dir keine Last sein will.«
»Ich habe ihr schon oft gesagt, dass sie so nicht denken soll.«
»Ja, ich weiß, aber sie will nicht auf Händen getragen werden, auf Schritt und Tritt bewacht und begleitet, und Professor Landt sagt, dass sie eine Chance hat. Wir dürfen daran keine Zweifel aufkommen lassen, wir müssen sie ermutigen. Auch du musst es tun. Du bist doch für sie der wichtigste Mensch. Ich bitte dich inständig, ihr nicht die Hoffnung zu nehmen, sondern ihren Glauben zu stärken. Und ich bitte dich auch darum, mir zu helfen, damit Jens uns nicht in den Rücken fällt.«
»Was soll ich tun, Anke?«, fragte Manfred leise.
»Wenn es soweit ist, dass Manuela einige Zeit in der Klinik bleiben muss, sag ihm, dass ihr ein paar Tage verreisen wollt. Das wird er akzeptieren.«
Er dachte nach. »Ich möchte, dass wir vorher heiraten, würdest du das akzeptieren?«, fragte er.
»Ja, wenn Manuela einverstanden ist«, erwiderte Anke.
»Meinst du nicht, dass Jens auch einsichtig sein würde?«, fragte Manfred zögernd.
»Ich will es nicht herausfordern. Er hat schon ein paar Ärzte vor den Kopf gestoßen. Er will alles genau wissen, und er kennt auch diese Bezeichnungen und kommt gleich mit medizinischen Gutachten und vergleichbaren Fällen. Und außerdem steht er auch auf dem Standpunkt, dass dem Arzt der Patient doch egal ist, wenn er nur abkassieren kann.«
»Aber mit Dr. Norden hat er sich doch gut verstanden«, sagte Manfred.
»Das war was anderes. Dr. Norden war sofort zur Stelle und noch dazu an einem Feiertag. Da hat er schon einen Sonderbonus, und außerdem steht hinter Dr. Norden die Insel der Hoffnung, und da wird nicht operiert oder experimentiert, wie Jens sagt. Da kommt mir ein Gedanke, Manfred. Ihr heiratet und verbringt die Flitterwochen auf der Insel der Hoffnung.«
»Sagtest du nicht, dass Manuela einige Zeit in die Klinik muss?«
»Jens soll das doch nicht wissen. Manchmal muss man eben schwindeln, wenn man einen schwierigen Mann hat, und mit Dr. Nordens Hilfe könnte uns das Schwindeln leichter fallen.«
»Und du meinst nicht, dass er auch so einsichtig sein könnte wie ich?«
»Er ist manchmal unberechenbar. Nein, ich will nichts herausfordern, Manfred.«
»Du kennst ihn länger als ich«, sagte er.
»Ich werde Manuela nachher abholen.«
»Nicht ohne mich, aber du kannst mitkommen«, sagte Anke.
»Du traust mir nicht«, meinte Manfred lächelnd.
»Oh, doch, aber Professor Landt kann sehr kurz angebunden sein, und manche Männer vertragen das nicht.«
»Jens zum Beispiel?«, fragte Manfred mit einem schrägen Seitenblick.
»Du hast es erfasst.«
»Und eine kluge Frau baut vor.«
»So ist es.«
»Jedenfalls bin ich vorbereitet auf meine Ehe, da Manuela dir sehr ähnlich zu sein scheint.«
Anke lächelte. »Weißt du, die Erfahrung kommt erst in der Ehe. Da entdeckt man Besonderheiten an dem Partner, mit denen man nicht gerechnet hat, aber wenn man sich liebt, nimmt man sie in Kauf.«
»Das war eine aufschlussreiche Lektion, Anke«, sagte Manfred. »Wann fahren wir?«
»Um vier Uhr.«
*
Manfred lernte Professor Landt kennen. Er wurde von hellen durchdringenden Augen forschend gemustert.
»Ihre Argumente sind mir bekannt«, sagte Professor Landt. »Ich habe mich lange mit meiner Patientin unterhalten. Ich denke, dass in sechs Wochen alle Vorbereitungen abgeschlossen sein können, damit ich sagen könnte, welcher Erfolg zu erwarten ist.«
Manfred warf Anke einen kurzen Blick zu.
»Gut, dann können wir den Hochzeitstermin festsetzen, und ich bringe dann meine Frau zu Ihnen, Herr Professor.«
Der Arzt lächelte breit. »So was gefällt mir. Ich hoffe, dass wir eine sehr fröhliche Nachfeier machen können.«
»Sind Sie immer Optimist?«, fragte Manfred.
»Nicht immer. Es gibt Fälle, die man als letzten Versuch betrachten muss, aber in diesem Fall ist es ja der Erste.«
Ein Bett wurde an ihnen vorbeigefahren. »Die da ist ein letzter Versuch, Herr Schreiber«, sagte Professor Landt ernst. »Ich muss jetzt in den OP.«
Er nickte ihnen zu und verschwand hinter einer Tür.
Aus einer anderen trat Manuela in Begleitung einer jungen Krankenschwester. Sie lachten fröhlich.
»Bis zum nächsten Mal, Irmela«, sagte Manuela.
»Sie werden schon erwartet«, sagte Schwester Irmela verlegen.
»Manuela, mein Liebes«, sagte Manfred, schnell auf sie zutretend.
Manuela wich einen Schritt zurück. »Mami hat es dir also gesagt«, flüsterte sie.
»Ich bin auch da«, sagte Anke.
»Ich halte es durch, du kannst es mir nicht ausreden, Manfred«, sagte Manuela trotzig.
»Ich will es dir ja nicht ausreden. Jetzt nicht mehr!«, sagte er betont.
»Ich will genauso optimistisch sein wie Professor Landt.«
»Da tun Sie gut daran«, sagte Schwester Irmela. »Auf Wiedersehen, Manuela.«
Auf Wiedersehen hatte sie ganz unbefangen gesagt, und Manuela sagte: »Sie ist so lustig. Mir ist die Zeit so schnell vergangen. Weiß es Papi etwa auch schon?«
»Nein«, erwiderte Anke, »und er wird es auch nicht erfahren. Diesmal wird er sich nicht einmischen, Manuela.«
»Wir werden nämlich vorher heiraten, Manuela«, sagte Manfred, »und dann gilt das Wort des Ehemannes.«
»Einverstanden, aber hoffentlich bekommt Mami dann keinen Krach mit ihrem Ehemann.«
»Das kannst du mir überlassen, mein Kind«, sagte Anke.
»Aber du wirst nicht mit Papi streiten«, sagte Manuela.
»Wenn es sein muss, schon, aber wir werden uns bestimmt auch wieder vertragen, mein Liebling.«
Ganz vorsichtig hatte Anke ihrem Mann dann erst mal angedeutet, dass es doch schön wäre, wenn Manuela und Manfred noch im Frühjahr heiraten würden.
»Ich habe nichts dagegen«, sagte er.
»Ganz im Gegenteil. Vielleicht kann ich Manfred dann doch noch überzeugen, dass sein Schwiegervater einen zuverlässigen Mitarbeiter braucht.«
»Du denkst immer zuerst ans Geschäft«, sagte Anke.
»Nicht zuerst. Zu allererst denke ich an das Glück unseres Kindes, Anke, und deshalb natürlich auch an die finanzielle Sicherheit. Ich könnte eines Tages auch umfallen, und immerhin bin ich Hauptaktionär. Es wäre mir eine große Beruhigung, wenn Manfred meinen Posten übernehmen und auch für dich sorgen könnte.«
Anke sah ihn fassungslos an. »Immerhin könnte ich auch vor dir sterben«, stieß sie aggressiv hervor.
»Da sei Gott vor. Red nicht solchen Unsinn!«
»Red du nicht solchen Unsinn«, stieß sie aufschluchzend hervor. »Du tust mir weh!«
»Das will ich doch nicht«, sagte er begütigend. »Denk doch vernünftig, Anke. Es passiert so viel. Wir können nichts selbst bestimmen. Ich fahre vorsichtig, aber heute wäre mir ein anderer fast voll reingedonnert. Weller wollte mit dem Zug kommen. Er ist heute Nacht entgleist. Weller ist tot. Ich wollte es dir nicht so direkt sagen, aber ich habe mir Gedanken gemacht. Wir können und sollten nicht jeden Tag in Angst leben, aber man sollte dankbar für jeden guten Tag sein, und Manuela soll glücklich sein. Sie soll eine wunderschöne Hochzeit haben.«
»Wir können in zwei Jahren Silberhochzeit feiern, Jens«, sagte Anke gedankenverloren.
»Und so Gott will, werden wir das auch, mein Herzblatt, und vielleicht haben wir dann schon einen Enkel. Ich wollte dich doch nicht erschrecken. Ich wollte nur sagen, dass wir jeden Tag unseres Lebens als einen geschenkten Tag betrachten sollten.«
*
So sah es Anke denn auch, und sie wollte keine trüben Gedanken aufkommen lassen. Jens erfuhr nicht, dass Manuela jede Woche zweimal in der Augenklinik war. Fröhlich und guter Dinge ging sie hin und kam auch wieder zurück.
Die Hochzeit wurde vorbereitet. Manuela hatte ganz genau gesagt, wie ihr Hochzeitskleid aussehen sollte und dafür selbst einen weichen Seidenstoff ausgewählt.
Sie benahm sich jetzt, als könnte sie schon sehen, und Manfred hatte auch den Eindruck, dass ihr Blick schon bedeutend lebendiger geworden sei. Über die Therapie selbst sprach sie nicht, aber über Professor Landt mit geradezu schwärmerischen Worten. Nach einem langen Gespräch mit ihm hegte Manfred auch keine Vorurteile mehr, dennoch blieben in ihm geheime Ängste, dass Manuelas Hoffnungen allzu groß sein könnten und dann doch eine tiefe Enttäuschung folgen würde.
Sie übte jetzt fleißig ihren Namen zu schreiben, denn es sollte kein Gekritzel unter ihrer Trauungsurkunde stehen, wie sie sagte.
»Manuela Schreiber klingt aber nicht so gut wie Manuela Verbrüggen«, sagte Manfred, wenn er mit Rührung ihre Versuche betrachtete, die aber immer besser wurden.
Sie hob den Kopf, und in diesem Augenblick hatte er das Gefühl, dass sie ihn bittend anblickte.
»Papi wollte eigentlich mit dir sprechen, wegen des Namens«, sagte sie leise, »aber Mami sagte, dass du es als Kränkung betrachten könntest. Ich will dich auch nur fragen, ob wir uns nicht für den Doppelnamen entscheiden könnten, da ich ja keinen Bruder habe. Dann würde der Name Verbrüggen ja auch auf unsere Kinder übergehen.«
»Würde ich denn für würdig befunden?«, fragte Manfred, der an diese Überlegung überhaupt nicht gedacht hatte.
»Was du immer gleich denken musst. Du hältst mich doch auch für würdig, den Namen Schreiber zu tragen, und es kommt nicht darauf an, ob einer klangvoller oder seltener ist als der andere. Für Papi wäre es schön, wenn er doch weitergegeben würde. Natürlich gibt es sicher noch andere Verbrüggens, wie auch andere Schreibers, aber sie sind mit uns nicht verwandt.«
»Wenn es Jens recht ist, habe ich nichts einzuwenden.«
Jubelnd fiel sie ihm um den Hals. »Das wird ihn freuen, Manni!«
Schon die standesamtliche Trauung war noch festlicher als die von Ferdi und Gretl. Diesmal waren Gretl und Dr. Norden Trauzeugen.
Langsam, aber gut leserlich schrieb Manuela ihren neuen Namen. »Ist es recht so?«, flüsterte sie.
»Nichts auszusetzen«, erwiderte Manfred und küsste sie zärtlich, dass er selbst nun Manfred Schreiber-Verbrüggen heißen sollte, stimmte ihn dankbar, als Jens mit bewegter Stimme sagte: »Nun haben wir zu unserer Tochter auch einen Sohn, wie Paula zum Sohn eine Tochter gewonnen hat.«
Die kirchliche Trauung erfüllte die beiden Mütter mit tiefer Rührung. Jens hatte es sich nicht nehmen lassen, seine Tochter nach alter Sitte, wie sie in seiner Familie üblich war, zum Traualtar zu führen.
Manuela sah hinreißend aus in dem schlichten und doch wunderschönen Kleid, zu dem sie nur noch Manfreds Kette trug. Der zarte Spitzenschleier fiel über ihr Gesicht, aber mit sicheren Schritten ging sie am Arm ihres Vaters zum Altar.
Diesmal hatte ein vierbeiniger Gast eine Sondererlaubnis erhalten, der Zeremonie beizuwohnen. Puck saß bewegungslos neben der Bank, nur seine Ohren waren gespitzt, und als Manuela ihr festes und deutliches Ja sagte, wedelte er mit dem Schwanz.
Manfred staunte, mit welcher Sicherheit Manuela ihm den Ring an den Finger steckte. »Für immer meine Frau«, flüsterte er. »Bis ans Ende unseres Lebens«, gab sie bebend zurück.
Tränen flossen reichlich. Gretl schluchzte mit Paula und Anke um die Wette, und auch Jens tupfte sich verstohlen die Augen.
Im Jagdschlössl war die Hochzeitstafel gedeckt, und da konnte Puck in munterer Hundegesellschaft herumtoben, denn Wastl und Bärle hatten ihn sofort akzeptiert, obgleich er doch anderer Rasse war.
»Da seht die Hunde«, sagte Manuela lachend. »Sie machen keinen Unterschied, ihnen ist es gleich, ob sie weiß oder schwarz sind.«
Stille herrschte. Jens ließ beinahe das Sektglas fallen. »Was habt ihr denn, warum seid ihr so still?«, fragte Manuela.
»Du kannst die Hunde unterscheiden, Manuela?«, fragte Jens erregt.
Sie hob den Kopf und sah ihn an. Ja, sie sah ihn an, und wieder hielten alle den Atem an. »Noch nicht ganz deutlich, Papi, aber es wird noch besser werden, von Woche zu Woche.«
Und da brachte Kathi Hoflechner einen Korb gefüllt mit roten Rosen herein.
»Wurde soeben abgegeben«, sagte sie.
»Rote Rosen«, sagte Manuela lächelnd.
»Nicht wahr, es sind rote Rosen. Sie sind jedenfalls dunkel, und sie duften herrlich!«
Und Manfred sagte: »Mit den herzlichsten Glückwünschen für den gemeinsamen Lebensweg, der von Freude und Licht erfüllt sein möge, von Ludwig Landt.«
»Und wer ist das?«, fragte Jens.
»Ich erkläre es dir, Liebster«, murmelte Anke.
Fee Norden lächelte zu ihrem Mann empor. »Er ist sicher, dass sie sehend durch die Welt gehen kann«, flüsterte sie.
Manuela umarmte ihren Vater. »Du wirst uns doch keine Vorwürfe machen, dass wir ein bisschen geschwindelt haben, Papi. Man muss etwas wollen, fest daran glauben, dann wird es gelingen. Wenn Weihnachten wird, werde ich die Kerzen am Christbaum brennen sehen, und wenn ich ein Baby habe, werde ich es selbst versorgen können.«
»Und alles hinter meinem Rücken«, brummte er.
»Du hast ja nicht daran geglaubt«, sagte Manuela leise, »aber ich habe fest daran geglaubt und hab’ auch Manfred überzeugen können. Du lässt dich doch nur durch Tatsachen überzeugen.«
»Und wie steh ich jetzt da? Nun geht ihr alle auf mich los«, sagte Jens.
»Das Essen wird serviert«, ertönte Kathi Hoflechners Stimme.
»Und wie soll das weitergehen?«, fragte Jens beklommen.
»Jetzt wird gegessen, mein Lieber«, sagte Anke lächelnd, »und dann wirst du schon weitersehen.«
»Dass sogar du mich täuschen kannst«, murmelte er.
»Aus Erfahrung klug geworden, Liebster. Nun freu dich doch. Der Fortschritt bringt auch manches Gute, vor allem in der Medizin. Und wenn dafür so viel Geld ausgegeben würde wie für die Rüstung, könnte noch viel mehr Menschen geholfen werden.«
»Aber wie ist es denn nur möglich, man machte uns doch keine Hoffnung«, sagte er leise.
»Man darf eben nicht aufgeben, Jens. Manuela hat nicht aufgegeben. Sie hat Manfred zur rechten Zeit kennengelernt. Liebe vollbringt eben Wunder, auch wenn sie nur den Anstoß dazu gibt, auf das Wunder zu hoffen.«
»Und Mütter sind natürlich immer klüger als Väter.«
»Nicht immer«, räumte sie ein. »Bange war mir auch.«
»Und woran hat es gelegen?«
»Am fünften Gehirnnerv, aber das kannst du dir von Professor Landt erklären lassen. Du bist viel klüger als ich, du wirst das komplizierte Verfahren schon begreifen. Ich kann mich nur über den Erfolg der Therapie freuen.«
*
Mochten es auch alle als Wunder verstehen, sie konnten sich nur freuen. Heimlichkeiten brauchte es nicht mehr zu geben. Ihre Flitterwochen konnten Manfred und Manuela ungestört auf der Insel der Hoffnung verbringen, und von Tag zu Tag machte sich der Erfolg von Professor Landts Therapie mehr und mehr bemerkbar. Eine Ruhepause hatte er befürwortet. Auch mit Jens Verbrüggen hatte er ein langes Gespräch geführt und ihm alles genauestens erklärt, aber Jens musste zugeben, dass dies alles auch für ihn nicht ganz begreiflich war. Doch für ihn zählte jetzt nur noch, dass seinem geliebten Kind geholfen werden konnte.
Weihnachten konnte Manuela die Kerzen am Baum nicht nur brennen sehen, sie konnte sie auch anzünden, und alle schauten ihr andächtig und voller Dankbarkeit dabei zu, und für sie, die um sie gebangt hatten, war es das schönste Geschenk, als sie sagte: »Nächstes Jahr wird bei uns auch ein Kindlein in der Wiege liegen.«
Da gab es wieder Tränen der Freude, aber nicht bei Manuela und Manfred. Aus ihren Augen strahlte nur Glück.
Dass sie nun immer eine getönte Brille auf ihrem feinen Näschen tragen musste, machte Manuela gar nichts aus.
Sie konnte lesen, schreiben und lernen, aber nun beschäftigte sie sich vor allem mit all den Dingen, die eine werdende Mutter lernen musste. Sie konnte all die hübschen kleinen Sachen selbst aussuchen, aber auch ihre Kleider und die Krawatten und Hemden für ihren Mann, der sich dann doch überreden ließ, mit seinem Schwiegervater zusammenzuarbeiten, da sie sich prächtig verstanden. Und da Manfred ja wenigstens ein halber Verbrüggen geworden war, hatte er auch Verantwortung dafür mitzutragen.
Dass Gretl ihrem Mann schon im nächsten Sommer einen Sohn schenkte, betrübte Tommy ein wenig, denn er hatte sich ein Schwesterchen gewünscht, aber seine heißgeliebte Omi tröstete ihn damit, dass er das sicher auch noch bekommen würde. Zu alt fühlten sich Gretl und Ferdi dafür nicht.
Viel aufregender war es für sie, als Manuela bereits sechs Wochen später auch einen Sohn zur Welt brachte. Er wog mehr als sieben Pfund, und sein Großvater wie auch sein Vater konnten es nicht begreifen, dass seine zierliche Mutter einen solchen kräftigen Burschen präsentieren konnte.
Manuel sollte er heißen, so hatte es Manfred gewünscht. Aber für ihn war es das höchste Glück, dass seine geliebte Manuela ihn aus klaren Augen anblicken konnte. Er konnte ihr nur immer wieder sagen, wie glücklich er sei.
»Durch dich, durch deine Liebe, Manni«, sagte sie zärtlich, »nur dadurch habe ich Mut bekommen. Liebe ist ein Wunder, wenn man sie richtig begreift, und sie kann eben auch Wunder bewirken. Und dann braucht man nur den richtigen Arzt«, fügte sie mit einem träumerischen Lächeln hinzu. »Du musst ihn gleich anrufen, Liebster.«
»Dr. Norden nicht auch?«, fragte Manfred.
»Der wird schon gleich kommen«, erwiderte sie mit leisem Lachen. »Der hat es ja nicht weit.«
Aber Professor Landt kam auch noch am selben Abend, um den Prachtjungen zu begutachten. Und er traf Daniel Norden in der Leitner-Klinik.
»Würden Sie mir jetzt verraten, wie Sie das vollbracht haben, hochgeschätzter Herr Kollege?«, fragte Daniel.
Professor Landt lachte verschmitzt.
»Der Stammhalter ist nicht mein Verdienst, aber es braucht viel Geduld und eben auch unserer modernen Methoden, einen Gehirnnerv in die richtige Position zu bringen. Fragen Sie mich nichts mehr. Es gehört viel Glück dazu, und auch die Voraussetzungen müssen günstig sein. Sie waren es, und es machte mich sehr froh, dass diese bezaubernde kleine Frau ihr Glück nun voll genießen kann. Sie war eine mutige, bewundernswerte Patientin, und Sie wissen es, wie ich auch, dass Angst ein schlimmer Feind sein kann, der manche Genesung verhindert. Aber sie hat ja auch einen mutigen Mann«, und als Puck ihn draußen schwanzwedelnd begrüßte, fügte er lachend hinzu: »Und auch einen mutigen Hund.«
Er drückte Dr. Norden freundschaftlich die Hand. »Und wie froh könnten wir erst sein, wenn alles so gut ausgehen würde.«