Читать книгу Dr. Norden Bestseller Paket 5 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 6
ОглавлениеMit flammenden Augen sah Sabine Petersen ihren Vater an. »Und ich sage dir nochmals, dass ich nicht mitfahre, wenn du diese blöde Ziege mitnimmst!«, stieß sie wütend hervor.
Dr. Helmut Petersen war blass geworden. »Mäßige dich, Sabine«, sagte er streng, aber doch bemüht, sie nicht noch mehr zu reizen. Sabine war fünfzehn und anscheinend in einer schwierigen Entwicklungsphase, doch bisher hatte Helmut Petersen nicht einsehen wollen, dass diese eingesetzt hatte, als Irene Matthei zum ersten Mal in sein Haus gekommen war.
Bisher hatte Sabine auch nur stummen Widerstand geleistet, Irene einfach ignoriert, und er hatte gehofft, dass sie zugänglicher werden würde, aber dieser Ausbruch besagte das Gegenteil.
»Wir werden uns mal ganz ernsthaft und auch in aller Ruhe unterhalten«, sagte er nun. »Ich muss jetzt weg.«
Sabine kniff die Augen zusammen. »Eil nur, eil nur«, höhnte sie, »wenn sie pfeift, musst du springen.«
»Ich habe eine wichtige Besprechung«, entgegnete er unwillig, und er ärgerte sich wegen dieser Rechtfertigung. Aber Sabine war sein einziges Kind, und er liebte seine Tochter. Bis vor einigen Monaten hatten sie sich ja auch prächtig verstanden, eben bis zu dem Tag, als die attraktive Irene Matthei in sein Leben getreten war.
Sabine blickte ihrem Vater grimmig nach, aber als sein Wagen davongefahren war, kamen ihr die Tränen.
Wenig später läutete es, Finni, die Haushälterin, kam aus der Küche.
»Lass nur, Finni, ich mache schon auf«, sagte Sabine. »Es wird Thomas sein. Er wollte mich zum Tennis abholen.«
Vor sich hin murmelnd ging Finni wieder in die Küche zurück. Es passte ihr nicht, dass der Thomas jetzt so oft kam. Er war siebzehn und ein rechter Bruder Leichtfuß. Es passte ihr erst recht nicht, dass Sabine sich zu ihm aufs Mofa schwang, und überhaupt hatte Finni in letzter Zeit so manches in diesem Haus auszusetzen, in dem sie nun bereits seit zwölf Jahren für Sabine und Herrn Petersen Ordnung sorgte.
Aber nun konnte sie erleichtert sein, denn es war nicht Thomas, der geläutet hatte, sondern Dr. Rolf Petersen, Helmut Petersens jüngerer Bruder, und er wurde von Sabine freudig begrüßt.
»Wo kommst du denn her, Rölfchen?«, fragte das Mädchen. Den Onkel hatte sie sich immer geschenkt, und der Kosename, mit dem sie ihn bedachte, verriet, wie gern sie ihn hatte.
»Von der Behnisch-Klinik, Binni«, erwiderte er. »Ich habe einen Patienten hingebracht.«
»Höchstpersönlich?«, staunte sie.
»Es pressierte.« Rolf sagte nicht, dass es sich um eine Patientin handelte, die ihm höchstpersönlich sehr am Herzen lag.
Er wusste sehr gut, wie aggressiv Sabine neuerdings auf Damenbekanntschaft in der engen Verwandtschaft reagierte.
»Ist Helmut nicht da?«, fragte er.
»Nein, er enteilte zu seiner Kichererbse«, erwiderte sie spöttisch.
»Wieso Kichererbse?«, fragte Rolf verblüfft.
»Hast du sie noch nicht kichern gehört? Allein diese Stimme macht mich rasend. Da stehen einem doch die Haare zu Berge, aber Paps scheint nicht nur blind zu sein sondern auch taub.«
»Nun übertreib mal nicht, Binni. Sie ist doch sehr attraktiv.«
»Oh, ihr Männer«, sagte sie verächtlich, »sie kann nicht mal richtig lachen, sonst fällt ihr die Schminke in Stücken herunter.«
Er musste lachen. »Du bist eine Ulknudel, Binni«, sagte er.
»Mir ist aber gar nicht ulkig, Rölfchen. Wenn Paps sie heiratet, haue ich ab. Und nach Griechenland fahre ich bestimmt nicht mit, wenn sie dabei ist.«
»Und wo willst du die Ferien verbringen?«
»Vielleicht bei dir?«, fragte sie stockend.
»Binni, das geht nicht! Ich bin doch beruflich eingespannt bis zum Gehtnichtmehr.«
»Ich kann dir doch in der Praxis helfen«, sagte sie störrisch.
»Das wären schöne Ferien. Lass uns mal in Ruhe darüber reden. Ich werde auch mit meinem Bruder darüber sprechen.«
»Liebe Güte, der ist doch von seiner Irene so chloroformiert, dass sein ganzer Verstand im Eimer ist.«
Er überlegte kurz. Dann blickte er auf seine Armbanduhr. »Wie wär’s, wenn wir schick zum Essen gehen? Ich muss nachher sowieso noch mal in die Klinik, und morgen habe ich keine Sprechstunde. Eigentlich wollte ich fragen, ob ihr ein Bett für mich habt.«
»Spaßvogel, das weißt du doch!«
»Gut, dann gehen Ulknudel und Spaßvogel essen«, scherzte sie. Sabine himmelte ihn an. »Schade, dass du mein Onkel bist. Dich würde ich auf der Stelle heiraten«, seufzte sie.
»Damit lass dir mal noch ein paar Jährchen Zeit, Binni, und denk auch dran, dass ich nicht mehr der Jüngste bin.«
Finchen war zufrieden, als sie gingen, obgleich sie auch ein Essen hätte anbieten können, aber sie hoffte, dass Rolf dem Mädchen mal ordentlich ins Gewissen reden würde, aber auch seinem Bruder, denn mit Irene Matthei hatte auch sie nichts im Sinn. Sie begriff auch nicht, dass so ein gescheiter Mann, der noch dazu Rechtsanwalt war, auf so ein Getue hereinfallen konnte.
*
Rolf hatte die richtige Art, mit seiner Nichte umzugehen. Er behandelte sie nicht als kleines Mädchen, sondern gab ihr das Gefühl, ernst genommen zu werden, und er nahm sie auch ernst.
»Wie wird denn heuer das Zeugnis, junge Dame?«, fragte er beiläufig.
»Bestimmt gut«, erwiderte sie
»Oh, là, là, das hört man gern. Das Zwischenzeugnis war ja nicht gerade erfreulich.«
»Weiß ich, aber das lag auch am Lehrer.«
»Habt ihr jetzt einen andern?«, erkundigte er sich.
»Eine Lehrerin, Becker heißt sie. Eine dufte Frau. Ja, wenn Paps so eine daherbringen würde, hätte ich bestimmt nichts dagegen, aber diese aufgetakelte Ziege kann ich nicht ausstehen.«
»Also eine ganz persönliche Aversion, keine generelle«, bemerkte er nachdenklich.
»Ich habe mich immer so prima mit Paps verstanden, und jetzt geht nichts mehr«, sagte Sabine bekümmert. Dann blickte sie auf. »Warum hast du eigentlich nie geheiratet, Rölfchen?«
»Ich habe bis jetzt noch nicht die Richtige gefunden«, erwiderte er. »Als Arzt braucht man ja auch eine Frau, die Verständnis hat.«
»Die braucht ein Anwalt auch. Ich glaube, ich werde nie heiraten und lieber Lehrerin werden, damit unverstandene Kinder wenigstens einen Menschen haben, der sie versteht.«
Rolf horchte auf. »Ist deine Lehrerin so eine?«, fragte er beiläufig.
»Ich werde mich natürlich hüten, dieses Monsterweib zu erwähnen«, sagte Sabine, und Rolf staunte nun doch, mit welchen Ausdrücken sie Irene belegte, »aber Frau Becker weiß, dass ich keine Mutter mehr habe, und sie hat mir deshalb auch geholfen, dass ich nachhole, was ich versäumt habe.«
»Du bist doch ein intelligentes Mädchen, Binni«, sagte Rolf, »warum hattest du plötzlich so nachgelassen?«
»Das hab’ ich doch schon gesagt. Dieser dämliche Lehrer hat dauernd an mir rumgenörgelt, und dann kam auch noch dieses Weib ins Haus. Ich war schon immer ganz kribbelig, wenn ich nur ihre Stimme am Telefon hörte, aber als ich sie sah, kam mir die Galle rauf. Seitdem habe ich auch abgenommen. Was sagt der Arzt dazu?«, fragte sie anzüglich.
»Dass du ein paar Pfund mehr haben könntest, und ich hoffe, dass du wenigstens jetzt richtig isst.«
Das tat sie dann auch und fragte ihn, ob sie mit zur Klinik fahren und dort auf ihn warten dürfe.
»Es wird aber ziemlich lange dauern«, meinte er.
»Das macht nichts. Ich kenne mich da ja aus, seit ich dort vom Blinddarm befreit wurde. Meine Güte, wie Paps sich da aufgeregt hat. Da hat er an meinem Bett gesessen und war immer für mich da. Jetzt könnte ich halbtot sein, und er würde dennoch bei seiner Irene hocken.«
»Das darfst du nicht sagen, Binni. Steiger dich bloß nicht in solche Vorstellungen hinein. Helmut hat dich sehr lieb.«
»Dann soll er es mir beweisen und das Weib zum Teufel jagen«, sagte Sabine aggressiv.
Ich muss mit Helmut reden, bevor das zu Komplexen führt, dachte Rolf, aber als sie nun in der Behnisch-Klinik waren, galt seine Sorge Annabel Buchner.
Sabine setzte sich brav in den Warteraum, aber dort hielt sie es keine fünf Minuten aus, dann marschierte sie los, und sie traf auch sogleich die Nachtschwester Hilde.
»Jesses, Sabine, was machst du denn hier?«, rief sie erschrocken aus. »Fehlt dir was?«
»Nö, mein Onkel besucht einen Patienten. Ich warte auf ihn. Wie geht es denn so?«
»Viel Arbeit, wie immer. Du bist dünn geworden, schaust ja wie ein Bub aus. Und die kurzen Haare! Du hattest doch so schöne Locken.«
»Sie haben mich gestört«, sagte Sabine trotzig.
»Das Trotzalter geht auch vorbei«, sagte Schwester Hilde nachsichtig.
Da kam Dr. Jenny Behnisch. »Hallo, Sabine«, sagte sie lässig, »willst du nicht lieber heimfahren? Dein Onkel bleibt noch einige Zeit. Ich bestelle dir mal ein Taxi.«
»Worum handelt es sich denn eigentlich?«, fragte Sabine besorgt. »Ich kann doch warten. Mich vermisst doch niemand.«
»Du musst doch morgen in die Schule«, sagte Jenny.
»So klein bin ich auch nicht mehr, dass ich um neun Uhr schlafen muss«, erwiderte Sabine. »Ich sehe Rolf so selten.«
»Na, dann setz dich zu mir. Trinken wir einen Tee. Ich muss munter bleiben. Wir haben ein paar schwere Fälle.«
Rolf sprach noch mit Dr. Behnisch. »Es ist keine Hirnhautentzündung«, hatte der das Gespräch eingeleitet, »aber Vorsicht ist besser als Nachsicht, da ja nun schon einige Fälle bekanntgeworden sind. Und in diesem Fall war die Vorsicht wohl besonders gut. Diese Verdickung am Haaransatz hat sich als Tumor herausgestellt.«
Rolf wurde blass. »O Gott!«, murmelte er.
»Nur keine Panik. Frau Buchner ist schon davon befreit, es ward ihm keine Chance gegeben, sich auszubreiten. Wir müssen den histologischen Befund noch abwarten, aber ich bin überzeugt, dass er nicht bösartig war, nur so böse, auf einen Nerv zu drücken. Es war gut, dass Sie mich auf diese Verdickung aufmerksam gemacht haben, lieber Kollege Petersen. Wenn Ärzte immer so gut zusammenarbeiten würden, bliebe mancher Kummer erspart, und es würde nicht kostbare Zeit vergeudet.«
»Und ich muss gestehen, dass ich erst durch einen Bericht über einen Fall so aufmerksam wurde, der tragisch ausging.«
»Das Kind, das man aus der Klinik heimschickte, weil man keinen Tumor feststellte und Diagnose Grippe stellte«, sagte Dr. Behnisch. »Nun, man kann den Kollegen Nachlässigkeit vorwerfen, aber ob das Kind noch zu retten gewesen wäre, kann ich nach den vagen Berichten nicht beurteilen. Aber Ihnen kann ich sagen, dass Frau Buchner bestimmt geholfen wurde. Morgen werden wir den Befund haben.«
»Und was sagt das EEG?«, fragte Rolf.
»Die Gehirnströme sind normal, der physische Zustand der Patientin ist als recht gut zu beurteilen, psychisch war sie wohl ein wenig überfordert?«
»Diese Kopfschmerzen haben ihr Angst gemacht, da sie immer heftiger wurden. Sie hat viel durchgemacht. Sie hat fünf Jahre ihre gelähmte Mutter gepflegt, die ich behandelt habe. Dann waren sie auch finanziell ziemlich am Ende, weil Annabel ihrem Beruf nicht mehr nachgehen konnte, aber ihre Mutter auch nicht in ein Pflegeheim geben wollte. Vor drei Monaten starb Frau Buchner, aber da Annabel dann nicht gleich eine Stellung fand und auch recht am Ende war, half sie mir in der Praxis.«
»Es wird ihr bald bessergehen«, sagte Dr. Behnisch aufmunternd.
Als Rolf das Krankenzimmer betrat, wurde gerade der Tropf entfernt. Schwester Hilde tat das gewissenhaft.
»Ihre Nichte wartet immer noch, Herr Doktor«, sagte sie. »Sie sitzt jetzt bei der Frau Doktor.«
Und während Rolf nun Annabel beobachtete, versuchte Dr. Jenny Behnisch, mit Sabine klarzukommen. Auch sie hatte schon den Eindruck gewonnen, dass die Konflikte in dem Mädchen tiefer saßen, als sie zuerst angenommen hatte. Allerdings äußerte sich Sabine Jenny Behnisch gegenüber nicht so drastisch über Irene, wie sie es zu Rolf getan hatte. Sie sagte nur, dass ihr Vater eine Freundin hätte, die sie nicht möge.
Jenny kannte solche Probleme, und sie konnte nicht beurteilen, ob Sabines Abneigung auch tatsächlich begründet war. Töchter hingen nun mal an ihren Vätern, noch dazu, wenn sie einige Jahre mit ihnen allein gelebt hatten und auf sie fixiert waren. Und Jenny wusste auch, wie liebevoll Helmut Petersen mit seiner Tochter war.
»Vielleicht ist sie netter, als du meinst, Sabine«, sagte sie behutsam. »Man hegt manchmal Vorurteile, die unbegründet sind.«
»Die sind aber nicht unbegründet. Sie müssten diese Schlange mal kennenlernen, Frau Dr. Behnisch. Paps ist doch sonst so gescheit, aber da hat er sich richtig einfangen lassen. Ja, raffiniert muss sie schon sein bei aller Blödheit.« So war sie herausgeplatzt, und Jenny wurde nun doch sehr nachdenklich. Sabine war kein romantisches Mädchen. Sie hatte einen klarer Blick. Sie war auch keine Halbstarke, wie man solche Mädchen, die eine Lippe riskierten, gern bezeichnete. Und nun sagte Sabine etwas, was sie erschrecken ließ.
»Ich kann ja nichts dafür, dass ich ohne Mutter aufgewachsen bin, aber schließlich hätte Paps daraus doch was lernen müssen, denn schließlich hatte sie den Unfall selbst verschuldet, bei dem sie starb.«
»Woher weißt du das?«, fragte Jenny erschrocken.
»Thomas hat es mir erzählt. Ich spiele mit ihm Tennis. Thomas Gross, Sie kennen ihn. Er war hier, als er einen Schienbeinbruch hatte.«
»Und woher bezieht er die Weisheit?«, fragte Jenny.
»Von seiner Großmutter. Die ist bei dem Unfall nämlich auch leicht verletzt worden. Thomas ist das egal. Er sagt sowieso, dass seine Großmutter eine Klatschbase ist und er kümmert sich nicht um Gerede.«
»Er erzählt es weiter, Sabine, ausgerechnet dir, findest du das fair?«
»Wenn es doch wahr ist«, sagte Sabine trotzig. »Ich habe es nachgelesen. Paps hat das bestimmt schwer geschlaucht, aber nun hat er sich wieder eine angelacht, die kein Verantwortungsbewusstsein hat.«
»Du kannst doch nicht sagen, dass deine Mutter keines hatte«, sagte Jenny vorwurfsvoll.
»Finden Sie es verantwortungsvoll, wenn eine Mutter ihr kleines Kind allein lässt, an der Riviera herumkurvt und auf der Rückfahrt übermüdet auf einen Lastwagen rast? Aber so was macht nachdenklich und reif, Frau Dr. Behnisch. Frau Becker versteht das auch.«
»Wer ist Frau Becker?«
»Meine Lehrerin. Dr. Annette Becker, aber sie legt keinen Wert auf den Titel.«
»Ich auch nicht, Sabine«, sagte Jenny.
»So war es nicht gemeint. Bei einer Lehrerin ist das doch was anderes. Mit der ist man jeden Tag zusammen.«
»Und du magst sie«, sagte Jenny.
»Ja, sehr. Jetzt macht mir die Schule sogar wieder Spaß, aber wenn Paps diese Frau heiratet, will ich trotzdem weg.«
»Nun mal langsam mit den jungen Pferden, Sabine. Dein Vater ist noch kein alter Herr, da ist doch mal ein Flirt erlaubt.«
»Hab’ ja nichts dagegen, wenn es eine nette Frau wäre. Niemand kann mich verstehen. Ich sehe doch das gierige Glitzern in ihren Augen, wenn sie sich bei uns umschaut. Und ich habe auch schon in ihre Boutique geschaut, wenn sie nicht da war. Der Laden geht doch nicht. Sie braucht einen Mann, der sie finanziert. Ich habe das längst durchschaut, aber Paps denkt, ich sei nur eifersüchtig.«
»Ich würde an deiner Stelle ganz ernsthaft mit deinem Vater reden, Sabine«, sagte Jenny.
»Darüber kann man mit ihm doch nicht ernsthaft reden.«
Jenny wurde weggerufen. Es tat ihr leid in diesem Augenblick. Sabine blieb auch nicht geduldig sitzen. Sie wanderte wieder herum, und dann kam Rolf. Er war blass.
»Jetzt fahren wir aber heim«, sagte er rau.
»Geht es deinem Patienten nicht gut?«, erkundigte sich Sabine.
»Den Umständen entsprechend nach schon«, erwiderte Rolf, »aber es ist eine Patientin, eine noch junge Frau, die bisher schon sehr viel mitgemacht hat.«
»Was?«, fragte Sabine.
»Ihr Vater ist früh gestorben. Sie hatte eine sehr gute Stellung, aber dann bekam ihre Mutter vor Jahren einen Schlaganfall und war gelähmt. Sie hat diese Mutter über Jahre versorgt, und da sie nicht mehr arbeiten konnte, wurde auch das Geld immer knapper. Solche Sorgen hast du nicht, Binni, und du solltest dankbar sein.«
»Warum sagst du das? Sollte ich froh sein, dass meine Mutter keinen Schlaganfall mehr bekommen konnte, weil sie sich umgebracht hat?«
Rolf starrte sie bestürzt an. »Wie kannst du so reden«, murmelte er.
»Stimmt es etwa nicht? Ihr braucht mich doch nicht ein Leben lang für dumm verkaufen. Was nützt es mir, dass sie die große Tat vollbrachte, mich in die Welt zu setzen.«
»Jetzt ist es aber genug, Binni. Für heute ist Schluss mit diesem Thema. Morgen rede ich mit meinem Bruder.«
»Wenn er dazu Zeit hat«, sagte sie aufsässig.
»Er wird sie sich nehmen müssen«, sagte Rolf grimmig.
*
Helmut war schon da, als sie kamen. Er runzelte die Stirn.
»Ihr wart aber lange aus«, sagte er.
»Wir waren noch in der Klinik. Ich hatte dort zu tun«, erwiderte Rolf.
»Wir konnten ja auch nicht ahnen, dass du mal früh zu Hause bist«, sagte Sabine giftig. »Aber ich geh’ schon zu Bett. Ich muss ja in die Schule. Und du wirst es nicht glauben, Paps, aber da bin ich jetzt am allerliebsten. Gute Nacht.« Sie ging zur Tür. »Gute Nacht, Rölfchen, danke für das gute Essen«, sagte sie noch.
»Ich werde aus ihr nicht mehr klug«, stöhnte Helmut.
»Vielleicht deshalb, weil du anderweitig zu sehr engagiert bist«, meinte der Jüngere anzüglich.
»Herrgott, es ist doch nicht so, dass ich mich gleich Hals über Kopf in eine Ehe stürzen will. Davon kann noch gar nicht die Rede sein. Mir ist Sabine immer noch wichtiger.«
»Tatsächlich, großer Bruder? Aber sie ist von einer Abneigung ohnegleichen gegen diese Frau geradezu besessen.«
»Vielleicht deshalb, weil Irene mal gesagt hat, dass sie nicht immer in Jeans herumlaufen soll. Und was war das Ergebnis? Gleich hat Sabine sich einen Stiftenkopf schneiden lassen. Da war ich auch entsetzt.«
»Ich finde, dass er ihr gar nicht schlecht steht.«
Helmut starrte Rolf an. »Jetzt sind die Haare ja auch schon wieder gewachsen, aber es kommt ja nicht auf die Haare an. Sie giftet mich auch an.«
»Aus Angst, dich zu verlieren, Helmut. Sieh es doch mal so.«
»Irene ist wirklich zu allen Zugeständnissen bereit. Sie hat gemeint, dass ein längerer Urlaub doch Gelegenheit geben würde, sich mit Sabine anzufreunden. Als ich ihr heute sagte, dass Sabine strikt dagegen ist, war sie sehr enttäuscht.«
»Dann fährst du allein mit deiner Irene. Ich bringe Sabine schon irgendwo unter.«
»Das kommt nicht infrage«, sagte Helmut. »Ich habe immer in den Sommerferien drei Wochen mit Sabine verbracht, und dabei bleibt es.«
»Dann sag es ihr.«
»Du erfasst das nicht, Rolf. Sie würde triumphieren. Aber ich kann mich doch nicht ein Leben lang nach den Launen meiner Tochter richten. Eines Tages, und schon bald, ist sie erwachsen. Dann trifft sie einen Mann, der ihr gefällt und geht mit ihm auf und davon. Und ich schaue dumm aus der Wäsche.«
»Muss es denn ausgerechnet Irene sein?«, fragte Rolf nachdenklich.
»Ich bin doch nicht so töricht, mich Hals über Kopf an die Kette legen zu lassen, aber darüber kann ich doch nicht mit Sabine sprechen.«
»Warum nicht?«
»Sie ist noch ein Kind.«
»Du bist töricht«, sagte Rolf. »Du kannst ihr doch nicht mehr weismachen, dass du mit Irene nur mal Essen gehst oder ins Theater, und dass sie nur mit in den Urlaub fährt, um freundschaftliche Beziehungen zu Sabine aufzunehmen. Die Mädchen von heute, auch wenn sie erst fünfzehn sind, sind weiter als die Mütter von gestern, als diese ihr Ja sagten, bis dass der Tod sie scheide, aber so lange hat es auch bei denen nicht immer gehalten. Red doch mal mit ihrer Lehrerin. Zu der hat Binni anscheinend doch volles Vertrauen.«
»Darüber redet sie mit mir aber nicht«, sagte Helmut gereizt. »Das wird wohl so eine ewige Jungfrau sein, die ihr Wohlwollen an mutterlose Kinder verschwendet.«
»Und wenn es so wäre, fände ich auch das anerkennenswert«, sagte Rolf.
»Jedenfalls besser, als wenn eine extravagante Frau ein kritisches Mädchen allein mit ihrem Kichern erschreckt, von allem andern abgesehen. Vielleicht brauchst du eine Brille und auch noch ein Hörgerät, um deine Tochter zu verstehen, Helmut.«
Helmut starrte ihn an, drehte sich um und verließ wortlos den Raum.
Rolf ging langsam hinaus. Da stand Sabine schon an der Treppe.
»Dein Bett ist schon gemacht, Rölfchen«, flüsterte sie. »Hast du ihm Zunder gegeben?«
»Eine kalte Dusche, Kleine, aber die hat anscheinend nicht gewirkt.«
»Dann muss man ihn eben seinem Schicksal überlassen«, sagte Sabine. »Wenn sie ihn richtig ausgenommen hat, wird er es schon merken.«
Sie ahnte nicht, dass ihr Vater diese Worte hörte und ein Frösteln durch seinen Körper lief, denn gerade an diesem Tag hatte er Irene dreißigtausend Euro gegeben. Als Darlehen, wie sie betont hatte und gegen alle Sicherheiten. Aber dann hörte er auch noch, wie sein Bruder sagte: »Er ist doch Anwalt, Binni, er lässt sich nicht aufs Kreuz legen.«
Als er am nächsten Morgen am Frühstückstisch erschien, war Sabine schon in der Schule. Er war erst gegen Morgen eingeschlafen und fühlte sich wie zerschlagen.
»Ist mein Bruder geblieben, Finchen?«, fragte er.
»Ja, aber er hat Sabine zur Schule gebracht und ist dann gleich in die Behnisch-Klinik gefahren.«
»Wann kommt er zurück?«, fragte Helmut.
»Hat er nicht gesagt. Nur, dass Sie auf ihn keine Rücksicht nehmen müssen, wenn Sie was anderes vorhaben.«
Er hatte Irene um elf Uhr abholen wollen, aber da er nun schon auf den Beinen war, fasste er den Entschluss, gleich zu ihr zu fahren, um einmal ernsthaft mit ihr über seine Probleme zu reden; die ihm jetzt doch deutlicher geworden waren, obgleich er Sabines Aggressionen nicht akzeptierte.
Zehn Minuten nach zehn Uhr läutete er bereits an Irenes Wohnungstür. Erst nach dem dritten Läuten vernahm er Schritte und unwilliges Gemurmel. Dann ging die Tür einen Spalt auf, und er blickte in ein Gesicht, das ihm völlig fremd erschien.
»Du«, sagte Irene erschrocken, »wieso so früh? Ich bin gerade im Bad.«
»Dann bade weiter. Ich warte«, sagte er gereizt. »Ich muss mit dir sprechen. Ich kann nicht den ganzen Tag weg. Mein Bruder ist gekommen.«
Er blickte in ein nacktes Gesicht. Sie wandte sich schnell ab. »Ich bin gerade erst aufgestanden. Ich hatte eine schlechte Nacht.«
»Ich auch«, sagte er. »Lass dich nicht aufhalten.«
»Ich habe noch nicht aufgeräumt«, murmelte sie.«
»Macht nichts.«
Er betrat das Wohnzimmer, das verraucht war. Gläser standen auf dem Tisch. Eine angebrochene Whiskyflasche, zwei leere Weinflaschen standen am Boden.
»Ich habe gestern Abend noch überraschenden Besuch bekommen«, sagte sie von der Tür her. »Ich erzähle dir nachher davon.«
Als sie im Bad verschwunden war, riss er die Fenster auf. Bisher hatte es immer anders ausgeschaut hier, wenn er gekommen war, aber da hatte Irene auch gewusst, wann er kommen würde, die zwei vollen Aschenbecher. Auch ausgedrückte Zigarren lagen darin. Er ging in die Küche, um sie auszuschütten, aber da sah er noch ein halbes Dutzend leerer Flaschen herumstehen.
Plötzlich hatte er das beklemmende Gefühl, dass seine fünfzehnjährige Tochter klüger wäre als er. Das bekam seinem Selbstgefühl nicht gut.
Er ging zum Bad und öffnete die Tür nur einen Spalt.
»Scheint ja eine bewegte Nacht gewesen zu sein« sagte er sarkastisch. »Schlaf dich aus. Ich gehe wieder.«
»Sei doch nicht beleidigt, Helmut. Ich bin ja bald fertig. Meine Güte, wegen ein paar alten Bekannten brauchst du doch nicht gleich eingeschnappt zu sein.«
»Ich bin nicht eingeschnappt. Du bist frei und ungebunden und kannst machen, was du willst.«
Und schon ging er. Da sie noch in der Badewanne saß, konnte sie ihm nicht folgen. Sie war wütend, aber doch überzeugt, dass sich das schnell wieder in Ordnung bringen ließe. Auf keinen Fall wollte sie es mit ihm verderben.
*
Sabine war nach der Schule zum Reisebüro gegangen. Sie blätterte in den Prospekten und überlegte dabei, wie viel Geld sie wohl im Sparschwein hätte, weil ihr alles schrecklich teuer vorkam. Da vernahm sie eine vertraute Stimme: »Hallo, Sabine, was machst du denn hier?«
Ihre Lehrerin Annette Becker stand neben ihr. Sabine wurde verlegen.
»Ich hole Prospekte für meinen Vater«, erwiderte sie hastig.
»Sagtest du nicht, dass ihr nach Griechenland fahren wollt?«
»Das steht jetzt doch noch nicht fest«, erwiderte Sabine. »Ich würde ja auch am liebsten in die Berge fahren. Dürfte ich Sie mal besuchen, wenn es bei uns nicht klappt?«
Annette war überrascht, aber sie wollte diese Bitte nicht überbewerten.
»Mit dem Radl wäre es ein bissel zu weit«, sagte sie.
»Vielleicht macht Onkel Rolf mal einen Ausflug mit mir.« Diesmal vergaß sie nicht »Onkel« zu sagen, denn Annette sollte ja nichts Falsches denken. »Darf ich Ihnen wenigstens mal schreiben?«
Annette wurde sehr nachdenklich, und ein tiefes Mitgefühl mit diesem Mädchen erwachte in ihr, das sie aus mehreren Gründen sehr gern hatte, ohne dies Sabine jedoch zu deutlich zu zeigen. Sie wusste, dass eine persönliche Beziehung zwischen Lehrern und Schülern leicht missverstanden werden konnte, aber andererseits hatte ein guter Lehrer auch die Pflicht, auf die psychische Verfassung eines Kindes einzugehen.
»Was machst du dir denn für Sorgen?«, fragte sie. »Um die Noten doch nicht etwa? Darüber kann sich dein Vater doch freuen.«
»Er hat mir die ganze Freude an den Ferien verdorben«, platzte Sabine heraus.
»Aber warum denn?«, fragte Annette etwas erschrocken.
»Das kann man nicht mit ein paar Worten sagen.«
Annette überlegte schnell. »Wenn du Lust und Zeit hast, kannst du ja mit zu mir kommen«, schlug sie vor.
Sabines Augen leuchteten auf. »Darf ich?«, fragte sie hastig.
»Da können wir uns besser unterhalten. Komm.«
Annette hatte ihren Wagen nicht weit entfernt geparkt. Aber die Fahrt zu ihrer Wohnung dauerte doch fast eine Viertelstunde.
»Bekommst du auch keinen Ärger, wenn du später kommst?«, erkundigte sich Annette.
»Ist doch niemand da«, erwiderte das Mädchen.
»Bist du sehr viel allein?«
»Meistens. Natürlich ist Finchen da, unsere Haushälterin, aber sie hat ja nur Interesse fürs Putzen und Kochen, und mit ihr kann man sich nicht unterhalten. Und mein Vater ist in letzter Zeit abends auch sehr selten zu Hause«, stieß sie trotzig hervor. »Daran ist dieses Weib schuld, dieses gräßliche Weib.«
Das ist also das Problem, dachte Annette. Eifersucht! Aber sie sollte bald merken, dass es nicht nur Eifersucht war, sondern eine wilde Abneigung, die man auch als Hass bezeichnen konnte.
Sie hatte vor einem kleinen rosenumrankten Haus gehalten, das in einem blühenden Garten stand.
»Oh, ist das hübsch«, rief Sabine aus. »Wunderschön!«
»Es gehörte meinen Großeltern. Ich war schon als Kind gern hier. Und deshalb bin ich dann auch in München seßhaft geworden.«
»Zum Glück für mich«, sagte Sabine andächtig.
»Wieso das?«
»Sonst wäre ich bestimmt immer eine schlechte Schülerin geblieben.«
»Jetzt hör aber damit auf. Du warst eine sehr gute Schülerin, bis auf das letzte Zeugnis. Und ich habe mich gefragt, wieso es zu diesem Leistungsabfall in so kurzer Zeit kommen konnte.«
»Ich habe es ja schon angedeutet«, erwiderte Sabine leise. »Das Verhältnis zu meinem Vater hat sich verschlechtert. Mir war alles egal.«
»Wegen einer Frau«, sagte Annette nachdenklich.
»So eine Kampfhenne«, echauffierte sich Sabine. Ihr Repertoire an Ausdrücken für Irene war schier unerschöpflich.
»Lassen wir jetzt mal die Aggressionen, Sabine«, sagte Annette ruhig. »Traust du deinem Vater keine Menschenkenntnis zu?«
»In diesem Fall wirklich nicht, Frau Becker. Und das wurmt mich. Er ist so gescheit, so erfolgreich, er hat so viel Durchblick, und von so einer lässt er sich umgarnen. Sie ist so falsch, wie die Nacht finster ist.«
»Und du bist überzeugt, dass du mit dieser Charakteristik recht hast.«
»Ja, vollkommen überzeugt. Und wenn Paps auch so misstrauisch wäre wie ich, dann hätte er schon längst herausgebracht, dass sie ihm was vorgaukelt. Die hat doch noch mehr Männer an der Angel.«
»Meinst du nicht, dass du dir manches einredest, weil du sie nicht leiden kannst, Sabine?«, fragte Annette behutsam.
»Sie würden mir bestimmt recht geben, wenn Sie sie kennen würden. Sie haben mehr Durchblick als so ein chloroformierter Mann. Gehen Sie doch mal in ihre Boutique. Irenes Ladyshop heißt sie. Sprechen Sie doch mal englisch mit ihr, Sie können es doch perfekt, dann lachen Sie sich eckig, was sie quasselt. Ich dachte doch, dass Paps bald dahinterkommen würde, aber weiß der Himmel, was sie an sich hat, dass er festklebt. Und nun soll sie auch noch mit nach Griechenland fahren, damit wir uns besser kennenlernen. Aber ich habe Paps schon die Meinung gesagt, klipp und klar.«
Annette hatte Sabine wegen ihrer umwerfenden Offenheit von Anfang an gemocht. Aber sie hielt sich sowieso von den Cliquen zurück, die zu mancherlei Skepsis und Sorge Anlass gaben.
»Was hat dein Vater erwidert?«, fragte Annette.
»Er war geschockt«, gab Sabine offen zu.
»Möchtest du ein Glas Milch zur Beruhigung?«, fragte Annette freundlich. »Versteh bitte, dass ich keine Stellung beziehen kann, ohne die anderen Beteiligten zu kennen.«
»Ich bin schon froh, dass ich mit Ihnen sprechen konnte.«
Annette brachte Milch und einen Hefezopf.
»Ich werde dir jetzt noch zeigen, wo ich die Ferien verbringe, und wenn du wirklich mal einen Ausflug dorthin machen kannst, freue ich mich, wenn du mich besuchst.«
Wieder strahlte Sabine sie an. »Ich weiß nicht, warum ich Sie so mag. Eigentlich hatte ich nie was übrig für Lehrer«, erklärte sie, »aber Sie sind einfach dufte. Und eigentlich sind Sie viel zu hübsch für eine Lehrerin, die sich mit Halbstarken herumplagen muss.«
»Oh, ich komme gut zurecht, und ich finde, dass die meisten doch recht handsam sind. Ich habe nicht vergessen, dass ich auch mal jung war, Sabine, und so manchen Streich haben auch wir unseren Lehrern gespielt.«
»Sie sind aber doch noch jung«, protestierte Sabine.
»Keine Komplimente, Sabine«, konterte Annette. »Ich bin siebenunddreißig Jahre.«
»Und sehen zehn Jahre jünger aus, das darf man doch sagen.«
Annette hatte Sabine nicht ganz nach Hause gebracht, aber so weit, dass sie nur noch zwei Minuten gehen musste.
Aber Helmut hielt schon Ausschau nach ihr. Er war blass und nervös.
»Wo bleibst du denn so lange?«, fragte er gereizt. »Wir warten mit dem Essen.«
»Müsste doch nicht sein«, sagte sie trotzig. »Ich konnte ja nicht wissen, dass du zu Hause bist. Warum regst du dich denn so auf?«
»Na, nach deinen dummen Reden in der letzten Zeit, muss man sich ja Sorgen machen, dass du mir eins auswischen willst.«
Er nahm auch kein Blatt vor den Mund. In Sabines Augen blitzte es auf. Er hat Angst, dass ich durchbrennen könnte, ging es ihr blitzschnell durch den Sinn, das muss ich mir merken.
»Ist Rolf auch nicht da?«, fragte sie.
»Du sollst nicht ablenken«, forderte Helmut.
»Soll ich noch mal das Gleiche sagen wie neulich? Ich ändere meine Meinung nicht so schnell.«
»Aber wir können doch vernünftig miteinander reden, Sabine. Ich akzeptiere begründete Argumente.«
»Dann nimm doch deine Irene mal richtig unter die Lupe, vielleicht geht dir dann doch ein Licht auf«, sagte sie.
So schnell war er nun doch nicht bereit zuzugeben, dass er sich jetzt auch kritische Gedanken machte.
»Gut, das werde ich tun, und wir zwei werden auch allein nach Griechenland fahren. Ist das ein Friedensangebot?«
Sie warf ihm einen schrägen Blick zu. »Und dann kreuzt sie doch da unten auf«, sagte sie bockig. »Dem Frieden trau’ ich nicht.«
»Du solltest Staatsanwältin werden, Sabine«, sagte er trocken. »Du würdest selbst dem Unschuldigsten noch was anhängen.«
»Das stimmt nicht, Paps«, erwiderte sie. »Aber für dumm verkaufen lasse ich mich nicht. Und selbst wenn du zur Vernunft kommst, an der wirst du noch was zu knabbern haben.«
Helmut starrte sie an. »Für eine Fünfzehnjährige bist du verflixt überheblich«, stellte er fest.
»Ich werde bald sechzehn, aber ich nehme zur Kenntnis, dass du jetzt wenigstens kein unbedarftes Kleinkind in mir siehst. Hattest du nicht mit dem Essen gewartet?«
Er war sprachlos. Aber da kam Rolf. »Wie geht es deiner Patientin?«, fragte Sabine.
»Zufriedenstellend.«
»Dann wirst du ja auch Appetit haben«, lächelte sie.
*
In der Behnisch-Klinik hatte auch Annabel Buchner schon eine leichte Mahlzeit zu sich nehmen können, und nach dem langen Besuch von Rolf schmeckte es ihr auch.
Als Dr. Jenny Behnisch kam und sich erkundigte, wie ihr das Essen bekommen sei, sagte sie, dass sie nicht gedacht hätte, so schnell wieder etwas essen zu können.
»Es war ja keine Magenoperation«, meinte Jenny lächelnd.
»Ist es wirklich so, wie Dr. Petersen gesagt hat?«, fragte Annabel stockend. »Ich meine, ist es nichts Bösartiges?«
»Dann wären Sie jetzt nicht so gut beisammen, und wir wären auch nicht so vergnügt«, erwiderte Jenny. »Ein guter Arzt kann viel verhindern, wenn er entschlossen handelt. Noch besser wäre es allerdings, wenn die Patienten so tolerant wären, dem Arzt behilflich zu sein, die Ursache eines Leidens zu finden.«
»Ich wollte doch nicht so herumjammern, wie manche Patienten, die zu Dr. Petersen in die Praxis kamen«, erklärte Annabel. »Sie ahnen vielleicht gar nicht, welches Theater manche um das kleinste Wehwehchen machen.«
»Doch, das weiß ich, aber man sagt ja auch, dass die Leute am ältesten werden, die dauernd beim Arzt sitzen. Das hat auch was für sich. Auch eine unbedeutende Ursache kann manchmal schlimme Folgen haben. Würden Sie mir jetzt sagen, ob Sie mal eine Verletzung am Hinterkopf hatten, Frau Buchner?«
»Ist das wichtig?«
»Für uns ja. Es bringt uns immer einen Schritt weiter. Auch ein gutartiger Tumor entsteht nicht aus dem Stegreif, es sei denn, er sei angeboren als ein Muttermal. Aber gutartige Tumore können bösartig werden. Bei Ihnen ist es glücklicherweise nicht der Fall. Ich zeige Ihnen später den histologischen Befund. Für uns Ärzte ist es von Interesse, viele Kleinigkeiten zusammenzutragen, um herauszufinden, was wodurch entstanden ist.«
»Ja, ich hatte mal eine Verletzung. Es ist etwa zwei Jahre her. Wie Sie vielleicht von Dr. Petersen bereits wissen, war meine Mutter durch einen Schlaganfall gelähmt. Ich musste sie umbetten, und da war sie schon ziemlich schwer. Ich bin ausgerutscht und mit dem Hinterkopf aufgeschlagen. Ich war nur kurz wie betäubt, aber ich konnte meine hilflose Mutter doch nicht allein lassen.«
»Und warum haben Sie das Dr. Petersen nicht gesagt? Er hat Ihre Mutter doch betreut.«
»Er hätte vielleicht gesagt, dass ich nicht die Kraft hätte, Mutter zu pflegen. Er hat das oft angedeutet.«
»Und wohl recht gehabt«, sagte Jenny ruhig. »Und jetzt wird geschlafen.«
»Sie sind alle sehr lieb«, sagte Annabel.
Jenny ging zu ihrem Mann. Nun hatten sie ein bisschen Ruhe für die Mittagsmahlzeit. Aber Jenny dachte über Annabel nach.
»Das zu denken«, murmelte sie.
»Was zu denken?«, fragte Dieter.
»Da macht sich so ein zartes Geschöpf kaputt, um die Mutter zu pflegen, die doch nicht mehr gesund werden kann. Und es hätte sein können, dass sie vorher daran zugrunde gegangen wäre. Dann hätte Frau Buchner ja auch in ein Pflegeheim gebracht werden müssen.«
»Menschliche Bindungen sind nun mal stärker, Jenny«, meinte Dieter, »auch wenn sie über die eigene Kraft hinausgehen. Petersen macht sich die schwersten Vorwürfe, dass er nicht vorher ein Machtwort gesprochen hat.«
»Das hätte doch auch nichts genutzt«, sagte Jenny. Und dann schilderte sie ihm, wie es zu der Verletzung gekommen war, durch die sich dann der Tumor gebildet hatte.
»Ein bisschen höher«, brummte er, »dann wäre es eine verflixt heikle Geschichte geworden.«
*
Rolf hatte ein langes, ernstes Gespräch mit seinem Bruder geführt, das ihn doch ein bisschen beruhigt hatte. Helmut hatte ihm erklärt, dass er gewiss nicht die Absicht gehabt hätte, sich Hals über Kopf in eine zweite Ehe zu stürzen. Und nachdem Sabine sich so aggressiv verhielt, wären ihm große Bedenken gekommen. Aber auch seinem Bruder gegenüber hätte er nicht zugegeben, warum ihm gerade jetzt Bedenken gekommen waren.
Schnell lenkte er dann auch Rolf mit der Frage ab, ob sein Interesse an der Patientin in der Behnisch-Klinik mehr privater als beruflicher Natur sei.
»Annabel Buchner ist ein Mensch, um den es sich lohnt«, erwiderte Rolf zurückhaltend. »Ich habe ihre schwerkranke Mutter behandelt bis zu deren Tode, und so kennen wir uns schon seit Jahren. Allerdings gebe ich gern zu, dass sie die Frau ist, mit der ich gern für immer leben würde.«
»Dann kann Sabine ja gleich doppelt eifersüchtig sein«, bemerkte Helmut ironisch.
»Ich glaube, du verstehst noch immer nicht ganz, dass es Sabine nicht darum geht, dass du keine Frau anschauen sollst, sondern nur darum, dass sie zu dir und auch ins Haus passt.«
Helmut wandte sich ab. »Es mag ja sein, dass Irene nicht der Typ Frau ist, der einer Fünfzehnjährigen gefällt, aber Sabine hat sich auch nicht die geringste Mühe gegeben, sie näher kennenzulernen.«
»Gegen Antipathie kann man nichts machen, Helmut. Bei Männern spielen andere Dinge mit. Natürlich spielt es bei Sabine auch eine Rolle, dass sie den innigen Kontakt zu dir gefährdet sah, und du wirst es nicht leugnen wollen, dass dies auch der Fall war.«
»Von mir aus nicht«, widersprach Helmut heftig.
»Gewollt hast du’s nicht, davon bin ich überzeugt, aber Irene ist doch nicht der Mensch, der für deine Tochter Verständnis aufbringt. Sie ist scharf auf den Mann, auf einen gutbetuchten Mann, der dazu auch noch ganz ansprechend aussieht. Aber der Mann hat auch einen Beruf, der ihn beansprucht, und Sabine hat recht klar erfasst, dass Irene hier im Hause das Regiment führen würde. Und das würde ein schönes Fiasko geben. Sabine ist kein kleines Dummchen und kein Duckmäuser, und schließlich hast du sie zu einem selbstbewussten, aufrichtigen Wesen erzogen. Sei froh, dass sie nicht bestechlich ist. Ihr wird viel erspart bleiben, und leicht wird sie sich eine Entscheidung nie machen. Sie denkt nach, und du solltest auch mal nachdenken.«
»Ich habe dir schon gesagt, dass von Heirat nicht die Rede war, und dass ich die Ferien auch mit Sabine allein verbringen werde.«
»Dann ist es ja soweit okay«, erklärte Rolf gelassen. »Ich wollte mit Binni ein bisschen an den See fahren. Kommst du mit?«
Helmut hatte bereits genickt, aber da läutete es. Sabine erschien. »Dein Gspusi ist da«, sagte sie grimmig. »Komm, Rölfchen, wir räumen das Feld.«
»Ich wollte doch mitkommen«, sagte Helmut rau.
»Und sie hängt sich dran, das tät dir so passen!«, sagte Sabine.
Mit einem zuckersüßen Lächeln streckte Irene Rolf die Hand entgegen.
»Wie nett, Sie auch mal wiederzusehen«, sagte sie mit girrender Stimme und einem koketten Augenaufschlag. Sabine gab hörbar einen Laut des Unwillens von sich.
»Wir wollten gerade wegfahren«, sagte Rolf hastig.
»Wollen wir nicht gemeinsam einen kleinen Ausflug machen?«, tönte Irene.
»Nee, danke«, sagte Sabine unverblümt. Sie erntete dafür einen giftigen Blick.
»Du hättest anrufen können, Irene«, sagte Helmut unwillig.
»Aber nun bin ich persönlich da«, erklärte sie mit einem frivolen Lächeln. »Ich bin nicht gleich beleidigt.«
Rolf und Sabine waren schon draußen. Helmut war gereizt und verärgert. Er wusste nicht, was er sagen sollte, denn einfach vor die Tür setzen konnte er sie auch nicht.
»Wir können ja auch einen kleinen Ausflug machen«, sagte er zögernd, um sich nicht auch noch Finchens Unwillen zuzuziehen. »Wir müssen uns sowieso über einiges klar werden.«
Ihre Augen verengten sich. »Du kannst von mir nicht erwarten, dass ich es mit alten Freunden, mit denen ich zudem noch geschäftlich zu tun habe, verderbe.«
»Ich mache dir keine Vorschriften«, erwiderte er. »Du kannst verkehren, mit wem du willst. Und mir musst du zugestehen, dass meine Tochter für mich an erster Stelle steht.«
»Dieses kleine Biest hat also wieder mal gehetzt«, entfuhr es ihr.
»Sabine sagt ihre Meinung. Sie mag dich nicht, das zeigt sie dir doch auch offen. Und du magst sie auch nicht. Also gibt es keine Gemeinsamkeiten.«
Sie änderte den Ton. »Wir hatten doch so auf den gemeinsamen Urlaub gesetzt, Helmut«, sagte sie sanft. »Mein Gott, mir geht halt auch der Gaul durch, wenn ich von diesem Gör so angeredet werde.«
»Wie immer ihr euch auch gegenseitig bezeichnet«, sagte Helmut heiser, »Sabine ist meine Tochter.«
»Und ich, was bin ich?«
Ja, wie sollte er es bezeichnen? Ihm fehlten die Worte dafür.
»Wir kennen uns immerhin schon fast ein Jahr«, stieß sie hervor.
»Allerdings, aber unsere engeren Beziehungen bestehen erst seit einigen Wochen, und im Grunde lieben wir doch beide unsere Freiheit.«
»Hört, hört!«, höhnte sie. »Aber mir Vorschriften machen wollen, wenn ich mal Besuch bekomme.«
»Keineswegs, ich sage es nochmals. Mich hat die Atmosphäre in deiner Wohnung ernüchtert, das gebe ich zu. Vielleicht bin ich da ein bisschen zu pedantisch, aber ich bin halt anderes gewohnt.«
»Und ich habe nicht erwartet, dass du so früh hereingeplatzt kommst. Das ist ja auch nicht gerade gentlemanlike«, konterte sie.
»Zugegeben, aber was sollen wir uns jetzt gegenseitig Sachen an den Kopf werfen, die augenblicklich für mich nebensächlich sind. Für mich ist es wichtig, das Vertrauen und die Zuneigung meiner Tochter nicht aufs Spiel zu setzen, und deshalb ist es wohl besser, wenn wir uns trennen, Irene.«
Sie griff ihm so abrupt ins Steuer, dass er fast die Gewalt über den Wagen verloren hätte. Es war zum Glück kein Gegenverkehr und auch der folgende Wagen war noch weit entfernt. Er trat auf die Bremse. »Nimm dich zusammen!«, fauchte er. »Wir sind erwachsene Menschen, die offen miteinander reden können.«
»Denkst du, ich lasse mich so einfach abschieben?«, zischte sie. »Deinetwegen habe ich mein Geschäft vernachlässigt, viele gute Verbindungen aufgegeben.«
Er dachte an Sabines Worte, und er erinnerte sich, dass er nicht nur ein Mann, sondern auch Anwalt war.
»Wieso denn das?«, fragte er sarkastisch. »Wir haben uns doch immer nur abends gesehen, und das auch nicht allzu häufig, nicht mal so häufig, wie Sabine denkt. Von deinem Geschäft verstehe ich nichts, und ich habe mich da auch nie eingemischt. Und um es ganz deutlich zu sagen, Irene, von Heirat habe ich auch nicht gesprochen. So schnell geht so was bei mir nicht. Ich habe auch kein Mönchsdasein geführt, seit meine Frau tot ist.«
»Aber wir wollten doch den Urlaub zusammen verbringen«, sagte sie anklagend. »Um eben festzustellen, wie gut wir miteinander auskommen.«
Warum habe ich mir das nur eingebrockt, dachte er jetzt. Und wenn Sabine nicht so aufsässig gewesen wäre, hätte mich Irene vielleicht doch an die Kette gelegt. Er wusste ja, wie betörend sie sein konnte, wenn sie es darauf anlegte.
»Oder auch wie schlecht«, sagte er nun. »Aber wenn man sich um nichts zu kümmern braucht, wenn man in Ferienstimmung ist, nun, im Alltagsleben sieht das alles doch anders aus. In meinem Familienleben soll Ruhe herrschen. Ich bin nicht mehr jung genug, um mich ändern zu können. Es ist doch besser, wenn wir uns freundschaftlich einigen.«
»Ich fühle mich wirklich kompromittiert«, sagte sie heftig.
»Red doch nicht solchen Unsinn. Du hast doch ganz munter gelebt, als wir uns kennenlernten.«
»Und wie haben wir uns kennengelernt? Du hast mich anwaltschaftlich vertreten und ein gutes Honorar dafür bekommen.«
»Und ich habe dir zu einer Erbschaft verholfen, die doch wohl in Frage gestellt war.«
»Die mir rechtmäßig zustand. Was konnte ich dafür, dass mein Großvater meine Mutter enterbt hatte. Mir stand das Erbe genauso zu, wie den Kindern ihrer Geschwister. Diese geldgierige Bande! Aber das steht jetzt wirklich nicht mehr zur Debatte.«
»Für das mir oder besser gesagt der Kanzlei gezahlte Honorar hast du ja schon manchen Ausgleich bekommen«, sagte Helmut nun.
»Jetzt fang du nur noch das Aufrechnen an. Ich habe meine Gefühle investiert, ich wollte deiner Tochter eine Freundin sein. Ich bot ihr an, sich bei mir die hübschesten Kleider auszusuchen, und was war die Reaktion? Sie lief noch schlampiger herum als vorher.«
»Sie läuft nicht schlampig herum«, erregte sich Helmut. »Sie mag eben das Aufgetakelte nicht. Sie braucht ja auch noch keine Schminke und all den Firlefanz.«
Er erschrak ein bisschen. Nun redete er schon fast so wie Sabine. Und damit hatte er Irene nun erst recht in Wut gebracht.
»Da zeigt sich der Spießbürger«, ereiferte sie sich. »Jetzt langt es aber. Bring mich nach Hause.«
Dass er dies sofort und ohne Widerspruch tun würde, damit hatte sie nicht gerechnet.
Eine Weile überlegte sie, dann lenkte sie ein. »Ich denke, wir haben beide heute einen schlechten Tag. Ich hätte doch nicht kommen sollen, Helmut. Wenn Sabine nicht wieder so patzig gewesen wäre, hätte ich mich nicht so gehen lassen. Wir haben uns doch immer so gut verstanden, warum soll das alles so plötzlich aus sein?« Sie schluchzte leise in sich hinein.
»Ich habe doch schon gesagt, dass wir uns in aller Freundschaft einigen können, Irene«, sagte Helmut stockend. »Wir sollten jetzt Abstand gewinnen.«
»Komm doch mit rauf zu einem Versöhnungsschluck«, bat sie, als sie bei ihrer Wohnung angelangt waren.
»Das bringt nichts, Irene.«
»Ich hatte mich so auf das Wochenende gefreut«, sagte sie vorwurfsvoll.
Manchmal kommt es anders, als man denkt, dachte er, als er heimwärts fuhr.
Für Sabine und Rolf war der Nachmittag bedeutend freundlicher und friedlicher verlaufen, nachdem sie sich nochmals eingehend über Irene geäußert hatte.
»Die hat doch überhaupt keine Hemmungen«, hatte sie gesagt. »Wie sie dich angeguckt hat! Die ist doch mannstoll, und vor so was muss man Paps doch bewahren.«
»Woher nimmst du eigentlich solche Erfahrungen, Binni?«, fragte er nachdenklich.
»Ich selbst habe noch keine gemacht, da brauchst du nicht bange sein«, grinste Sabine. »Ich gehe mit offenen Augen durch die Welt. Paps hat es mir ja gepredigt, aber das anderen zu predigen ist wohl einfacher. Und ich habe auch viel gelesen. Und außerdem gibt es Fernsehen, Rölfchen, da gibt es solche Typen übergenug, solche intriganten Schlangen, die sich bloß ins warme Nest setzen wollen und denen es ganz egal ist, was sie dabei kaputtmachen. Das kalte Grausen kann man ja kriegen.«
»Mit fünfzehn sollte man sich eigentlich positiveren Gedanken hingeben«, sagte Rolf.
»Was denn für welchen? Wenn man Zeitung liest, kann es einem doch übel werden. Da schießen solche Kerle um sich, wegen nichts und wieder nichts oder stechen mit dem Messer auf völlig Fremde ein, wenn sie betrunken sind. Manche laufen gar Amok, weil ihnen die Freundin oder Frau davongelaufen ist. Und dann wird nur von Atomwaffen geredet und viel Geld verpulvert, anstatt Arbeitsplätze zu schaffen für die vielen Arbeitslosen. Ist doch absurd, wenn dann auch noch gesagt wird, dass das geschehen muss, wenn man den Frieden erhalten will. Und schau dich doch mal um, Rölfchen, wie die Bäume sterben. Stell dir mal vor, wir gehen mal so ein, so kümmerlich, ohne dass noch ein Arzt was machen kann.«
»Jetzt ist aber Schluss, Binni«, sagte Rolf energisch. »Schau zum Himmel empor, wie blau der heute ist und wie die Sonne lacht.«
»Und so viel Elend ist trotzdem auf der Erde«, sagte Sabine nachdenklich, »und Gott schweigt.«
»Vielleicht, weil die Menschen nicht mehr den Glauben haben«, sagte Rolf gedankenvoll.
»Aber gerade die Armen glauben doch am meisten.«
»Du redest wie Annabel«, sagte er leise. »Mit ihr wirst du dich bestimmt gut verstehen.«
Sie griff nach seiner Hand. »Erzählst du mir von ihr? Kann ich sie vielleicht mal besuchen, wenn du wieder in der Praxis sein musst?«
Das war die andere Sabine, die er so sehr ins Herz geschlossen hatte, die so weich und mitfühlend sein konnte. Er spürte es, als er von Annabel sprach.
»Wirst du sie heiraten?«, fragte sie leise.
»Wenn sie mich will?«
»Wie könnte man dich nicht lieb haben«, flüsterte Sabine. »Und es ist schön, dass sie noch jung ist, dann könnt ihr auch noch Kinder haben. Gell, Rölfchen, wenn ihr ein Baby habt, darf ich Patin werden. Ich werde es bestimmt sehr ernst nehmen, nicht so wie andere. Ich werde genauso eine gute Patin, wie du ein guter Pate bist.«
»Du bist ein richtiger Schatz, Binni«, sagte er weich, »und ein sehr kluges Mädchen.«
»Ich kann mich ja manchmal selber nicht leiden, wenn ich so wütend werde, aber ich kann aus meiner Haut nicht heraus, und dann denke ich auch, dass ich Paps die Meinung sagen muss, damit er später mal nicht sagen kann, warum ich mich denn nicht gewehrt hätte. So weiß er wenigstens, woran er mit mir ist.«
»Das weiß er ganz bestimmt, Binni, und glaube mir, er hat dich sehr, sehr lieb.«
»Deswegen ist ja alles so verdammt schwer, Rölfchen. Ich habe ihn doch auch so lieb, und ich will nicht, dass er sich selber unglücklich macht.«
»Nun mach dir mal nicht zu viel Gedanken, Kleines. Wenn ein Mann schon mal über die vierzig ist, lässt er sich wohl umgarnen, aber Helmut verliert dabei nicht den Verstand.«
»Er ist in der Midlifecrise«, sagte Sabine ernsthaft.
Rolf lachte auf. »Du liebe Güte, was dir alles in deinem hübschen Köpfchen herumspukt.«
Nun kam ein schelmisches Blitzen in ihre Augen. »Findest du mich hübsch?«
»Recht ansehnlich, aber du mauserst dich bestimmt noch mehr, und es wird nicht lange dauern, dann werden bei euch die Rollen vertauscht sein, und Helmut wird sehr auf dich aufpassen müssen, damit du nicht an den Falschen gerätst.«
»Aber ich werde auf ihn hören.«
»Dein Wort in Gottes Ohr, aber beschwör es nicht, Binni. Manchmal will man einfach nicht glauben, was andere sagen, wenn man bis über beide Ohren verliebt ist, aber ich habe nicht den Eindruck, dass das bei Helmut zutrifft.«
»Man muss sich doch Gedanken machen. Schau, in unserer Klasse sind allein drei Fälle, wo die Väter fremdgehen, und auch ein paar Mütter nehmen es nicht so genau. Es ist doch schäbig, wenn die Kinder drunter leiden müssen. Wenn man schon mal so lange verheiratet ist, kann man doch nicht plötzlich alles schlecht finden, was bisher gut war. Und meistens ist es auch noch so, dass die Querelen erst anfangen, wenn es den Leuten einfach zu gut geht.«
»Wie recht du hast, Binni. Wenn es dem Esel zu wohl wird, geht er aufs Eis tanzen.« Er nahm sie in den Arm. »Aber wir gehen jetzt Kaffee trinken.«
»Ich möchte lieber ein großes Eis mit Früchten«, sagte sie.
»Eine glänzende Idee, Binni. Ich habe schon lange kein Eis mehr gegessen.«
Und dann war das Thema auch endgültig gewechselt, und Sabine schwärmte Rolf von Annette vor. Aber auch das stimmte ihn nachdenklich, machte ihm bewusst, dass sie mütterliche Wärme suchte. Ein Mädchen in ihrem Alter brauchte diese wohl besonders. Binni war kein Kind mehr, sie stand an der Schwelle zur Frau und er als Arzt wusste, wie gefährlich das Stadium werden konnte, wenn ein Mädchen keine Bezugsperson hatte, mit der es sich aussprechen konnte über all die Probleme, die das Erwachsenwerden mit sich brachte. Gut war es nur zu wissen, dass Sabine nicht labil war. Und hellwach war sie. Er konnte es wieder einmal beobachten.
»Da, schau dir nachher mal das Pärchen an, Rölfchen«, raunte sie ihm zu. »Das Mädchen ist bestimmt nicht älter als ich und der Mann so ein richtiger schmieriger Dandy. Mich würde es grausen. Aber solche Typen wie der würden zu Irene passen.«
Ja, Rolf konnte sich wieder seine Gedanken machen, als er diesen Mann später sah, als sie das Café verließen. Als schmierigen Dandy hätte er ihn wohl nicht auf Anhieb bezeichnet, aber er war tatsächlich so ein Typ, vor dem er Sabine warnen würde. So ein Lebemann, der auf blutjunge Mädchen fixiert war.
»Sei froh, dass sich Helmut nicht eine Zwanzigjährige angelacht hat«, scherzte er. »Viel älter als dieser Dandy ist er auch nicht.«
Sabine sah ihn entsetzt an. »Da ist mir aber gar nicht spaßig zumute, Rölfchen«, sagte sie. »Vielleicht kommt das auch noch.«
»Jetzt mach aber ’nen Punkt. Bei dir muss man sich sogar jeden Scherz überlegen.«
Er brachte sie nach Hause, hielt sich aber nicht auf, sondern fuhr dann gleich zur Klinik. Wenig später kam Helmut. Sabine bemühte sich, keine Notiz davon zu nehmen, da sie meinte, dass er Irene wieder mitbringen würde.
Sie hatte sich in ihr Zimmer verzogen und stellte das Radio an. Plötzlich stand Helmut in der Tür.
»In der Sportsendung kommt was vom Springreiten. Möchtest du das nicht sehen, Binni? Aber wir könnten auch eine Partie Schach spielen.«
»Soll das heißen, dass du daheim bleibst?«, fragte sie.
»Das soll es heißen. Ich wollte auch mit dir über den Urlaub sprechen. Wie wäre es, wenn wir lieber in die Toscana fahren würden, statt nach Griechenland? Eigentlich liegt es mir ja nicht, mich in der Sonne braten zu lassen.«
»Ist auch nicht so gesund«, sagte Sabine. »Wir könnten ja mit dem Wagen fahren und uns was anschauen. Ist doch viel interessanter.«
»So gern sitze ich nun auch wieder nicht am Steuer. Aber wir werden uns schon einigen.«
»Ohne Irene?«
»Ohne Irene«, erwiderte er.
»Okay«, sagte sie.
*
Rolf war glücklich, dass Annabel nun schon so munter war. Ihre Beziehung war bisher rein freundschaftlicher Natur, wobei gesagt werden musste, dass Rolf sich erst in dem Augenblick, als er Angst um Annabel bekam, klar darüber geworden war, wie viel ihm diese Frau bedeutete. Die Angst, sie verlieren zu können, hatte ihm einen schweren Schock versetzt. Jetzt wusste er, dass er sie liebte, und sein Blick sagte es.
»Annabel«, sagte er zärtlich, »jetzt bin ich froh, dass wir das so gut überstanden haben. Jetzt denken wir an die Zukunft.«
»Wir?«, fragte sie scheu.
»Ja, wir, du und ich.«
»Herr Dr. Petersen, seit wann sind wir per du?«, fragte sie mit einem kleinen Lächeln.
»Jesses, dazu gehört ja eigentlich Champagner«, meinte er, »aber den darf der Doktor heute noch nicht erlauben. Deshalb heißt es eben doch lieber ab heute Annabel und Rolf, du und ich, und ich hoffe, dass es kein Contra gibt.«
Sie sah ihn mit feuchten Augen an. »Was so ein Tumor alles auslösen kann«, flüsterte sie.
»Dieser hat aber nur einen Knoten gelöst. Du hast doch hoffentlich wenigstens gemerkt, wie sehr ich dich mag.«
»Dass du mitfühlend bist, das habe ich gemerkt. Und ich dachte, dass ich dir leidgetan habe.«
»Du hast ja auch genug mitgemacht, aber du hast dir ja auch nicht einreden lassen, dass dir alles über den Kopf wächst.«
»Ich habe es überstanden, Rolf«, sagte sie leise. »Ich konnte Mutter doch nicht allein lassen. Sie war immer für mich da, hat sich auch nie etwas anmerken lassen, wenn es ihr nicht gut ging. Ich habe mir auch Vorwürfe gemacht, machen müssen, als sie dann den Schlaganfall bekam.«
»So etwas kann man nie voraussehen«, sagte er.
»Meinst du nicht, dass man das spürt?«
»Wer beobachtet sich schon so genau? Du hast ja nicht mal was von dieser Verletzung gesagt, obgleich ich da schon täglich zweimal bei euch ein und aus gegangen bin.«
»Hätte sich dadurch etwas geändert?«
»Ich denke schon. Aber nun hat sich ja vieles verändert, und ich werde höllisch auf dich aufpassen.«
Sanft legte er den Arm um sie und streichelte ihr Gesicht mit seinen trockenen Lippen, die aber ganz weich wurden, als sie ihren Mund berührten.
»Nun habe ich also doch noch die Frau gefunden, mit der ich mir ein gemeinsames Leben vorstellen kann«, sagte er.
»Du hast dich wahrscheinlich nicht früh genug umgeschaut«, lächelte Annabel.
»Umgeschaut habe ich mich schon, Annabel, und ein paar kalte Duschen habe ich auch bekommen, aber das kann nur gut sein. Da lernt man die Spreu vom Weizen zu trennen. Jedenfalls bin ich überzeugt, dass Binni mit dir zufrieden und einig sein wird. Mit ihrem Vater, meinem lieben Bruder, steht sie derzeit nämlich auf Kriegsfuß.«
Wer Binni war, wusste Annabel freilich schon. Von seiner Nichte, die auch sein Patenkind war, hatte Rolf ihr schon manchmal erzählt, und da hatte sie immer gedacht, dass ihm wohl doch eine Familie, zumindest ein Kind fehle.
»Wieso auf Kriegsfuß?«, fragte sie.
Nicht ahnend, dass zwischen Helmut und Sabine mal wieder vollste Harmonie herrschte, erzählte Rolf nun von den Problemen.
»Binni möchte dich gern besuchen«, erklärte er danach.
»Das würde mich sehr freuen«, sagte Annabel.
»Ich kann ja nun leider nicht jeden Tag bei dir sein«, meinte er bedauernd.
»Wirst du in der Praxis zurechtkommen?«, fragte sie besorgt.
»Frau Ruck hat schon zugesagt, auszuhelfen, und auf die brauchst du nicht eifersüchtig zu sein.«
»Ich bin überhaupt nicht eifersüchtig«, erwiderte Annabel.
»Ich könnte auch nicht böse sein, wenn dir eine andere viel besser gefallen würde als ich. Ich habe mir nie Hoffnungen gemacht, dass ich dir mehr bedeuten könnte, als eben eine gute Freundin zu sein, und daran hätte sich nie etwas geändert, wenigstens bei mir nicht.«
»Du liebst mich nicht«, sagte er.
»Gerade weil ich dich liebe, Rolf«, erwiderte sie. »Du hast es ja nicht bemerkt und ich hätte mich dir nie an den Hals geworfen. Aber wenn man einen Menschen liebt, braucht man nicht überzeugt zu sein, wiedergeliebt zu werden.«
»Du wirst aber wiedergeliebt, und wie«, sagte er innig. »Und mir wird nie eine andere Frau mehr bedeuten als du, da kannst du unbesorgt sein. Aber nun wird schnellstens geheiratet, schließlich bin ich schon achtunddreißig und du bist zehn Jahre jünger.«
»Was besagt das schon?«, lächelte sie.
»Du hättest ganz andere Chancen.«
»Fishing for compliments?«, fragte sie neckend.
»Sag nur nicht, dass du noch nie einen Heiratsantrag bekommen hast.«
»Noch nie, das kann ich beschwören. Die meisten Männer haben doch Angst vor den Schwiegermüttern, vor allem dann, wenn sich ein Mädchen viel um seine Mutter kümmert. Du ahnst gar nicht, wie abschreckend das wirkt.«
»Aber nur auf Männer, die es doch nicht ernst meinen«, sagte er.
»Siehst du, du hast es erfasst«, erwiderte sie mit leisem Lachen. »Und so blieb ich vor Abenteuern bewahrt.«
»Wie froh bin ich darüber«, sagte Rolf und küsste sie lange und innig.
*
Sabine hatte ihren Vater beim Schach geschlagen, obgleich er ihr mit einem raffinierten Zug die Dame genommen hatte. Dann war er ziemlich fassungslos, als sie ihn schachmatt setzte.
»Siehst du, manchmal ist es gut, wenn man die Dame verliert«, sagte sie hintergründig, »dann kommt man auf den Dreh, wie es ohne sie auch gehen kann.«
»Du bist hinterlistig, Sabine«, sagte er.
»Muss man doch manchmal sein.«
»Woher nimmst du eigentlich all deine Weisheiten?«, fragte er.
»Du hast halt eine kluge Tochter. Rölfchen hat es mir bestätigt.«
»Mit dem hättest du wohl keine Schwierigkeiten, wenn er dein Vater wäre?«
»Weiß man es? Er ist ja nicht mein Vater. Es ist ja auch was anderes, wenn man nur in guten Stunden beisammen ist.«
»Gut gedacht, Sabine«, sagte Helmut. »Vielleicht betrachtest du meine Bekanntschaft mit Irene auch mal so. Man will sich einfach mal ablenken, nicht an den Beruf und alles Drum und Dran denken.«
»Ob die Tochter sitzenbleibt oder nicht«, warf Sabine anzüglich ein. »Aber es gibt ja allerhand, was die Männer an Frauen reizt.«
Sie brachte ihn ganz schön in die Klemme. »Du bist ganz schön frech«, lenkte er ab.
»Wieso frech, das sind nackte Tatsachen. Du bist doch Anwalt, Paps, und solltest wissen, welch bewegtes Leben schon manche Teenager hinter sich haben. Warum sollte ausgerechnet ich noch an den Klapperstorch glauben?«
Er fuhr sich mit den Fingern durch das dichte Haar, eine Bewegung, die er immer machte, wenn er nach Worten suchte.
»Wie weit gehen deine persönlichen Erfahrungen?«, fragte er dann heiser.
Sie legte den Kopf zurück und lächelte hintergründig. »Ich bin sehr wählerisch, lieber Paps«, sagte sie betont, »und außerdem sehr geruchsempfindlich. Schulbuben haben meist so einen muffigen Geruch an sich.«
Helmut lachte leise, dann legte er den Arm um ihre Schultern. »Ich weiß ja, dass ich mich auf dich verlassen kann«, sagte er.
*
Die letzten Schultage vor den Sommerferien brachten wechselhaftes Wetter. Getan wurde jetzt sowieso nichts mehr. Drei fehlten schon in der Klasse. Diejenigen, die bereits wussten, dass sie das Klassenziel nicht erreicht hatten.
Für Sabine war es nicht verwunderlich, dass es ausgerechnet die drei waren, bei deren Eltern der Haussegen schief hing.
Mit Annette Becker machten sie eine Diskussionsrunde, und dabei erörterte sie auch sehr taktvoll die familiären Probleme der Jugendlichen. Es ging lebhaft zu und Sabine staunte ebenso wie Annette, mit welcher Gleichgültigkeit manche ihr Verhältnis zum Elternhaus betrachteten.
Die paar Jahre, die sie noch zu Hause wären, so hieß es da auch, würden sie auch noch überstehen. Und wie sie sich die Zukunft vorstellten, auch ihre persönliche Zukunft, war fast erschreckend. Studieren wollten die meisten schon, und die Väter sollten dafür blechen, sagten gerade die, die baldmöglichst ihr Eigenleben führen wollten.
»So eine saublöde Einstellung«, platzte Sabine nun doch heraus, und da ging es erst richtig los. Aber Annette konnte wieder einmal feststellen, dass selbst die großmäuligsten Jungen nicht gegen Sabines Argumente ankamen.
Sie hat eine Kämpfernatur, dachte Annette. Sie wird ihren Weg gehen. Und das war auch ein Grund für sie, am Nachmittag Irenes Boutique aufzusuchen.
Dass Irene anwesend war, entsprach nicht ihren sonstigen Gepflogenheiten, aber die Differenzen mit Helmut Petersen hatten ihre Pläne so sehr gefährdet, dass sie nun doch vorsichtiger sein musste.
Sabine hatte Irene so deutlich geschildert, dass es für Annette keinen Zweifel geben konnte, wen sie vor sich hatte, und ihr machte es Spaß, ihre Wünsche in ihrem perfekten Englisch zu äußern.
Was Irene da jedoch an Vokabeln hervorbrachte, reizte sie tatsächlich zum Lachen. Annette erklärte, dass sie sich ein wenig umschauen wolle, und da betrat gerade eine andere Kundin das Geschäft. Es war eine gute Bekannte von Irene, wie Annette sogleich feststellen konnte, und es war recht aufschlussreich, worüber sie sprachen.
»Es hängt jetzt alles in der Luft«, sagte Irene ungeniert, da sie ja annehmen musste, dass Annette deutsch nicht verstand. »Dieses kleine Biest hat es doch tatsächlich fertiggebracht, Helmut einzuschüchtern.«
»Ich habe dir ja gesagt, dass du dich hart tun wirst«, sagte die andere. »Er ist nicht der Typ, der sich schnell bindet. An deiner Stelle würde ich aber doch versuchen, wenigstens den Kredit von ihm zu bekommen, Irene. Mehr als fünftausend kann ich dir nicht verschaffen.«
»Und Henry?«
»Du weißt ja, was er haben will. Na ja, der Schönste ist er ja nicht, aber bevor du es auch mit ihm verdirbst …«
»Warte mal, ich muss mich um die Kundin kümmern«, sagte Irene. Ihr war das Thema wohl doch ein bisschen zu riskant geworden.
Aber Annette wollte sich jetzt auch nicht länger aufhalten. Sie hatte eine Bluse gefunden, die recht hübsch und nicht zu auffallend war, und auch nicht zu teuer. Sie hatte sich gefragt, wer wohl so viel Geld für solche Sachen ausgeben konnte. Aber ein gutes Geschäft schien Irene Matthei damit auch nicht zu machen. Das konnte Annette aus der Unterhaltung entnehmen, dass sie sich anscheinend in finanziellen Schwierigkeiten befand und auf Helmut Petersen gesetzt hatte.
Sie konnte Sabines Aversion verstehen, als sie Irene noch einmal betrachtete und die andere Kundin auch. Und sie fragte sich, was ein Mann wie Helmut Petersen an solcher Gesellschaft anderes reizen könnte als Sex. Tiefgehende Gefühle konnten da wohl kaum mitspielen.
Annette ließ ihre Gedanken in die Vergangenheit schweifen. Zuerst hatte sie es ja nicht glauben wollen, dass ausgerechnet Helmut Petersen Sabines Vater sein könnte, aber nun war sie dessen doch sicher.
Es war lange her, als sie ihn kennengelernt hatte, fast zwanzig Jahre, und sie war damals nicht viel älter gewesen als jetzt Sabine. Anlässlich eines Leichtathletiksportfestes waren sie sich begegnet. Helmut Petersen war zweiundzwanzig und ein sehr guter Vierhundertmeterläufer gewesen. Und sie lief in den Kurzstrecken damals sehr gute Zeiten. Sie hatten sich dann öfter beim Training getroffen, aber für Helmut war sie eben nur ein nettes kleines Mädchen gewesen, nicht mal ein Flirt. Dafür hatte Annette allerdings auch damals schon nichts übriggehabt. Und sie war fünfundzwanzig Jahre geworden, bevor sie den Mann kennenlernte, mit dem sie glücklich zu werden meinte. Es war ein Irrtum gewesen. Nach zwei Jahren war die Ehe wieder geschieden, in ihrem Leben eine Episode, an die sie sich nicht mehr erinnern wollte, und deshalb hatte sie Sabine davon auch nichts erzählt. Wozu auch? Eines Tages würde auch Sabine wieder aus ihrem Leben verschwinden, wie so manche Schülerin, die sie doch besonders ins Herz geschlossen hatte. Und selbstverständlich war es für sie gewesen, Sabine auch nicht zu erzählen, dass sie ihren Vater von früher kannte.
Es ging Annette ja auch nicht um Helmut Petersen, es ging ihr um Sabine. Mit Männern hatte Annette kaum Mitgefühl, nach der Erfahrung, die sie gemacht hatte, falls es sich nicht um einschneidendere Dinge drehte, als um eine verführerische Frau.
Frauen betrachtete Annette objektiv, aber es gab selbstverständlich auch bei ihr unterschiedliche Reaktionen. Sie war durchaus nicht kontaktarm, aber sie mied auch tunlichst enge Bindungen, da sie gern allein war und so viele Interessen hatte, dass es ihr nicht langweilig werden konnte. Und ein paar Menschen gab es schon, denen sie ganz besonders zugetan war. Vor allem ihrem Neffen Jan Straaten, der seine Eltern vor zwei Jahren durch einen Flugzeugunfall verloren hatte.
Annettes ältere Schwester war seine Mutter gewesen, und sie hatte eine sehr glückliche Ehe mit dem Holländer Willem Straaten geführt. Jan lebte seit dem tragischen Tod seiner Eltern bei den Großeltern in Den Haag, aber er hatte den Wunsch geäußert, in München zu studieren, und es hatte keinen Widerspruch gegeben, da man ihn dort bei Annette bestens aufgehoben wusste.
Auch die Sommerferien wollte er mit Annette verbringen, da die Großeltern ihre alljährliche Kur machen wollten.
Auf der Insel der Hoffnung! Das hatte ihnen Annette über Dr. Norden vermittelt, und dort hatte man ihnen auch über den schweren Schicksalsschlag hinweggeholfen.
Annette freute sich auf die Zeit mit Jan. Sie hatte auch schon ihr Häuschen darauf eingerichtet.
Da sie nun einmal in der Stadt war, kaufte sie einige Sachen, die sein Zimmer noch gemütlicher machen sollten.
Allzu viel Gedanken an Irene Matthei zu verschwenden, lohnte sich nicht, da Annette nun überzeugt sein konnte, dass Sabines Antipathie begründet war. Ihre Gedanken waren in die nahe Zukunft gerichtet. Übermorgen war Ferienbeginn. Am Tag darauf würden Jan und seine Großeltern kommen und bis zum Sonntag bei ihr bleiben. Dann wollte sie die Herrschaften zur Insel der Hoffnung bringen, und anschließend fuhr sie mit Jan gleich in die Berge.
Annette Becker hatte eine ganz andere Einstellung zum Leben als Irene Matthei. Sie heischte nicht nach männlicher Bewunderung, schon gar nicht danach, finanzielle Vorteile durch einen Mann zu erhoffen.
Sie kam sehr gut allein zurecht. Sie verlor sich nicht in irrealen Träumen und blieb immer mit den Füßen auf dem Boden. Aber weil sie jetzt wusste, dass auch die junge Sabine einen so klaren Blick hatte, freute sie sich doppelt darauf, dass sie dem Mädchen ein so gutes Zeugnis überreichen konnte.
*
Sabine hatte schon an diesem Nachmittag Annabel besucht. Sie brachte ihr einen wunderhübschen Blumenstrauß und ein paar Bücher.
»Ich finde es sehr lieb, Sabine, dass du kommst«, sagte Annabel.
»Ich habe es Rolf versprochen, und was ich verspreche, halte ich auch. Aber ich wollte Sie ja auch gern kennenlernen, weil ich weiß, dass Rölfchen Sie lieb hat.«
Annabel konnte sich Sabines spontaner Zuneigung erfreuen. Da gab es kein langsames aufeinander Zutasten, keine Skepsis, da gab es jene Antenne, die sofort eine Beziehung herstellte, die aber auch wieder einmal verriet, wie sehr sich Sabine auf ihren Instinkt verlassen konnte, aber auch, wie viel Herzenswärme in ihr war.
»Auf Rölfchen kann man sich hundertprozentig verlassen«, sagte sie. »Ich bin so froh, dass er nun doch noch eine Frau bekommt, die zu ihm passt.«
»Bist du ganz sicher, dass ich die Frau sein könnte, Sabine?«, fragte Annabel stockend.
»Sind Sie etwa nicht sicher?«, fragte das Mädchen.
»Ich bin sicher, was mich betrifft, aber unsicher, ob ich ihm in allem genüge«, erwiderte Annabel. »Würdest du einfach Annabel und du zu mir sagen?«
»Klar, wenn es dir recht ist. Da redet es sich doch viel besser, und du bist ja eigentlich auch noch ein Mädchen.«
»Ein ziemlich altes«, lächelte Annabel.
»Unsinn, ich weiß nicht, warum das immer Frauen sagen, die wirklich noch jung sind. Es kommt da doch nicht auf die Jahre an, die man schon auf dem Buckel hat, sondern auf das, was von ihnen ausgeht. Ich hab’s neulich schon zu Rölfchen gesagt, dass manche Mädchen schon mit sechzehn verlebt sind und…«, sie geriet ins Stocken.
»Erschreckt dich das nicht, wenn du so denkst?«, fragte Annabel.
»Es ist ja nicht mein Leben«, erwiderte Sabine. »Jeder muss wissen, was ihm sein Leben wert ist.«
»Du bist wirklich ein erstaunliches Mädchen«, sagte Annabel leise.
»Wieso? Ich habe nur eine positive Einstellung! Man muss doch nicht immer alles auf einmal haben wollen, nur weil man sich in die Vorstellung verrennt, dass morgen alles vorbei sein könnte. Ich finde es schrecklich, wenn man so denkt, aber leider denken viele so, Annabel, und dann haben sie sich verplempert. Das Leben geht weiter, aber sie haben nichts mehr, worauf sie sich noch freuen können.«
»Und wenn es im Leben anders kommt, als man es sich vorstellt?«
Ein schelmisches Lächeln war in Sabines Augen. »Rölfchen hat immer gesagt: Man muss das Leben nehmen, wie das Leben eben kommt, und ich finde es gut so, wenn man dabei nicht denkt, dass man etwas verpassen könnte.«
Annabel umschloss Sabines Hand mit festem Druck. »Wenn ich mir jetzt vorstelle, mein Leben hätte wegen dieses dummen Tumors zu Ende sein können, gerade jetzt, da es mit Rolf so harmonisch begann …«
»Denk das doch nicht«, fiel ihr Sabine ins Wort. »Du hast doch genug mitgemacht und bist nicht daran verzweifelt. Und jetzt bekommst du den Lohn für die Liebe und Fürsorge, die du deiner Mutter geschenkt hast.«
Nachdenklich blickte Annabel in das junge Gesicht. »Bist du wirklich erst fünfzehn, Sabine?«
»Bald sechzehn, in zehn Tagen«, erwiderte das Mädchen lächelnd, »aber ein Genie bin ich nicht, Annabel. Derer gibt es eine ganze Menge. Ich habe kein besonderes Talent.«
»O doch, Sabine. Du hast das Talent, Sonne ins Zimmer zu bringen, auch wenn der Himmel trübe ist.«
»Schau mal zum Fenster hinaus, Annabel, da lugt sie grad zwischen den Wolken hervor. Und außerdem heißt es doch: Hab’ Sonne im Herzen, ob es stürmt oder schneit, ob der Himmel voller Wolken und die Erde voll Leid. Finchen hat mir solche Sprüche beigebracht. Mit dir wird sie auch gleich einverstanden sein und sicher sagen, warum Paps nicht auch so eine Frau daherbringt. Jedenfalls werde ich euch oft auf der Pelle sitzen, wenn ihr erst verheiratet seid.«
»Wann immer du willst, Sabine«, sagte Annabel herzlich.
»Aber ein paar Kinder müsst ihr euch noch anschaffen. Als Patin habe ich mich schon angemeldet.«
»Du bringst mich ganz hübsch in Verlegenheit.«
»Wieso?«
»Ich weiß doch gar nicht, ob Rolf überhaupt Kinder haben will.«
»Und wie gern. Du meinst doch nicht etwa, dass er zu alt sei?«
»Ach was. Er macht sich nur so viel Gedanken über die Zukunft, die Umwelt, die Politik.«
»Das vergeht ihm, wenn er glücklich ist«, meinte Sabine optimistisch. »Er wird bestimmt ein ganz toller Vater, wo er doch schon als Onkel so prima war. Ich habe ihn wahnsinnig gern.«
»Er dich auch.«
»Aber nun hat er dich. Ich bin so froh, dass wir uns auch gut verstehen.«
Von Irene wollte sie nicht mehr sprechen. Sie hoffte, dass diese Affäre für ihren Vater erledigt sein würde.
*
Mit fragendem Blick nahm Sabine am letzten Schultag ihr Zeugnis aus Annettes Hand entgegen. Annette nickte ihr zu. »Ich weiß nicht, ob ich auch nächstes Jahr eure Klassenlehrerin sein werde, aber ich hoffe, dass du auch weiterhin eine so gute Schülerin bleiben wirst, Sabine.«
Das warf einen Schatten auf Sabines Freude über das Zeugnis. Während die andern davonstürmten, wartete sie noch, um Annette allein zu sprechen.
»Wenn Sie der Klasse weggenommen werden, macht mir die Schule wieder keinen Spaß mehr«, sagte sie bekümmert.
»So darfst du nicht denken, Sabine. Du weißt doch, wo ich wohne. Du kannst mich besuchen. Jetzt wünsche ich dir schöne Ferien. Wann fahrt ihr denn?«
»Erst in vierzehn Tagen, wenn es gewiss ist«, erwiderte Sabine.
»Warum zweifelst du?«
»Ich traue der Matthei alles zu.«
Annette sagte lieber nicht, dass sie in der Boutique gewesen war und somit Sabines Meinung zu teilen bereit war.
»Du kannst mir schreiben, wenn du einen Rat brauchst«, sagte sie leise. »Du hast ja meine Adresse. Tu nur nichts Unüberlegtes«, fügte sie dann aus einem unbestimmbaren Gefühl heraus dazu. »Dein Vater wird sich über das Zeugnis bestimmt sehr freuen.«
Sabine zögerte. »Würden Sie vielleicht heute oder morgen Abend mit uns essen? Dann könnten Sie Paps kennenlernen.«
Annette war überrascht. »Es geht leider nicht. Ich bekomme Besuch. Ich muss jetzt auch gleich zum Flughafen fahren.«
»Schade«, sagte Sabine traurig.
»Wir sehen uns ja wieder, und bei Gelegenheit werde ich auch deinen Vater kennenlernen«, lenkte Annette ein.
»Ich möchte nicht indiskret sein, aber bleibt Ihr Besuch lange?«
Annette musste lächeln. »Mein Neffe bleibt länger. Er wird in München studieren. Er kommt mit seinen Großeltern«, erklärte sie, da sie merkte, wie bekümmert Sabine war.
»Ich dachte schon, es wäre ein Mann«, sagte Sabine. »Entschuldigung, bitte, nicht böse sein.«
»Ich bin nicht böse, Sabine«, erwiderte Annette weich.
»Ich wünsche Ihnen doch nur alles Gute und viel Glück, aber ich wäre traurig, wenn Sie fortgehen würden. Das darf ich doch sagen.«
Annette war gerührt. So viel Zuneigung und Anhänglichkeit hatte sie von einer Schülerin noch nie erfahren, und dabei war Sabine gewiss kein sentimentales Mädchen.
»Alles Gute und eine schöne Zeit«, sagte Sabine nun hastig, und dann lief sie schnell davon.
Sie wird doch nicht weinen, dachte Annette besorgt. Was bewegt dieses Mädchen nur? Aber sie musste sich nun auch beeilen, um rechtzeitig zum Flughafen zu kommen.
Sabine war zur S-Bahn gegangen. Sie fuhr in die Stadt, wollte ihren Vater in der Kanzlei aufsuchen. Bestimmt würde er sie zum Essen in ein französisches Restaurant einladen für das gute Zeugnis. Und sie wollte sich bei einem guten Essen von dem Kummer ablenken, den ihr der Abschied von Annette bereitet hatte.
Nun aber kam die nächste Enttäuschung, denn die Sekretärin sagte ihr, dass gerade Frau Matthei bei Dr. Petersen sei.
»Dann sagen Sie ihm bitte gar nicht, dass ich hier gewesen bin«, stieß Sabine zornig hervor, und schon eilte sie wieder davon.
Frau Siebert blickte ihr konsterniert nach, denn sie hatte keine Ahnung, was das bedeuten sollte, auch keine, dass ihr Chef private Beziehungen zu Irene Matthei hatte. In der Kanzlei wusste bisher niemand etwas davon, doch an diesem Tag sollte doch etwas durchsickern, denn Irenes hohe, schrille Stimme war nicht zu überhören, als sie sagte: »Das lasse ich mir nicht bieten, Helmut, das nicht! Da wird sich der Herr Rechtsanwalt was einfallen lassen müssen.«
Dann rauschte sie hinaus und knallte die Tür hinter sich zu.
Nun habe ich den Salat, dachte Helmut. Sabine hat es mir ja angekündigt. Nun kannte er auch Irenes wahres Gesicht.
Hunderttausend Euro hatte sie von ihm haben wollen. Kredit! Aber inzwischen hatte er sich auch soweit informiert, dass man jeden Kredit an sie in den Schornstein schreiben konnte, und das hatte er ihr auch gesagt.
Warum sie ihr Erbe so schlecht angelegt hätte, hatte er sie auch gefragt und ihr auch recht deutlich zu verstehen gegeben, dass er sich nicht erpressen lasse.
Es ging ihm unter die Haut, dass Sabine in allem recht hatte, dass dieses halbe Kind Irene so durchschaut hatte.
Und dann kam auch noch Frau Siebert und sagte ihm, dass Sabine dagewesen sei, aber gleich wieder gegangen wäre. Sie meinte, dass sie es sagen müsse, und sie hatte Sabine ja nicht versprochen, es zu verschweigen.
»Ich habe mir nichts dabei gedacht, als ich sagte, dass Frau Matthei bei Ihnen sei«, erklärte sie.
Helmuts Miene war finster. Und jetzt denkt Sabine wieder, dass ich sie nur täuschen wollte und mich doch weiterhin mit Irene treffe, ging es ihm durch den Sinn.
Er rief zu Hause an. Finchen erklärte ihm, dass Sabine immer noch nicht da sei.
»Sie soll mich sofort anrufen, wenn sie kommt«, sagte Helmut.
Aber Sabine rief nicht an. Helmut hatte den ganzen Nachmittag dringende Termine, und dann kam ein Anruf von Finchen. Sie schluchzte. »Sabinchen ist immer noch nicht da«, jammerte sie.
»Vielleicht hat sie doch ein schlechtes Zeugnis.«
Ihm trat kalter Schweiß auf die Stirn. Er überlegte. Dann rief er seinen Bruder an. Der war auch mitten in der Arbeit.
»Ist Sabine bei dir?«, fragte Helmut.
»Nein, wieso?«
»Weil sie nicht von der Schule heimgegangen ist. Finchen regt sich auf.«
»Vielleicht ist sie bei Annabel in der Behnisch-Klinik«, sagte Rolf.
»Hat sie was gesagt, dass sie sitzenbleibt?«, fragte Helmut.
»Blödsinn, sie rechnet mit einem guten Zeugnis. Sie schwärmt doch so für die Lehrerin.«
»Wie heißt sie doch gleich?«, fragte Helmut.
»Becker. Du bist wirklich ein feiner Vater, Helmut«, sagte Rolf erbost. »Diese Irene scheint dir tatsächlich den Verstand geraubt zu haben.«
Und das war eine eisige Dusche für Helmut, denn Rolf legte den Hörer auf.
*
Sabine war zur Behnisch-Klinik gefahren. Sie brauchte einen Menschen, mit dem sie sprechen konnte.
Sie war erst zehn Minuten herumgelaufen und hatte ihren Zorn verrauchen lassen, denn Annabel sollte davon nichts merken. Und sie konnte sich auch beherrschen.
»Du bist die Erste, die mein Zeugnis sehen darf«, sagte Sabine.
Annabel warf ihr einen schrägen Blick zu. »Ist das nicht ein bisschen zu viel der Ehre?«, fragte sie nachdenklich. »Sollte das nicht dein Vater sein?«
»Ach, er ist beschäftigt.«
Da schwang doch so ein Unterton mit, der Annabel stutzen ließ.
»Dann wird er sich heute Abend freuen«, sagte sie.
Tränen drängten sich in Sabines Augen, aber sie zwang sich zu einem Lächeln.
»Ich kann mich selbst gar nicht so sehr freuen, weil es fraglich ist, ob wir unsere Klassenlehrerin behalten.«
»So sehr magst du sie?«, fragte Annabel sanft.
Sabine nickte. »So eine bekommen wir nie wieder. Sie ist einmalig. Solche Mutter müsste man haben. Aber sie muss sich für andere Kinder strapazieren, und die meisten begreifen gar nicht, welch ein wundervoller Mensch sie ist. Manche Kinder wissen es ja nicht mal zu schätzen, dass sie eine gute Mutter haben und was es bedeutet, wenn man keine hat.«
Annabel war voller Mitgefühl. »Ich kann dir die Mutter nicht ersetzen, Sabine«, sagte sie leise, »aber ich möchte dir gern eine verständnisvolle Freundin sein.«
»Deswegen bin ich ja auch zu dir gekommen«, sagte Sabine leise. »Frau Becker bekommt Besuch, und dann fährt sie auch in die Berge und verbringt dort die Ferien.«
»Ihr werdet doch auch wegfahren«, meinte Annabel tröstend.
»Ich glaube schon nicht mehr daran. Dieses falsche Biest bringt Paps bestimmt dazu, dass er mit ihr verreist.«
»Das wird er nicht tun, bestimmt nicht«, sagte Annabel.
»Du kennst sie ja nicht. Sie hat ja schon heute vormittag wieder bei ihm gehockt, und dafür hat er Zeit, sonst hat er immer dringende Termine.«
Nun hatte sie es sich doch von der Leber geredet, aber gleich darauf tat es ihr leid, denn Annabel sah sie ganz entsetzt an.
»Du warst dort?«, fragte sie.
»Ich bin gleich wieder gegangen, als Frau Siebert mir gesagt hat, dass sie bei ihm ist. Ich hatte gedacht, dass Paps vielleicht mit mir essen gehen würde.«
»Du warst noch gar nicht zu Hause, hast noch nicht gegessen?«, fragte Annabel besorgt.
»Ich habe keinen Hunger mehr. Mir ist der Appetit vergangen, aber es ist nicht richtig, dass ich dich damit belästige.«
»Das ist doch keine Belästigung«, sagte Annabel. »Sprich dich nur aus.«
»Ist doch alles schon gesagt, Annabel. Tut mir leid, dass ich damit angefangen habe.« Sie stand auf. »Finchen wird warten«, fuhr sie leise fort. »Ich werde lieber heimgehen.«
»Das tust du, morgen sieht alles bestimmt wieder ganz anders aus.«
Daran glaubte Sabine nicht, und als sie auf dem Heimweg, der zu Fuß ziemlich lang war, Thomas Gerstner traf und er sie fragte, ob sie mit ihm im Seeblick ein Eis essen würde, kam es ihr plötzlich in den Sinn, dass sie ihrem Vater auch mal einen Schrecken einjagen könnte, wenn sie erst spät nach Hause kommen würde.
»Okay«, sagte sie und schwang sich auf sein Mofa.
»Ab die Post, wir haben doch beide Grund zum Feiern«, sagte er.
»Was, du bist auch versetzt?«, staunte sie.
»Grad noch mal mit ’nem blauen Auge davongekommen, aber Vater ist großzügig. Ich darf den Führerschein machen.«
Im Seeblick trafen sie noch ein paar Schulfreunde. Sie saßen auf der Terrasse in der Sonne, und die brannte heiß herab, Sabine löffelte ihr Eis lustlos. Auf nüchternen Magen schien es ihr auch nicht so recht zu bekommen. Und die Gespräche, die nun in Gang kamen, fielen ihr auf die Nerven.
»Ich möchte heim, Thomas«, sagte sie.
»Jetzt wird es doch erst lustig«, erwiderte er. »Sei doch nicht immer so stur, Bine. Wir können nachher noch in die Disco gehen.«
»Mir ist nicht gut.«
»Stell dich nicht so an«, sagte Thomas, und er nahm keine Notiz, als sie aufstand.
Erst als sie nicht mehr zurückkam, fragte er, wo sie sei.
»Keine Ahnung«, sagte einer von den Jungen. »Ins Wasser wird sie ja wohl nicht gegangen sein, mit
diesem Zeugnis. Sie hat sich wirklich richtig zum Streber entwickelt, seit die Becker da ist. Seelenverwandtschaft.«
»Die Becker ist prima«, sagte Kathrin Hofmann, »auf die lasse ich auch nichts kommen. Wollen wir nicht mal schauen, wo Sabine steckt?«
Sie hielten Ausschau, aber sie fanden Sabine nirgendwo.
Sabine wanderte durch den Wald. Sie hatte Kopfschmerzen, zu viel Sonne konnte sie nicht vertragen. Zuerst wurde es ihr noch heißer, dann aber kroch ein Frösteln durch ihren Körper. Und der Weg wollte kein Ende nehmen. Ihre Füße waren schon bleischwer und brannten. Sie setzte sich auf einem Baumstumpf, um sich auszuruhen und überlegte, ob sie die falsche Richtung eingeschlagen hätte. Dann machte sie sich Mut mit dem Gedanken, dass der Wald ja mal ein Ende nehmen müsse, und wenn sie erst Häuser sehen konnte, würde sie sich besser orientieren können.
Sie schleppte sich mühsam vorwärts und konnte gar nicht mehr klar denken, so übel war ihr jetzt. Sie blickte auf ihre Armbanduhr, aber die Ziffern verschwammen vor ihren Augen.
Inzwischen war Helmut nach Hause gekommen. Finchen empfing ihn mit verweintem Gesicht.
»Ist Sabine immer noch nicht da?«, fragte er überstürzt. Finchen schüttelte nur den Kopf und schluchzte wieder in sich hinein.
»Ich fahre zur Behnisch-Klinik und spreche mit Frau Buchner«, sagte er.
Annabel erschrak, als Helmut kam. Seine Miene verriet, dass er keinen Besuch machte, um sie nur kennenzulernen, obgleich er sagte, dass er sich freue, seine zukünftige Schwägerin kennenzulernen.
»War Sabine hier?«, fragte er dann aber gleich.
»Ja, sie war hier, aber sie wollte dann heimgehen«, erwiderte Annabel.
»Wann war das?«
»Gegen vier Uhr.«
Jetzt war es schon zwanzig Minuten nach sechs Uhr. »Sie ist nicht zu Hause?«, fragte Annabel ängstlich.
»Nein, noch nicht, aber vielleicht hat sie Schulfreunde getroffen. Am letzten Tag vor den Ferien haben sie ja noch viel zu reden. Sie brauchen sich nicht aufzuregen, Annabel, sonst bekomme ich es auch noch mit meinem Bruder zu tun. Ich wollte mich nur erkundigen, ob Sabine hier war.«
»Sie zeigte mir ihr Zeugnis, ein sehr gutes Zeugnis. Sie wollte es Ihnen zeigen, aber es hat sie wohl geärgert, dass Frau Matthei bei Ihnen war.«
»Sie hat davon gesprochen?«, fragte er heiser.
»Ja, und wenn ich eine Bitte äußern darf, gehen Sie mit ihr behutsam um. Sie leidet mehr, als sie zugeben will.«
»Aber ich habe ihr doch schon gesagt, dass diese Angelegenheit beigelegt ist. Frau Matthei war in einer rein geschäftlichen Angelegenheit in der Kanzlei. Ich halte Sie jetzt nicht mehr länger auf. Ich hoffe sehr, dass wir uns bald unter erfreulicheren Umständen besser kennenlernen werden, Annabel. Nicht erst auf der Hochzeit.«
An der Tür blieb er dann aber doch noch einmal stehen. »Hat sie von ihrer Lehrerin gesprochen?«
»Ja, das auch.«
»Wissen Sie, wo diese Frau Becker wohnt?«
»Nein, das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass sie Annette mit Vornamen heißt.«
Annette? Der Name weckte ferne Erinnerungen in ihm, als er zu seinem Wagen ging. Er konnte ihn nur nicht mit dem Namen Becker in Verbindung bringen.
Annette Wernecke, ja, das war auch so ein Mädchen gewesen wie seine Sabine, ohne Eitelkeiten, gradheraus und zielstrebig. Und wie sie laufen konnte, wie eine Gazelle.
Zum Teufel, jetzt war nicht die Zeit, Gedanken in die Vergangenheit schweifen zu lassen, nur weil der Name Annette längst schlummernde Erinnerungen weckte. Jetzt musste er Sabine suchen. Es war doch nicht ihre Manier, überhaupt nicht nach Hause zu kommen! Sie musste doch wissen, dass auch Finchen sich Sorgen machte. Sie hatte ihre Freiheiten und konnte gehen, wann sie wollte, wenn sie Bescheid sagte, wohin sie ging. Wollte sie ihm jetzt etwa nur beweisen, dass sie sich keine Vorschriften mehr machen lassen wollte?
Er fuhr wieder nach Hause. Finchen schüttelte wiederum nur den Kopf.
»Aber mir ist noch eingefallen, dass sie vielleicht den Thomas getroffen hat und im Tennisclub ist«, sagte Finchen.
Helmut fuhr zum Tennisclub. Dort war weder Thomas noch Sabine an diesem Tag gesehen worden. Er blätterte in dem Telefonbuch. Becker war ein weitverbreiteter Name und den Vornamen Annette fand er nicht.
Vom Tennisclub aus rief er bei Rolf an. »Mach mich bloß nicht verrückt«, sagte der.
»Es ist allein deine Schuld, wenn dieses vernünftige Mädchen durchgedreht ist, und dann sind wir geschiedene Leute, Helmut, das lass dir gesagt sein. Wegen eines solchen Flittchens stößt man seine Tochter nicht vor den Kopf.«
Harte Worte, und er musste sie einstecken. Er machte sich ja selbst schon die bittersten Vorwürfe.
Dann fiel ihm Kathrin Hofmann ein. Mit der war Sabine öfter als mit anderen Mädchen zusammen gewesen.
Er wusste auch, wo sie wohnte. Und Kathrin war gerade mit einem gewaltigen Sonnenbrand heimgekommen.
»Weißt du, wo Sabine steckt?«, fragte er das Mädchen.
»Diese Kinder«, stöhnte Frau Hofmann, »da meint man, sie werden erwachsen und kriegen Verstand …«
»Hör auf, Mutti, Dr. Petersen will doch nur wissen, wo Sabine ist. Ja, wir waren zusammen im Seeblick. Aber dann ist sie einfach gegangen. Dieser blöde Thomas hat ja nicht geschaltet. Wir haben sie gesucht, aber sie war weg, einfach weg.«
Helmut musste sich höllisch zusammennehmen, um noch einigermaßen Ruhe zu bewahren.
»Weißt du, wo Frau Dr. Becker wohnt, Kathrin?«, fragte er.
»Unsere Beckerin? Ja, Sabine hängt an ihr. Aber jetzt sind doch Ferien.«
»Wo wohnt sie?«, fragte Helmut.
»In der Birkenallee, ganz am Ende so ein kleines Haus ist das. Aber Sabine hatte ein prima Zeugnis, das Beste von den Mädchen. Weggelaufen ist sie deswegen bestimmt nicht, und mit einem von den Jungen hat sie auch nichts gehabt. Sie ist halt so eigen, und geht immer ihre eigenen Wege«, stammelte Kathrin.
»Diese Kinder«, stöhnte Frau Hofmann wieder, »schauen Sie sich doch Kathrin an! Man muss ja in der prallen Sonne sitzen. Und morgen wollen wir wegfahren.«
Kathrins Sonnenbrand interessierte Helmut Petersen jetzt wenig. Er fuhr zur Birkenallee, aber auch dort fand er den Namen Becker nicht an einer Tür, aber den Namen Wernecke, und da wurde es ihm heiß und kalt. Und zufällig kam da auch Annette aus der Tür, als er zu seinem Wagen zurückgehen wollte.
Sie sahen sich an, sie hielten den Atem an. »Kennen wir uns nicht von früher?«, fragte Helmut stockend. »Ich bin Helmut Petersen.«
»Ich habe dich erkannt«, erwiderte Annette. »Schickt dich Sabine? Bist du ihretwegen gekommen? Natürlich nur ihretwegen, als Annette Becker kanntest du mich ja nicht.«
»Sabine ist nicht nach Hause gekommen«, sagte er tonlos. »Ich habe gehofft, sie hier zu finden.«
Annette wurde blass. »Wir haben uns heute mittag verabschiedet«, sagte sie hastig. »Sie wollte zu ihrem Paps fahren.«
Er starrte sie an. »Wenn du wusstest, dass ich ihr Vater bin, warum hast du dich nicht zu erkennen gegeben?«, stieß er hervor.
»Warum bist du nicht mal in die Elternsprechstunden gekommen? Ich wusste doch nicht, ob du dich meiner noch erinnerst. Ich war damals doch nicht viel älter als Sabine.« Sie schloss die Augen. »Aber darüber zu reden, ist jetzt doch sinnlos. Wo kann sie nur sein?«
»Sie waren im Seeblick mit Schulfreunden. Ich habe mit Kathrin Hofmann gesprochen. Sabine ist plötzlich gegangen.«
»Gegangen? Den weiten Weg zu Fuß? O Gott, was ist ihr da wieder in den Sinn gekommen? Der Weg führt durch den Wald, mehr als zwei Stunden. Wir müssen sie suchen.«
»Wir?«, fragte er.
»Ich suche natürlich mit. Ich muss nur Bescheid sagen. Mein Neffe ist mit seinen Großeltern heute gekommen. Aber Jan könnte uns bestimmt beim Suchen helfen.«
An früher zu denken war keine Zeit, aber Helmut konnte es kaum begreifen, wie spontan sie sich engagierte. Sie war ins Haus gelaufen und kam bald darauf mit einem hochgewachsenen blonden Jungen zurück, und sie trug einen Erstehilfekoffer in der Hand.
»Das ist mein Neffe Jan – Dr. Petersen, aber jetzt halten wir uns nicht mehr auf. Es wird langsam dunkel. Es gibt zwei Wege, die durch den Wald führen. Ich fahre mit Jan den einen, du den andern, Helmut. An der Gabelung treffen wir uns, und wenn wir Sabine nicht gefunden haben, laufen wir zu Fuß«
Ein Stück fuhren sie hintereinander, dann trennten sich ihre Wege. Helmut fuhr die Hauptstraße, Annette den Waldweg.
»Wieso duzt du ihn?«, fragte Jan.
»Wir kennen uns von früher, aber wir haben uns lange nicht gesehen, Jan. Ich erzähle es dir später mal. Wir müssen erst Sabine finden. Ich werde sie dir beschreiben. Sie ist nicht viel kleiner als ich, sehr schlank und wahrscheinlich trägt sie noch dieselben Sachen wie heute Morgen. Weiße Jeans, einen hellblauen Pulli ohne Ärmel. Sie hat braunes Haar, ganz kurz geschnitten und große hellgraue Augen.«
»Hatte sie ein schlechtes Zeugnis? Ist sie sitzengeblieben?«, fragte Jan.
»Nein, sie hatte das beste Zeugnis in der Klasse. Sie hat andere Probleme.«
»Einen Freund?«
»Nein, es sind andere Probleme.«
Sie konzentrierte sich auf die schmale Straße, aber es war schließlich Jan, der etwas Helles abseits vom Weg liegen sah. »Halt an!«, rief er. Sie trat auf die Bremse, und er lief los.
»Komm, sie muss es sein«, schrie er, und Annette lief mit ihrem Köfferchen zu ihm.
Sabine lag im Moos. Ihre Kleidung und ihr Gesicht, wie auch die Arme und Hände waren schmutzig.
»Sie muss einen Sonnenstich gehabt haben«, sagte Jan. »Typische Anzeichen.«
Annette fühlte den Puls. »Völlig erschöpft«, murmelte sie. »Wir tragen sie zum Wagen.«
»Das mache ich allein. So ein Fliegengewicht schaffe ich schon«, sagte Jan.
»Es ist nicht mehr weit bis zur Gabelung, dort treffen wir ihren Vater. Er hat den größeren Wagen. Ich möchte jetzt nichts tun, was möglicherweise schaden könnte.«
»Ist auch besser, Ann«, sagte Jan.
Helmuts Wagen stand an der Gabelung und er daneben. »Wir haben sie gefunden«, sagte Annette, als sie dort angelangt waren. »Wir bringen sie am besten in eine Klinik.«
»In die Behnisch-Klinik. Ich kenne die Ärzte«, erwiderte Helmut. »Wie soll ich dir danken, Annette. Aber du warst ja immer die Schnellste.«
»Jan hat sie entdeckt«, sagte Annette, »aber nun Beeilung.«
»Ich kann deinen Wagen fahren, Ann. Bleib du bei dem Mädchen«, sagte Jan. »Ich fahre hinterher.«
Ganz vorsichtig wurde Sabine auf den Rücksitz von Helmuts Wagen gebettet, so, dass ihr Kopf in Annettes Schoß ruhte. Helmut setzte sich ans Steuer.
»Ich liebe meine Tochter, aber ich bin an allem schuld«, sagte Helmut tonlos.
»Ergeh dich jetzt nicht in Selbstanklagen«, sagte Annette.
»Es ist wichtig, dass Sabine schnellstens in ärztliche Obhut kommt. Du kannst immer noch in dich gehen.«
Sie tupfte Sabines Gesicht ab, streichelte ihre Wangen und ihre Hände.
Kein einziges Wort wurde mehr zwischen ihr und Helmut gewechselt, bis sie die Behnisch-Klinik erreicht hatten.
Jan war ihnen gefolgt, er hatte den Anschluss nicht verloren. Er war schon zur Stelle, als Helmut seine Tochter aus dem Wagen heben wollte.
»Ich sage Bescheid. Es ist besser, wenn sie eine Trage bringen«, sagte Jan.
»Sind Sie etwa Arzt?«, fragte Helmut verwirrt.
»Er will einer werden«, sagte Annette, »aber er hat recht. Sabine ist bewusstlos, und du bist nervös, Helmut.«
»Menschenskind, sei doch nicht so nervös«, hatte sie damals zu ihm gesagt, wenn er an den Start ging. »Man muss doch nicht immer gewinnen.«
Er erinnerte sich daran, und Annette war jetzt auch so ruhig wie damals. Es gelang ihr jedenfalls, ruhig zu erscheinen.
Dr. Behnisch kam selbst herausgeeilt. Die Trage brachte Jan. Behutsam wurde Sabine darauf gebettet, ohne dass Dr. Behnisch Worte verlor.
»Der Blinddarm kann es diesmal ja nicht sein«, meinte er nur.
Dann trug er mit Jans Hilfe Sabine in die Klinik. Helmut und Annette folgten.
»So hätte ich mir unser Wiedersehen nicht vorgestellt«, sagte Annette jetzt leise.
»Ich habe überhaupt nicht daran gedacht, dass wir uns jemals wiedersehen würden«, gab er zu.
»So oder so ist das Leben«, murmelte sie. »Ich habe auch nicht daran gedacht, bis Sabine dann meine Schülerin wurde. Meine Lieblingsschülerin muss ich nun sagen, auch wenn man das nie sagen sollte als Lehrerin. Aber du hast eine sehr liebenswerte Tochter, Helmut.«
»Was meinst du, was ich von ihr zu hören bekomme, wenn sie erfährt, dass wir uns bereits in seliger Jugendzeit kennenlernten. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sie mit ihrem Vater umspringt.«
»O doch, das kann ich, und so unrecht wird sie nicht haben.«
»Du scheinst ja allerhand zu wissen. Sie hat wohl kein gutes Haar an mir gelassen?«
»Sie liebt dich, und das macht ihr zu schaffen. Aber jetzt ist mir Sabine wichtiger als du.«
Er hielt sie am Arm fest. »Den Jan muss es doch damals auch schon gegeben haben«, sagte er.
»Er war gerade geboren.«
»Aber du hast nichts von ihm erzählt.«
Sie sah ihn nachdenklich an. »So viel Zeit hatten wir doch gar nicht, über unsere privaten Dinge zu sprechen. Damals zählte nur der Sport, und mehr war da für uns auch nicht drin. Stimmt’s?« Und dann enteilte sie.
*
»Zu viel Sonne und ein Gewaltmarsch«, das war Dr. Behnischs Diagnose, aber er wollte Sabine ein paar Tage zur Beobachtung in der Klinik behalten.
»Ich habe morgen ein paar wichtige Gerichtstermine, die ich wahrnehmen muss«, sagte Helmut entschuldigend.
»Ich komme morgen Vormittag«, sagte Annette hastig.
»Sie wird jetzt erst mal schlafen«, erklärte Dr. Behnisch.
»Ich muss Finchen Bescheid sagen, dann komme ich noch mal«, erklärte Helmut.
»Sie können jetzt nichts tun«, erwiderte Dr. Behnisch. »Bleiben Sie zu Hause.«
»Wenn Sabine aufwacht …«
»Sie wird so schnell nicht aufwachen«, fiel ihm Dr. Behnisch ins Wort.
»Du brauchst auch Schlaf, Helmut«, sagte Annette resolut. »Das Kind ist gut aufgehoben.«
Sie verließen gemeinsam die Klinik. »Willst du noch mit Dr. Petersen sprechen, Ann?«, fragte Jan. »Ich möchte heimfahren, sonst machen sich die Großeltern Sorgen.«
»Nur noch einen Augenblick, Jan. Geh schon zum Wagen«, sagte sie.
Jan machte eine leichte Verbeugung zu Helmut, der aber sagte rasch:
»Ich möchte Ihnen danken.«
»Nichts zu danken, war selbstverständlich«, erwiderte Jan. Dann entfernte er sich.
Annette blickte Helmut ernst an. »Jan hat seine Eltern bei einem Flugzeugabsturz verloren. Er bleibt jetzt bei mir. Seine Großeltern machen ihre Kur auf der Insel der Hoffnung. Das zur Erklärung, damit wir uns nicht mit Fragen aufhalten. Dich möchte ich bitten, Sabine jetzt den Vorrang vor allen anderen Interessen zu geben, Sportsfreund.«
Er nahm ihre Hand und zog sie an seine Lippen. »Jetzt kann ich wenigstens verstehen, warum Sabine so von ihrer Lehrerin schwärmt«, sagte er leise.
»Du hättest die Lehrerin früher kennenlernen können, wenn du dich mehr für die Noten deiner Tochter interessiert hättest«, sagte Annette anzüglich.
»Ich kenne dich ja schon lange, Annette. Ich habe aber nie gedacht, dass du Lehrerin werden würdest. Du warst gar nicht der Typ.«
»Komisch«, sagte sie lächelnd, »dabei hatte ich nie ein anderes Ziel. Nun werden wir uns wohl öfter sehen, Helmut. Sabine wollte mich heute zum Abendessen einladen, damit ich ihren Paps kennenlerne. Das wäre mir lieber gewesen als diese Aufregung.«
»Mir auch, Annette. Ich danke dir. Dafür gibt es keine Worte.«
»Die sind auch überflüssig. Ich mag Sabine wirklich sehr.«
Sie ging. Sie blickte nicht zurück, und so konnte sie nicht bemerken, wie sein Blick ihr gedankenverloren folgte. Aber Jan sah es, und er betrachtete Annette nun forschend.
»Habt ihr euch sehr gut gekannt?«, fragte er.
»Wir waren im selben Sportverein. Ja, schau mich nur zweifelnd an, Jan, ich war mal eine gute Läuferin, und im Weitsprung konnte ich auch mithalten.«
»Daran zweifle ich gar nicht. Ich kenne ja deine Kondition. Beim Bergsteigen muss ich mich ja anstrengen, wenn ich mit dir Schritt halten will. Ihr habt euch später nicht mehr getroffen?«
»Nein, ich war damals ja auch noch sehr jung, und Helmut studierte in Hamburg. Seine Eltern lebten dort. Und in München trifft man sich nach so vielen Jahren wieder, weil seine Tochter meine Schülerin wurde.«
»Und seine Frau?«
»Sie verunglückte, als Sabine noch ein kleines Kind war. Mich kannte er ja nur unter meinem Mädchennamen.«
Aber nun warteten Willem und Henrike Straaten auf sie, denn sie wollten sich bald zur Ruhe begeben. Annette hatte sich immer bestens mit Jans Großeltern verstanden, die sehr unter dem Tod des Sohnes und der Schwiegertochter, der sie sehr zugetan gewesen waren, gelitten hatten. Sie hatten diese Zuneigung auf Annette übertragen.
»Du machst wohl auch allerhand mit, mit deinen Schulkindern«, meinte Henrike mitfühlend.
»Das ist ein besonderer Fall, Granny«, sagte sie, »und es handelt sich um ein ganz besonders nettes Mädchen. Sie ist nicht einfach ausgerissen. Sie befindet sich in einer Konfliktsituation.«
Henrike nickte verständnisvoll, »Es ist nicht so einfach mit dem Erwachsenwerden«, sagte sie sinnend. »Durch dieses Stadium muss jeder mal durch. Leider vergessen es viele und werden dann ungerecht der Jugend gegenüber.«
»Es hat nicht jeder das Glück, solche Großeltern und solche Tante zu haben wie ich«, sagte Jan.
Finchen hatte sich halbwegs beruhigt, aber sie nahm sich doch einmal die Freiheit, mit ihrer Meinung bezüglich der unerfreulichen Entwicklung im Familienleben herauszurücken.
Nun bekam Helmut auch von ihr allerlei Wahrheiten zu hören, und er schluckte sie widerspruchslos.
»Hast ja recht, Finchen«, sagte er. »Einem alten Esel kann man sogar Hörner aufsetzen.«
»So blöd werden Sie dann wohl doch nicht sein«, brummelte sie. »Was ein rechtes Mannsbild ist, kann doch mit der Faust auf den Tisch schlagen.«
»Was das Mannsbild auch getan hat, aber manchmal bekommt man dann noch einen Dolch in den Rücken gestoßen.«
Finchen begriff das nicht, und sie sah ihn voller Entsetzen an. »Man kann Sie deswegen doch nicht umbringen«, flüsterte sie.
»So wörtlich war es nicht gemeint, man muss für jede Dummheit bezahlen, Finchen, und ein Anwalt sollte das am besten wissen.«
»Ein gestandener Mann sollte nicht auf eine Modepuppe hereinfallen«, erklärte Finchen. »Ich will mich ja nicht einmischen, aber Sabinchen war gescheiter als der Vater.«
»Das habe ich mittlerweile auch begriffen. Wir wollen nicht streiten, Finchen, ich gehe ja in mich.«
»Und diese Person kommt nicht mehr ins Haus?«
»Bestimmt nicht. Die Suppe, die ich mir eingebrockt habe, löffle ich auch allein aus.«
»Schlimm wird es mit dem Kindchen doch nicht sein«, fragte Finchen ängstlich.
»Ich hoffe, dass wir sie übermorgen wieder heimholen können.«
So schnell kam aber Sabine doch nicht auf die Beine. Ein bisschen viel war da zusammengetroffen. Das Eis auf den leeren Magen, die übermäßige Sonnenbestrahlung, dann der lange, ermüdende Marsch durch den Wald.
Selbst ein sportliches Mädchen konnte die Folgen so schnell nicht verkraften. Und hinzu kam ja auch noch Sabines seelische Verfassung. Apathisch lag sie in dem Krankenzimmer, konnte zuerst gar nicht begreifen, wo sie war, als sie die Augen aufschlug. Aber Jenny Behnischs Gesicht kannte sie und sie flüsterte:
»Da hab’ ich mir wohl selbst eins auf den Deckel gegeben?«
»Du hast dir ein bisschen viel zugemutet, Sabine, deine Kräfte überschätzt, und auf nüchternen Magen sollte man besser kein kaltes Eis essen, noch dazu, wenn die Sonne auf den bloßen Kopf herunterbrennt.«
»Wer hat mich denn gefunden?«, fragte Sabine.
»Frau Dr. Becker.«
Sabines Gesicht verklärte sich. »Sie hat mich gesucht«, flüsterte sie. »Wenn sie nicht meine Lehrerin bleibt, will ich nicht mehr zur Schule gehen.«
Sie fieberte immer noch, und ihr Gesicht war geschwollen vom Sonnenbrand. Jenny legte kühlende Salbe auf und hängte dann den Tropf an. Sabine schlief wieder ein.
Wenig später erschien Helmut Petersen. Es war noch nicht halb acht Uhr, und man sah ihm an, dass er nicht viel geschlafen hatte.
»Hat sie schon etwas gesagt?«, fragte er heiser
»Ein paar Worte«, erwiderte Jenny.
»Was hat sie gesagt?«
»Dass sie nicht mehr zur Schule gehen will, wenn Frau Becker nicht ihre Lehrerin bleibt.«
»Meinetwegen braucht sie nicht mehr zur Schule zu gehen. Es wird sich schon ermöglichen lassen, dass der Kontakt zu Frau Becker nicht abreißt.«
Jenny sah ihn überrascht an. Er wurde verlegen. »Zufällig haben wir herausgefunden, dass wir uns in der Jugendzeit schon mal kennenlernten«, erwiderte Helmut hastig. »Frau Becker und ich«, fügte er erklärend hinzu, weil Jenny ihn so ungläubig anblickte. »Sabine hat davon noch keine Ahnung, aber es wird sie freuen, wenn sie es erfährt.«
»Und darauf sind Sie nicht früher gekommen?«, fragte Jenny staunend.
»Wie sollte ich? Damals hieß Frau Becker noch Wernecke.«
»Dann ist sie verheiratet?«
Helmut schrak sichtlich zusammen. »Danach habe ich noch nicht gefragt, aber Sabine wird das wohl besser wissen als ich. Mein Gott, wie das Kind ausschaut! Sie wird doch hoffentlich nicht entstellt bleiben?«
»Das nicht, aber sie wird künftig die Sonne meiden müssen«, erwiderte Jenny. »Aber für uns ist es wichtiger, dass sonst keine Folgeschäden bleiben, vor allem keine psychischen.«
»Ich wollte nicht sagen, dass mir Äußerlichkeiten wichtig sind, aber für ein Mädchen wäre es doch schlimm, immer an eine Unbesonnenheit erinnert zu werden.« Er starrte zu Boden. »Und für mich wäre es auch schlimm.«
»Gar so schlimm ist es ja nicht«, sagte Jenny beruhigend. »In ein paar Tagen wird Sabine wieder ganz normal aussehen. Wenn Sie sich dann mehr um ihr Seelenleben kümmern, wird wohl auch da kein bleibender Schaden zu fürchten sein.«
»Ich werde die Ferien mit ihr verbringen, mit ihr allein. Sie wissen doch, wie sehr ich mein Kind liebe.«
»Darüber dürfen Sie aber nicht vergessen, dass Sabine den Kinderschuhen entwachsen ist.«
»Ich werde es nicht mehr vergessen«, sagte Helmut rau.
*
Annette Becker kam am Vormittag und ihre Nähe schien Sabine mehr zu spüren, als die ihres Vaters. Sie schlug bald die Augen auf und lächelte. Aber die Haut spannte, und das Lächeln tat weh.
»Sie haben mich gefunden«, flüsterte sie. »Sehe ich schlimm aus?«
»Einen ordentlichen Sonnenbrand hast du dir geholt, aber das wird schon wieder«, sagte Annette. »Musste das sein, Sabine?«
»Ich bin doch zu Paps gefahren, aber sie war bei ihm, und da war ich sauer. Ich habe Annabel besucht.«
»Annabel?«, fragte Annette.
»Rolf wird sie heiraten. Sie liegt hier in der Klinik. Mit ihr kann ich auch reden, und Sie haben doch Besuch.«
»Du hättest trotzdem zu mir kommen können, Sabine«, sagte Annette leise.
»Ich will Ihnen ja nicht auf die Nerven fallen. Was sollen Sie denn von mir denken. Ich bin doch nicht schizophren.«
»Liebe Güte, das wäre auch noch schöner, wenn ich das denken würde. Du warst also stocksauer, aber deshalb braucht man nicht gleich auszubüxen.«
»Bin ich doch gar nicht. Ich wollte ja heimgehen, aber da habe ich Thomas getroffen, und wir wollten auf ein Eis in den Seeblick. Na ja, gedacht habe ich schon, dass Paps sich ruhig mal Sorgen um mich machen könnte.«
»Aber an die andern, die sich auch Sorgen machen um dich, hast du nicht gedacht, Sabine.«
»Ich hatte Mattscheibe, einfach eine Mordswut auf die Matthei und auch auf Paps, aber dann haben sie da draußen wieder so blöd geredet. Die finden das vielleicht geistreich, aber es ist alles so oberflächlich, und mir war einfach schlecht. Aber Thomas wollte mich nicht heimbringen, und dann bin ich einfach losgelaufen. So war es, nicht anders. Ich wollte nach Hause und schlafen.«
»Und dann bist du unterwegs eingeschlafen«, sagte Annette.
»Das weiß ich nicht mehr. Wieso haben Sie mich gefunden? Sie wussten das doch gar nicht.«
»Dein Vater hat dich gesucht. Er hatte große Angst. Er suchte dich auch bei mir, und da sind wir dann gemeinsam auf die Suche gegangen. Aber gefunden hat dich eigentlich Jan, mein Neffe.«
»Wieso?«, fragte Sabine.
»Dein Vater fuhr die Hauptstraße und ich die Nebenstraße, und Jan fuhr mit mir. Er sah da was Helles liegen im Wald. Ich bin heilfroh, dass wir dich gefunden haben, bevor es Nacht wurde, Sabine.«
»Ich hatte ja nicht gedacht, dass der Weg so weit ist. Es tut mir so leid, dass Sie meinetwegen gestört worden sind.«
»Reden wir nicht davon. Reden wir von deinem Vater, der höllische Angst ausgestanden hat.«
»Das geschieht ihm doch ganz recht«, sagte Sabine trotzig. »Jetzt muss er sich entscheiden zwischen dieser Ziege und mir.«
»Er hätte sich doch nie gegen dich entschieden, Sabine«, sagte Annette eindringlich. »Ich habe deinen Vater als einen fairen Sportsmann kennengelernt.«
»Als einen Sportsmann? Für Sport hat er doch gar keine Zeit mehr, seit ihn diese – ich weiß nicht, wie ich sie noch bezeichnen soll, umgarnt. Sie will ihn doch bloß ausnehmen, das ist so eine Type. Ich kann es nicht begreifen. Ich werde es nie begreifen. Es macht mich krank«, schluchzte Sabine auf.
Annette griff nach ihren Händen. »Jetzt hör mir mal gut zu, Kleines«, sagte sie weich. »Ich habe deinen Vater tatsächlich als einen fairen Sportsmann kennengelernt, aber das ist schon ziemlich lange her. Da war ich auch noch sehr jung und ich hieß damals Wernecke. Deswegen konnte er doch gar nicht auf den Gedanken kommen, dass ich jene Annette Wernecke sein könnte, die nun als Dr. Becker die Klassenlehrerin seiner Tochter war.«
»Das verstehe ich nicht. Wieso denn Wernecke und jetzt Becker?«
»Weil ich auch mal verheiratet war, wenn auch nur kurze Zeit, Sabine. Auch ich habe einen Fehler gemacht. Du siehst, dass ich so superklug auch nicht bin.«
Sabine sah sie fassungslos an. »So was verstehe ich erst recht nicht«, murmelte sie. »Wenn ein Mann so eine Frau bekommt, muss er doch dankbar sein.«
»Wir werden uns darüber einmal ganz eingehend unterhalten müssen, Sabine. Ich möchte dir jetzt nur begreiflich machen, dass jeder Mensch Fehler machen kann, wenn er auch noch so klug ist und sich seiner selbst so sicher. Zwischenmenschliche Beziehungen sind vielen Gegensätzlichkeiten unterworfen. Und was zuerst im rosigen Licht erscheint, kann in einem Fiasko enden. Ich hoffe, dass dir solche Erkenntnis erspart bleibt.«
Sabines Augen waren jetzt weit und erwartungsvoll auf Annette gerichtet.
»Sie haben Paps früher gekannt?«, fragte sie, »richtig persönlich?«
Annette nickte und erzählte von damals. Und Sabine lauschte wieder mit verklärtem Lächeln.
»Paps hat nie erzählt, dass er so ein toller Sportler war«, sagte sie.
»Er ist halt kein Angeber.«
Schweigend lehnte sich Sabine zurück. »Und wenn er Sie geheiratet hätte, wären Sie meine Mutter«, flüsterte sie.
Jetzt wurde Annette tatsächlich rot. »Aber davon war doch, konnte doch gar nicht die Rede sein«, sagte sie hastig. »Ich war knapp siebzehn und er mitten im Studium.«
»Und er heiratet eine andere, die bloß Blödsinn macht. Glücklich war er doch nicht.«
Annette erschrak. »Das kannst du doch nicht sagen, Sabine. Du sprichst von deiner Mutter.«
»Sie hat mich zur Welt gebracht, aber eine gute Mutter war sie nicht. Ich habe mal mit Rolf darüber gesprochen. Vielleicht ist Paps dadurch völlig verkorkst worden.«
»Dann wäre er doch nicht so ein tüchtiger Anwalt geworden, Sabine. Du darfst nicht so denken.«
»Ich meine das ja auch nur in Bezug auf Frauen. Er hat an die Liebe nicht mehr geglaubt. Glauben Sie auch nicht mehr daran?«
Annette hatte längst begriffen, wie dieses Mädchen ihrem Vater zu schaffen machte. Sie fühlte sich auch in die Enge gedrängt.
»Liebe ist ein weiter Begriff, Sabine«, sagte sie stockend. »Es ist nicht nur ein Wort, das man hier und da anwenden kann.«
»Ja, ich weiß, es wird missbraucht«, sagte das Mädchen. »Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Mann und eine Frau zusammenleben können, wenn sie sich nicht lieben, mit allen Konsequenzen, die sich daraus ergeben.«
»Warum machst du dir nur jetzt schon so viele Gedanken, Sabine?«, fragte Annette sinnend.
»Es hängt doch soviel davon ab. Ich habe mir auch so oft gewünscht, eine Mutter zu haben, und die, die eine haben, reden oft so dumm daher. Sie wissen das doch auch.«
»Ja, ich weiß es, Sabine, aber so junge Menschen wie du machen sich selten solche Gedanken.«
»Ich habe mir auch keine gemacht, bis Paps mit dieser Irene daherkam. Da habe ich es mit der Angst gekriegt, dass nun alles kaputtgehen könnte, was schön war. Wenn es eine Frau wie Annabel gewesen wäre, oder wie Sie, dann wäre es doch ganz anders gewesen. Ich verstehe ja, dass er nicht immer bloß mit mir und Finchen zusammen sein will. Er ist ja noch nicht alt.«
Nun kam Annette doch ein Lächeln aus. »Nein, alt ist er wirklich noch nicht«, sagte sie. »Ich habe ihn gleich erkannt.«
»Er Sie auch?«
»Vielleicht nicht auf Anhieb, aber er hat gemeint, dass wir uns doch schon mal begegnet wären. Aber ich wusste ja immerhin schon vorher, dass er dein Vater ist, Sabine.«
»Und warum haben Sie es nicht gesagt?«
»Siehst du, das ist auch ein bisschen schwierig in den zwischen-menschlichen Beziehungen. Es kann leicht missverstanden werden. Und wenn eine Frau sich in Erinnerung bringt, kann es sogar peinlich für sie sein, wenn sich der Mann überhaupt nicht mehr an sie erinnert. Das ist dann auch für die Beziehung zwischen Lehrerin und Schülerin nicht angenehm.«
»Aber Sie sind doch für mich viel mehr, als nur die Lehrerin. Ich habe Sie sehr lieb«, sagte Sabine leise.
»Das weiß ich jetzt«, erwiderte Annette. »Ich habe dich auch lieb, und wir werden gemeinsam versuchen, die Konflikte zu lösen, die dich beschäftigen.«
»Sagen Sie Paps auch mal gehörig die Meinung?«
»Das werde ich mir überlegen, wenn wir ein bisschen Abstand gewonnen haben. Aber ich denke, er kann immer noch ein fairer Sportsfreund sein.«
»Jetzt ist mir schon bedeutend wohler. Paps kann Vergleiche ziehen.«
»Du bist ein richtiges Unikum, Sabine«, lächelte Annette. »Jetzt schaust du aber schon viel besser aus.«
Sabine schloss die Augen. »Ich dachte, ich würde sterben, aber ich wollte nicht sterben.« Ihre Stimme war nur noch ein Hauch. »Ich habe dich so lieb, so lieb…«
Und Annette beugte sich herab und küsste sie auf die Stirn. Und über ihre Wangen rollten Tränen, als Sabine eingeschlafen war.
*
Annabel war es schonend beigebracht worden, was sich am vergangenen Tag zugetragen hatte. Sie hatte mittags ein langes Telefongespräch mit Rolf geführt, und der hatte sich dann eingehend von Dr. Behnisch informieren lassen, wie Sabines Zustand ärztlich zu beurteilen war.
Rolf konnte wochentags schlecht weg, aber er wollte am Wochenende kommen, um dann seinen Bruder nochmals ordentlich ins Gebet zu nehmen.
Helmut hatte seine innere Zerrissenheit an diesem Tag auf ungewöhnliche Weise abreagiert. Er hatte einen Prozess gewonnen, der eigentlich gar nicht zu gewinnen gewesen war und für den er nur einen Vergleich vorausgesehen hatte. Aber plötzlich hatte er die Gegebenheiten anders betrachtet als vorher, und war leidenschaftlich für seinen Mandanten eingetreten, der von seiner Geschäftsführerin auf Schadenersatz verklagt worden war wegen eines nicht eingehaltenen Heiratsversprechens. Der Mandant hatte nie bestritten, dieses Versprechen gegeben zu haben, aber auch beteuert, von der Frau betrogen worden zu sein..
Sein Mandant war fassungslos über das Ergebnis, und Helmut sagte man nach, dass er eine Sternstunde gehabt haben müsse. Und dabei hatte er anstelle dieser ebenfalls attraktiven Frau plötzlich Irene gesehen, die ihm mit ähnlichen Drohungen gekommen war, und es gab mehrere vergleichbare Fälle.
Vom Gericht aus fuhr er gleich zur Behnisch-Klinik, doch Sabine schlief da noch immer nach dem langen Besuch von Annette, über den Jenny berichtete.
Er rief sie von der Klinik aus an und fragte sie, ob sie mal eine Stunde Zeit für ihn hätte, bevor sie ihre Urlaubsreise antrat.
Sie zögerte einen Augenblick. »Du kannst ja, wenn du Zeit hast, bei mir vorbeikommen«, sagte sie.
»Du hast doch Besuch!« Wie leicht ihnen beiden das Du über die Lippen ging!
»Es lässt sich schon einrichten, dass wir allein sprechen können«, erwiderte Annette. »Am Wochenende bringe ich die Straatens zur Insel der Hoffnung.«
»Gut, wenn es dir recht ist, komme ich nach sechs Uhr. Solange werde ich noch in der Kanzlei zu tun haben.«
»Sabine solltest du auch besuchen.«
»Ich bin in der Klinik, aber sie schläft. Ich habe schon gehört, dass du sie besucht hast. Danke!«
»Ist doch selbstverständlich. Ich habe ihr übrigens erzählt, dass wir uns früher schon mal begegnet sind.«
»Und was hat sie gesagt?«
»Das wird sie dir schon selber erzählen. Bis dann.«
Knapp und klar wie sie selbst, waren ihre Worte. Da musste Irene freilich bei einem Vergleich schlecht abschneiden, und für Sabine war Annette nun mal ein leuchtendes Vorbild.
Aber Annette war schon als Mädchen sehr reserviert gewesen, jedem Flirt abhold. Aber sie hieß jetzt Becker, und das bewies, dass sie verheiratet gewesen war, oder auch noch?
Helmut ging zu Sabines Zimmer zurück, und jetzt war sie wach. Es schmerzte ihn, dass sie keine Freude über seinen Besuch zeigte.
»Da hast du mir ja einen schönen Schrecken eingejagt«, sagte er leise. »Warum hast du gestern Mittag nicht ein paar Minuten gewartet? Frau Matthei hat sich doch nicht lange aufgehalten. Sie war in einer rechtlichen Angelegenheit bei mir.«
»Wer sich entschuldigt, klagt sich an«, sagte sie trotzig.
»Sei nicht so bockig, Sabine, ich brauche mich nicht zu entschuldigen, für gestern jedenfalls nicht. Ich bin fertig mit Irene.«
»Wenn ich es nur glauben könnte!«, seufzte sie, »aber ich hab’s im Gefühl, dass für sie noch lange nicht Schluss ist.«
»Das mag sein, aber für mich ist Schluss, und auch ein Ende mit Schrecken wird daran nichts ändern.«
»Kann sie dir was anhängen?«, fragte Sabine.
»Nicht direkt, aber sie hat ein paar gute Bekannte, die möglicherweise beschwören, dass von Heirat die Rede gewesen sei. Sie hat ja davon geredet.«
»Es geschieht dir ganz recht«, sagte Sabine aggressiv. »Auf mich wolltest du ja nicht hören. Aber so ein Mädchen wie Annette hat dich nicht interessiert. Sie hat mir erzählt, dass ihr euch früher kanntet. Sie war doch da bestimmt auch schon ein hübsches Mädchen.«
»Aber sie war knapp siebzehn, und auch so kratzbürstig wie du. Sie hatte für Jungen nichts übrig. Sie war eine sehr gute Sportlerin.«
»Du hast mir nie erzählt, dass du auch sehr schnell warst.«
»Du liebe Güte, das ist ewig her, und vielleicht hätte ich es dir dann beweisen sollen, und dazu bin ich nicht mehr in Form.«
»Man sollte nicht träge werden, das schadet auch dem Geist.«
Er lachte auf. »Meinen Verstand muss ich aber tagtäglich gebrauchen, und der wird so strapaziert, dass er möglicherweise im Privatleben Fehlzündungen hat. Wollen wir das Kriegsbeil nicht endlich begraben, Binni? Kannst du mir diesen Fehltritt nicht verzeihen?«
Sie blinzelte. »Wenn wirklich Schluss ist, erteile ich dir Absolution«, erwiderte sie schelmisch. »Und jetzt weißt du ja, wie eine Frau sein muss, die ich akzeptieren kann. Du kannst dir ein Beispiel an deinem Bruder nehmen. Hast du Annabel schon kennengelernt?«
»Ganz kurz.«
»Gefällt sie dir etwa nicht?«
Er sah sie überrascht an. »Rolf würde es nicht gefallen, wenn sie mir gefiele, aber er hat guten Geschmack.«
»Sie wäre ja für dich zu jung.«
»Jetzt mach mich nicht gleich zum Tattergreis. Aber zu deiner Beruhigung möchte ich dir sagen, dass mir Annette noch besser gefällt.«
»Dann streng dich mal an.«
»Gehst du nicht ein bisschen zu weit? Sie hieß früher Wernecke und jetzt heißt sie Becker.«
»Weil sie auch mal reingefallen ist, aber nur kurzfristig. Das muss ein Depp gewesen sein. Solche Frau gibt man doch nicht auf.«
»Sei doch froh, dass es so ist, sonst könnte ich mir doch gar keine Chance ausrechnen, dass nun doch noch werden könnte, was damals nicht sein sollte.«
Sabine richtete sich steil auf. Sie hatte alle Schmerzen vergessen.
»Ist das ernst gemeint, Paps?«, fragte sie bebend vor Erregung.
»Von mir aus schon, aber dazu gehören immer zwei, mein Kleines, und Annette ist eine Persönlichkeit. Verlier dich nicht in Träume. Eine gute, ehrliche Freundschaft ist manches Mal wertvoller, und du hast ja wohl ein bisschen dafür gesorgt, mich als einen Bruder Leichtfuß hinzustellen.«
»Nein, das habe ich nicht. Ich habe nur auf die Matthei geschimpft. Annette hat gesagt, dass sie so superklug auch nicht ist, da sie ja auch Fehler gemacht hat. Die zwischenmenschlichen Beziehungen gestalten sich eben oft schwierig. Vielleicht passiert es mir auch, dass ich an den Falschen gerate.«
»Hoffentlich wirst du dann auf deinen nochmals klüger gewordenen Vater hören, Binni. Aber zwischen uns ist jetzt doch wieder alles okay?«
Sie nahm seine Hand und drückte sie an die heiße Wange. »Jetzt bin ich richtig froh, dass ich mir den Sonnenstich geholt habe. Annette hat mich gefunden und ihr habt euch getroffen. Hast du sie gleich erkannt?«
»Sie kam mir gleich sehr bekannt vor, so will ich es formulieren, aber sie hat sich seit damals sehr gemausert. Da war sie genauso dünn wie du und nicht sehr weiblich.«
»Und das ewig Weibliche zieht die Männer eben an«, seufzte Sabine. »Na, vielleicht bekomme ich auch noch eine anständige Figur.«
Nun konnte Helmut wieder lachen. »Du wirst ja hoffentlich nicht in Blitzesschnelle einen Mann erobern wollen, Binni. Das tust du mir nicht an.«
»Wenn du Annette heiraten würdest, würde ich immer bei euch bleiben«, sagte sie schwärmerisch. »Und was ich dazu tun kann, tue ich, Paps.«
»Aber bitte nicht mit deiner Holzhammermethode«, sagte er.
*
Dr. Norden hatte einen kurzen Besuch beim Ehepaar Straaten gemacht, um sich zu überzeugen, dass sie den Flug gut überstanden hatten und auch für die Autofahrt fit waren, denn sie hatten beide mit Kreislaufstörungen zu tun.
Man kannte sich nun schon Jahre, und die Straatens wollten auch wissen, wie es der Familie ging, vor allem dem Zwillingsnachwuchs.
Daniel Norden bat sie, sie am Abend zu besuchen. Natürlich auch Annette und Jan.
»Ich habe schon eine Verabredung mit Dr. Petersen getroffen«, erklärte Annette. »Wir müssen uns mal über Sabine unterhalten.«
»Das wird gut sein«, sagte Dr. Norden. »Ich habe schon vernommen, was da passiert ist. Sabine muss schon recht durcheinander gewesen sein. Sie ist sonst ein überaus vernünftiges Mädchen. Wie war ihr Zeugnis?«
»Sehr gut. Sie ist sehr intelligent. Eine kleine Philosophin möchte ich fast sagen.«
»Und sie hat jetzt eine vorzügliche Lehrerin.«
»Wenn man nur zu allen Schülern solchen Kontakt herstellen könnte«, sagte Annette nachdenklich. »Aber die meisten sperren sich dagegen und betrachten die Schule als Strafe und die Lehrer als Tyrannen.«
»Und später sieht man dann meist ein, dass die Schulzeit eine schöne Zeit war«, sagte Daniel lächelnd. »Mancher Lehrer liegt einem eben nicht. Mir ging es auch so.«
»Mir auch«, bestätigte Annette, »und deshalb wollte ich eine verständnisvolle Lehrerin werden. Aber lieber Dr. Norden, es nützt alles nichts, wenn man keine Resonanz findet, wenn man gar nicht verstanden werden will. Und es ist so schade, wenn junge Menschen sich selbst den Weg verbauen, weil sie gegen alle und jeden sind. Aber Sabine hat Durchblick, und so bleibt auch eine Lehrerin manchmal nicht objektiv, sondern engagiert sich.«
»Was ich sehr, sehr anerkennenswert finde. Sabine wird es Ihnen danken.«
»Sie hat mir aber schon eröffnet, dass sie nicht mehr zur Schule gehen will, wenn ich die Klasse nicht behalte.«
»Sie werden das schon hinbringen«, sagte Daniel Norden lächelnd.
Fee Norden freute sich auf die Gäste. Mit den Straatens waren sie schon öfter auf der Insel der Hoffnung zusammen gewesen. Sie lagen ganz auf ihrer Linie in ihrer Warmherzigkeit und Menschenfreundlichkeit. Das Leid hatte sie nicht verbittert, sondern besinnlicher gemacht, aber Fee gefiel es ganz besonders, dass sie den einzigen Enkel nicht einzwängten, sondern ihm seine Entscheidungsfreiheit ließen.
Ebenso wie seine Großeltern betrachtete Jan die Zwillinge staunend und begeistert.
»Ich habe noch nie so kleine Kinder richtig angeschaut, und dann gleich zwei auf einmal, die sich so ähnlich sind«, sagte er. »Wie können Sie die auseinanderhalten, Frau Norden?«
»Das lernt man sehr schnell«, sagte Fee lächelnd.
»Und wir wissen’s genau, wenn sie gewickelt werden«, sagte Danny. »Da kann man Buben und Mädchen leicht unterscheiden.«
Da hatte er die Lacher auf seiner Seite. »Es ist wundervoll, wie unbefangen die Kinder sind«, sagte Henrike Straaten, »wie sind wir doch noch streng erzogen worden.«
»Ja, ja, schwer hat sie es mir gemacht, meine Henrike, bis ich sie mal küssen durfte«, sagte Willem Straaten, »weil sie dachte, sie bekäme da gleich ein Kind. Jemine, das war damals ja auch so eine Affäre.«
Und es wurde viel gelacht an diesem Abend, weil alle Humor hatten. Und die Nordens freuten sich, dass Willem und Henrike Straaten nun den schlimmsten Schmerz doch überwunden hatten. Aber an Jan konnten sie sich ja freuen. Er war so herzlich, so natürlich und so bescheiden, wie man es selten erlebte bei jungen Männern aus vermögenden Familien.
Und während hier gelacht wurde, führten Annette und Helmut schon ein sehr ernstes Gespräch. Sie machte da gar keine Umschweife. Sie sagte ihm unverblümt ihre Meinung.
»Du hättest Sabine fragen müssen, ob sie was dagegen hat, wenn deine Freundin mit euch den Urlaub verbringt, Helmut.«
»Sie ist nicht meine Freundin, nicht mehr, und als Freundin kann man so was auch nicht bezeichnen. Aber was nützt es, wenn ich meine Dummheit erst im Nachhinein einsehe. Ich hatte Mattscheibe, das gebe ich ja zu.«
»Sie ist attraktiv, das ist nicht zu leugnen, da lässt sich ein Mann schon leicht verführen«, sagte Annette ruhig.
»Du kennst sie?«, fragte er erstaunt.
»Ich war mal in ihrer Boutique. Ich habe mir sogar eine Bluse gekauft. Ich wollte mich überzeugen, ob Sabine mit ihrer Antipathie recht hat, oder ob sie eben nur eifersüchtig ist, und ich muss sagen, dass ich dir auch größere Ansprüche zugetraut habe. Geistige Ansprüche.«
»Ich habe nicht allzu viel Zeit mit ihr verbracht«, sagte er kleinlaut. »Sabine hat nur gedacht, dass ich immer mit ihr zusammen war, wenn ich mal später nach Hause kam. Aber ich habe ja auch berufliche Verpflichtungen.«
»Bei mir brauchst du dich nicht zu entschuldigen«, sagte Annette. »Du kannst nur froh sein, dass Sabine nicht so ein Mädchen ist, das gleich bei irgendeinem Kerl Entschädigung für verlorene Vaterliebe suchte. Und manchmal gibt es in solchen Situationen noch schlimmere Ausrutscher. Auch Anwaltstöchter sind vor Versuchungen nicht gefeit, wenn sie sich vernachlässigt fühlen. Du hättest jedenfalls spätestens bemerken müssen, dass bei Sabine etwas nicht mehr stimmt, als ihre schulischen Leistungen so nachließen.«
»Ich habe sie nach dem Grund gefragt, und sie hat ihn mir gesagt. Sie hat mir ihre Meinung noch weitaus deutlicher gesagt als du, aber da hing ich schon ziemlich in diesem Netz.«
»Und wie soll es weitergehen?«
»Es ist vorbei, finish, Annette.«
»Trinken wir ein Gläschen Wein«, sagte sie. »Auf deine Einsicht, allerdings bin ich nicht überzeugt, dass sie so schnell aufgibt.«
»Auf dein Wohl, und Dank dafür, dass du so viel Geduld und Nachsicht zeigst. Nein, so schnell gibt sie nicht auf. Sie wollte auf die Schnelle mal eine kleine Erpressung versuchen, aber für dumm verkaufen lasse ich mich doch nicht.«
»Sei ehrlich, Helmut, kann sie dir Schwierigkeiten machen?«
»Mit Intrigen oder sagen wir besser Hetze, kann man manches erreichen, und unter den sogenannten Kollegen habe ich nicht nur Freunde. Aber mich kriegt man nicht so schnell klein. Mich würde es schlimmer treffen, wenn du mich jetzt verachtest.«
»Das steht mir gewiss nicht zu. Mir liegt Sabines Wohl am Herzen, und wenn sie wieder froh sein kann, sei dir vergeben«, sagte sie mit einem kleinen Lächeln.
»Sie hat mir bereits Absolution erteilt.«
»Unter welchen Bedingungen?«
»Wie kommst du darauf?«
»Ich kenne doch Sabine. Sie stellt Bedingungen.«
»Nun, wir werden den Urlaub jedenfalls allein verbringen.«
»Wann fahrt ihr?«
»Ich kann noch nicht gleich weg. Mein Urlaubstermin steht fest.«
»Wie wäre es dann, wenn du sie auch bis dahin auf die Insel der Hoffnung schicken würdest?«
»Ob sie damit einverstanden ist? Sie würde wahrscheinlich lieber in deiner Nähe sein.«
»Und ich bin nicht dafür, ihr allzu viel Zugeständnisse zu machen. Wenn ich ihre Klassenlehrerin bleibe, könnte die Situation dadurch für mich schwierig werden, Helmut. Sie hat bereits einen Sieg errungen. Sie darf nicht denken, dass alles so einfach geht, wie sie es sich vorstellt. Ich weiß, was in ihrem Köpfchen vor sich geht.«
»Was?«
»Sie will uns verkuppeln. Es kommt ihr natürlich wie gerufen, dass wir uns in unserer Jugend schon kennenlernten.«
»Und solche Gedanken sind
dir unangenehm?«, fragte er stockend.
»Ich bin keine siebzehn mehr, und ich habe auch Lehrgeld gezahlt.« Sie sah ihn an. »Wir waren damals Sportfreunde, und wir könnten ganz gute Freunde sein. Jan wird hier studieren und bei mir wohnen, und ich habe meinen Beruf wie du deinen.«
»Und sonst hast du keine Wünsche mehr?«, fragte er.
»Gebranntes Kind scheut das Feuer, sagt man doch. Ich habe einen gehörigen Nasenstüber bekommen.«
»Du warst doch immer so reserviert.«
»Auch das schützte nicht vor Torheit. Deshalb versage ich dir auch mein Verständnis nicht. Jobst Becker war ja so ein lieber Junge. Jeder hatte ihn gern, und er war ein unverstandener Mann, als ich nicht mehr bereit war, seine Faulheit zu unterstützen. Er fand eine andere, die auf seinen Charme genauso hereinfiel wie ich, bis sie auch die Nase voll bekam. Sie hat allerdings auch finanziell gewaltig draufgezahlt. Bei mir hielt sich das in Grenzen. So, nun weißt du Bescheid.«
»Ich bin froh, dass wir miteinander sprechen konnten, Annette, und ich hoffe, dass dies noch oft möglich sein wird. Und wenn Sabine zu überreden ist, auch auf die Insel der Hoffnung zu gehen, bin ich einverstanden.«
»Ich werde mit ihr darüber sprechen. Überreden lässt sie sich nicht zu etwas, womit sie nicht einverstanden ist. Willem und Henrike Straaten sind liebe Menschen, die sehr viel Verständnis für die Jugend haben und sehr gern junge Menschen um sich haben. Und die Weisheit des Alters kann vor mancher Torheit bewahren.«
»Du meinst, dass es eine Torheit wäre, wenn Sabine hofft, dass wir zueinander finden könnten?«
»Ich meine, dass man es nicht einem jungen Mädchen überlassen sollte, bestimmend und aus egoistischen Motiven in das Leben von zwei erwachsenen und doch halbwegs reifen Menschen eingreifen zu wollen. Gefühle lassen sich nicht bestimmen, Helmut. Ich weiß, dass du jetzt bereit bist, Sabine jeden Wunsch zu erfüllen, aber für ein Abenteuer bin ich doch nicht mehr jung genug.«
»Es wäre kein Abenteuer, Annette.«
»Denken wir mal nüchtern, Helmut. Wir kannten uns damals ein paar Monate, aber man kann nicht sagen, dass wir uns richtig kannten, Gut, wir haben uns verstanden, dann trennten sich unsere Wege über lange Jahre. Jetzt sieht unser Leben ganz anders aus als damals. Meine Güte, jetzt halte ich dir Vorträge wie die Schulmeisterin Becker.«
»Und für mich bist du Annette Wernecke, und daran werde ich anknüpfen, mit viel Geduld und Ausdauer. Das musst du mir gestatten. Schick mich nicht gleich in die Wüste.«
»Da sei Gott vor«, sagte Annette. »Du hast es ja gesagt, Geduld und Ausdauer! Und in Geduld wird sich Sabine auch noch üben müssen.«
»Du hast sie doch gern«, sagte Helmut.
»Sehr gern sogar, aber sie muss begreifen, dass sie auch einsichtig sein muss.«
»Du bist sehr konsequent, Annette.«
»Das muss man sein. Der schlimmste Erziehungsfehler ist, dass man in manchen Dingen zu nachsichtig, in anderen dann zu streng ist. Aber noch schlimmer ist es, wenn man je nach Laune handelt.«
»Du meinst damit, dass ich heute gutheiße, was mir gestern nicht gefiel?«
»Oder umgekehrt. Um ein Beispiel zu sagen, das besonders relevant ist. Eltern erlauben ihren Kindern auf eine Party, in eine Disco oder ins Kino zu gehen, weil sie selbst ausgehen oder auch ihre Ruhe haben wollen, und am nächsten Tag erfahren sie, was auf der Party los war oder in der Disco, oder was sich die Kinder für einen Film angesehen haben, und dann gehen sie auf sie los, anstatt vernünftig mit ihnen darüber zu reden, weil sie an diesem Tag eben in einer schlechteren Stimmung sind. Aber es führt zu weit, alle diese Probleme, die auch die Entwicklung eines jungen Menschen bestimmen können, zu erörtern. Wir werden vielleicht hin und wieder dazu Zeit haben. Jetzt geht es darum, dass Sabine Abstand gewinnt und gesund wird.«
»Und ich hoffe darauf, dass wir noch oft Gelegenheit zu solchen Gesprächen haben, Annette.«
»Dazu bin ich gern bereit, Helmut«, erwiderte sie.
»Aber ich darf auch sagen, dass ich sehr froh bin, dass wir uns wiedergetroffen haben.«
»Mich freut’s auch«, erwiderte sie. »Ich besuche Sabine morgen und spreche mit ihr über die Insel.«
Bevor Annette aber zur Behnisch-Klinik fuhr, suchte sie Dr. Norden auf, um erst seine Meinung zu hören, und ob es überhaupt möglich sein würde, Sabine auf der Insel unterzubringen.
»Ob sie einverstanden ist?«, überlegte er.
»Das werde ich schnell herausfinden. Natürlich soll sie es selbst entscheiden.«
»Dann sagen Sie mir Bescheid. Einrichten kann man es. Jan ist übrigens ein sehr netter Junge.«
»Ich habe schon gehört, dass es ein sehr vergnügter Abend war«, lächelte Annette.
»Bei Ihnen nicht?«
»Eher ein besinnlicher. Wie sich doch die Menschen ändern mit den Jahren!«
»Das ist der Lauf der Zeit. Sie lässt uns alle nicht ungeschoren.«
»Und wenn man alles vorher wüsste, würde man manches anders machen. Ja, dann werde ich mal starten und sehen, wie einsichtig Sabine sein kann.«
Sie staunte. Sabine war die Sanftmut selbst, als Annette von den Straatens erzählt hatte und wie schlimm es für sie gewesen war, den Sohn und die Schwiegertochter zu verlieren.
»Für Sie war das doch auch sicher sehr schlimm«, sagte Sabine gedankenverloren. »Sie haben Jan doch sehr gern, und jetzt denken Sie, dass er eifersüchtig sein könnte, weil Sie sich soviel um mich kümmern.«
»Ich glaube, dass Jan über solche Regungen erhaben ist, um dieses hochtrabende Wort zu gebrauchen. Ihr werdet sicher gute Freunde werden.«
»Jungen sind da manchmal komisch. Er studiert ja schon, und ich bin noch ein Schulmädchen. War es nicht damals auch so zwischen Paps und Ihnen?«
»Du meinst, dass er mich nicht für voll genommen hat?«, fragte Annette mit einem leisen Lachen.
»Ich denke eher, dass Sie auch so waren wie ich und ihm keine schönen Augen gemacht haben, wie andere Mädchen.«
»Das mag auch sein«, gab Annette zu.
»War Paps auch schon so charmant, als er jung war?«
»Findest du ihn charmant?«
»Sie nicht? Oh, er hat so was an sich, was Frauen anscheinend mögen. Sogar junge Mädchen. Das sagen sie im Tennisclub auch.«
Annette dachte nicht daran zu verraten, dass sie eine ganze Menge für Helmut Petersen übriggehabt hatte, damit hätte sie die Begeisterung in Sabine nur noch mehr geschürt. Aber sie war sehr zufrieden, als Sabine sich bereit erklärte, die zwei Wochen bis zum gemeinsamen Urlaub mit ihrem Vater auf der Insel der Hoffnung zu verbringen. Allerdings forderte sie auf ganz sanfte Art ein Zugeständnis von Annette.
»Aber dann dürfen wir Sie besuchen, bitte?«
»Ich weiß nicht, was dein Paps vorhat«, erwiderte Annette ausweichend.
»Er ist mir was schuldig«, sagte Sabine.
Und das wird sie ausnutzen, dachte Annette, sie ist doch schon eine raffinierte kleine Evastochter. Aber sie konnte diesen bittenden Augen nicht widerstehen, empfand sie es doch auch beglückend, dass dieses Mädchen ihr eine so innige Zuneigung schenkte, und es waren auch Helmuts Augen, die sie anblickten.
»Es wird sich schon machen lassen«, sagte Annette, nichtahnend, dass Sabine schon wieder insgeheim Pläne schmiedete.
Die ersten Hindernisse waren ausgeräumt. Annette hatte nochmals mit Helmut gesprochen, und er hatte gesagt, dass Jan an den beiden Tagen, an denen Annette abwesend sein würde, bei ihnen essen könnte. Dagegen hatte Jan nichts einzuwenden, denn er wollte gern den Herrn Dr. Petersen etwas genauer unter die Lupe nehmen, da Annette doch allerhand für ihn übrig zu haben schien. Jan war auch ein kritischer junger Mensch. Und so ganz geheuer war es ihm nicht, dass da plötzlich in Annettes Privatleben ein Mann und seine Tochter eine Rolle spielten.
Jedoch weit davon entfernt, sich in Annettes Privatangelegenheiten einzumischen, wollte er die weitere Entwicklung abwarten.
Was seine Großeltern anbetraf, gab es überhaupt keine Probleme. Sie freuten sich, junge Gesellschaft zu bekommen, und da sie genauso waren, wie Sabine sich richtige Großeltern vorgestellt hatte, flog ihnen Sabines Herz gleich zu.
Jan bekam zum Abschied einen kräftigen Händedruck von Sabine.
»Danke, dass du mich gefunden hast«, sagte sie. »Es ist nicht gut, wenn man seine Kräfte überschätzt. Ich habe gedacht, dass ich es bis nach Hause schaffe.«
»Hättest du sicher, wenn du nicht den Sonnenstich gehabt hättest«, erwiderte er. »Nun kannst du dich erholen.«
Darüber war Annette ein wenig verblüfft, denn Jan machte nicht gern viele Worte. Aber dann ging die Reise los. Willem saß vorn neben Annette, und Sabine saß auf dem Rücksitz bei der Granny, die auch gleich zu Sabine gesagt hatte, dass sie gern so genannt wurde.
Allein Finchen war nicht so ganz einverstanden mit dieser Entwicklung, aber sie konnte nun für zwei hungrige Männer kochen, und das lenkte sie ab.
Es hatte nicht lange gedauert, bis Helmut und Jan sich soweit beschnuppert hatten, dass eine anregende Unterhaltung zustande kam. Und Finchens Essen mundete beiden so gut, dass auch Finchen wieder zufrieden war.
»Ein sehr netter junger Mann«, raunte sie Helmut zu. »Er hat Benehmen, nicht so ein Flaps wie der Thomas.«
Vielleicht denkt Sabine das auch, ging es Helmut durch den Sinn, und wenn die beiden jungen Leute sich anfreundeten, konnte er Hoffnung hegen, dass sie auch öfter zu viert beisammen sein könnten.
Von Irene blieb er verschont, und auch das weckte Hoffnung in ihm, dass auch sie zur Vernunft gekommen wäre. Aber Irene waren indessen alle Felle davongeschwommen. Ihre Freunde hatten sich zurückgezogen. Der Gerichtsvollzieher war schon in ihrer Boutique erschienen, und da sie nicht bereit war, auch Schuld bei sich zu suchen, richtete sich ihr ganzer Zorn auf Helmut, und nun überlegte sie, wie sie sich an ihm rächen könnte, wenn sie schon sonst keine Handhabe gegen ihn hatte. Freilich gab sie in erster Linie Sabine alle Schuld.
Sabine verschwendete keinen einzigen Gedanken mehr an Irene. Für sie hatte sich das Leben nur positiv verändert. Sie war begeistert von der Insel der Hoffnung, von dem herzlichen Empfang, und während sich die Straatens ausruhten, durchstreifte sie mit Annette, geführt von Mario, dem Adoptivsohn von Dr. Cornelius, die Insel.
Voller Stolz erzählte Mario die Geschichte der Insel, der Wunderquelle, die so lange versiegt gewesen war, und die er wiederentdeckt hatte. Ja, darauf konnte er auch stolz sein, denn die Heilkraft der Quelle hatte schon so vielen Menschen seither wieder geholfen.
»Versiegt war sie ja nur damals vor vielen, vielen Jahren, weil der Landesfürst Kapital daraus schlagen wollte und Geld verlangte, wenn die Leute kamen, um aus der Quelle zu trinken«, erzählte Mario. »Und in der Chronik steht, dass erst ein Kind die Quelle wieder zum Sprudeln bringt, wenn gute Menschen daraus kein Kapital schlagen wollen. Papi und Mami wollen ja nur den Kranken helfen, und das Wasser bekommen sie ganz umsonst, wenn sonst auch der Aufenthalt hier etwas kostet. Aber das Leben ist ja leider nicht billig«, seufzte er. »Mami stöhnt auch manchmal, wie die Preise steigen. Und manche Menschen sind so reich, dass sie gar nicht wissen, wie viel Geld sie haben und tun doch nichts für die Armen und Kranken. Das ist schlimm.«
Annette war erstaunt, welch ernsthafte Gedanken sich auch ein erst Zwölfjähriger schon machte, und noch mehr erstaunt war sie, als sie von Anne Cornelius dann erfuhr, dass Mario als Sohn eines italienischen Gastarbeiters auf die Welt gekommen war, der dann mit seiner Frau bei einem Bootsunglück ums Leben kam und dass Dr. Norden dann das Kind noch retten konnte.
»Wir haben so viel Freude an ihm«, sagte Anne. »Er ist so lieb und will nur lernen und immer mehr lernen.«
»Ein Kind wird wohl doch durch seine Umwelt geprägt und durch die Liebe, mit der es umsorgt wird«, sagte Annette gedankenvoll. »Ich habe mich auch mit dem Gedanken getragen, ein Kind zu adoptieren, aber ich muss gestehen, dass mir dann doch ein bisschen bange davor war.«
»Sie hätten es doch auch kaum mit Ihrem Beruf vereinbaren können«, sagte Anne nachdenklich.
»Ja, das war dann auch eine Überlegung. Hier kann ja ein Kind auch gut gedeihen. Es ist ein Stück Paradies.«
»Aus dem wir uns von niemanden vertreiben lassen«, sagte Anne. »Es ist unsere Welt, und wenn ich mal einen Tag in München bin, sehne ich mich schon zurück, so lieb ich die Kinder auch habe.«
»Ich würde auch gern noch bleiben«, sagte Annette. »Jetzt bin ich auf den Geschmack gekommen. Vielleicht nächstes Jahr, Frau Cornelius.«
»Es würde uns freuen. Man muss ja nicht erst krank werden. Man kann auch manches tun, um die Gesundheit zu erhalten. Erstens kommt es nicht so teuer und zweitens ist es für uns auch erfreulicher, als letztlich doch nicht mehr viel tun zu können, wie es so häufig der Fall ist, wenn eine Krankheit schon zu weit fortgeschritten ist.«
Am Sonntag konnte Annette beruhigt zurückfahren. »Schöne Grüße an Paps«, sagte Sabine. »Ihm würde es auch guttun, wenn er hier mal ausspannen würde.«
»Ich werde es ihm sagen. Vielleicht kommt er«, erwiderte Annette.
»Schön wäre es, wenn Sie dann auch kommen würden, aber mir würde die Zeit zu lang, wenn ich Sie solange nicht sehen würde.« Ganz spontan umarmte sie Annette. »Wir dürfen Sie doch besuchen, bitte, bitte.«
»Ich werde mit deinem Vater darüber sprechen, Sabine«, erwiderte Annette. Sie konnte diesem flehenden Blick nicht widerstehen. Und schnell küsste sie Sabine auf beide Wangen.
Dann sah sie noch, wie sich Sabine an Granny klammerte, aber sie konnte nicht mehr hören, wie sie flüsterte: »Ich habe sie doch so lieb.«
»Sie dich doch auch, Sabine«, sagte die Granny, »aber du musst verstehen, dass es für sie ein bisschen schwierig ist. Sie kann eine Schülerin nicht bevorzugen.«
»Dann braucht sie nur Paps zu heiraten und muss nicht mehr Lehrerin sein«, sagte Sabine.
»Stell dir nicht alles so einfach vor, Kleines«, meinte Henrike Straaten besonnen.
»Aber sie passen doch so gut zusammen. Und ich weiß, dass Paps sie sehr gern hat. Warum muss denn so manches im Leben so schief laufen?«
»Wie das Schicksal es will«, sagte Henrike leise. »Es führt Menschen zusammen, es trennt sie und führt sie doch wieder zueinander. Und manchmal löscht es glückliche Leben aus. Es ist sehr schwer, manches zu verstehen, Sabine.«
»Ich hatte keine Mutter und keine Großeltern, ich hatte nur Paps und Onkel Rolf, und Männer können ein Mädchen wohl doch nicht so richtig verstehen. Und Finchen hat immer gesagt, dass ich noch froh sein kann, wie es ist. Jan hat seine Eltern verloren, aber er hatte euch und Annette.«
»Und du hattest deinen Vater und Rolf. Du darfst nicht undankbar sein, Sabine. Und jetzt hast du auch Annette. Sie wird dir immer eine gute Freundin sein.«
»Aber wenn sie nicht mehr meine Lehrerin sein darf …« Sabine begann bitterlich zu schluchzen, »sie wird mich nicht so vermissen, wie ich sie. Sie hat ja Jan.«
»Wir werden Jan auch vermissen, aber wie wäre es, wenn du dann zu uns kommen würdest, Sabine? Dann wäre es bei uns auch nicht einsam.«
»Ihr könnt doch auch in München bleiben«, sagte Sabine. »Bei uns ist so viel Platz.«
»Jetzt sind wir erst mal hier und alles andere wird sich finden«, sagte Henrike, aber auch sie geriet schon ins Träumen. Schön wäre es schon, dachte sie, wenn Annette mit einem solchen Mann glücklich würde und wenn wir wenigstens immer ein paar Wochen mit Jan zusammen sein könnten und mit diesem lieben Kind.
»Wenn ihr Annette auch ein bisschen zuredet und sie wüsste, dass ihr auch einverstanden seid, dann würde sie vielleicht doch mit Paps einig werden«, sagte Sabine.
»Ich denke zwar, dass sie sich da nicht dreinreden lässt, aber versuchen kann ich es ja mal«, meinte Henrike.
»Und dein Willem, Granny?«
»Ach, weißt du, Sabine, der überlässt eigentlich alles mir. Eine kluge Ehefrau weiß schon, wie sie es anfängt, ihren Mann zu überzeugen. Aber man soll sehr wichtige Entscheidungen nie überstürzen. Man muss sehr taktvoll und diskret sein und auch Geduld haben. Und es kann durchaus sein, dass man etwas viel schneller erreicht, wenn man nicht dauernd davon spricht, sondern lieber den andern das Wort überlässt.«
»Wie meinst du das, Granny?«
»Ich sage dir, was ich denke. Wenn dein Vater sich jetzt sehr um Annette bemüht, könnte sie denken, dass er es dir zu Gefallen tut, und wenn Annette deinem Vater entgegenkommen würde, könnte er seinerseits meinen, dass sie doch gern einen Mann haben würde, der für sie sorgt.«
»Das denkt Paps bestimmt nicht, dazu hat er viel zu viel Respekt vor Annette.«
»Respekt?«, fragte Henrike.
»Natürlich. Sie ist doch nicht so eine Frau, die sich einem Mann an den Hals wirft, um Vorteile zu haben. Sie kann sehr gut für sich selbst sorgen, und sie ist viel zu klug, um sich etwas zu vergeben. Das verdient doch Respekt.«
»So gesehen schon, aber manchmal ist es auch ganz angebracht, wenn eine Frau über ihren Schatten springt und einem Mann doch zeigt, dass sie ihn gernhat. Mein Willem hätte sich nie getraut, um meine Hand anzuhalten, wenn ich da nicht ein bisschen nachgeholfen hätte. Meine Eltern waren nämlich sehr konservativ, und er hatte damals noch nicht viel zu bieten. Zu unserer Zeit war man sehr darauf bedacht, die Töchter gut zu verheiraten.«
»Und wie hast du es angefangen, dass er doch um deine Hand angehalten hat, Granny?«
»Zuerst habe ich meinen Eltern gesagt, dass ich durchbrenne, wenn ich Willem nicht heiraten darf, und dann habe ich Willem gesagt, dass ich einen andern heiraten muss, wenn er nicht endlich um meine Hand anhält. Es war ein durchschlagender Erfolg.«
»Es war die ganz große Liebe«, sagte Sabine träumerisch.
»Ja, das stimmt, und sie hat gehalten, mein Kleines. Wir haben alles Glück und auch alles Leid durchgestanden, weil die Liebe stark war.«
»Und das spürt man«, sagte Sabine.
»Siehst du, Sabine, und du wirst es auch spüren, wenn es zwischen deinem Paps und Annette funkt.«
Sabine schenkte ihr ein schelmisches Lächeln. »Du redest, als würdest du ein Teenager sein, Granny.«
»Ein bisschen bin ich das immer geblieben im Herzen, weil ich die Jugend liebe, weil wir ja mit Jan auch so reden können.«
»Hat er eigentlich schon eine feste Freundin?«, fragte Sabine.
»Nein, sonst wäre er bestimmt nicht so leichten Herzens nach München gegangen.«
»Aber von euch kann er doch auch nicht leichten Herzens weggegangen sein«, sagte Sabine nachdenklich.
»Er hat in München die besten Möglichkeiten, sein Berufsziel zu erreichen. Er will Herzchirurg werden. Es wäre sehr engstirnig von uns, wenn wir ihm Steine in den Weg werfen würden. Man darf nie zu sehr an sich selbst denken, Kleines, sondern mehr an die, die man liebt.«
Sabine blickte zu ihr auf und umarmte sie dann. »Ich werde es beherzigen, Granny«, sagte sie leise. »Ich habe begriffen, was du mir damit zu verstehen geben wolltest.«
Und es sollte für Sabine eine wundervolle Zeit auf der Insel der Hoffnung werden.
Sie lernte leidende Menschen kennen und genesende und begreifen, wie dicht Glück und Leid beieinander lagen. Sie war viel mit Mario beisammen, und sie spielten fröhlich und unbeschwert. Sie verbrachte auch viele Stunden mit Henrike und Willem Straaten, die so bedeutungsvoll für ihr jetziges und künftiges Leben werden sollten, wenngleich sie dies jetzt noch nicht abzuschätzen wusste.
Annette und Jan weilten schon zehn Tage im Gebirge, als Helmut seine Tochter von der Insel der Hoffnung abholte. Ihm gefiel es hier auch so gut, dass er gern noch geblieben wäre, aber er hatte ja schon andere Pläne gemacht, und mit denen war Annette teilweise sogar einverstanden gewesen.
Irene hatte glücklicherweise seinen Weg nicht mehr gekreuzt, und dabei hatte wieder einmal eine weise Vorsehung mitgespielt, die ihr einen Mann in den Weg schickte, mit dem sie leichteres Spiel zu haben meinte, als mit Helmut. Irene wollte ihre Chance nutzen und vergaß ihre Rachegelüste, die ihr möglicherweise doch Ärger einbringen konnten.
So war Helmut recht unbeschwert und voller Vorfreude. Seine schlaue Tochter hatte sich hinter Dr. Cornelius gesteckt, aber der brauchte keine Gewissensbisse zu haben, als er Helmut erklärte, dass Sabine möglichst nicht durch weite Autofahrten strapaziert werden solle, da es doch nun recht heiß war.
»Ich habe mir auch schon was anderes einfallen lassen«, erklärte Helmut, »aber das soll eine Überraschung für Sabine sein.«
Und mit einem verständnisvollen Augenzwinkern nickten sich die beiden Männer zu.
Es war von Vorteil, dass Sabine die Gegend, in der Annette Urlaub machte, nicht kannte und nicht wusste, dass das Ferienhäuschen, das Annette noch kurzfristig für Helmut hatte mieten können, in einem kleinen, unbekannten Ort lag, das in der Nähe von ihrem Urlaubsort zu finden war.
Ja, Annette spielte mit, da auch Jan ihr zugeredet hatte. Er hatte mit Helmut nämlich Freundschaft geschlossen, und sie hatten sich sehr schnell verbündet.
Jan vertrat den Standpunkt, dass man Freundschaften pflegen müsse, und im Fall von Helmut und Annette konnte daraus ja auch noch mehr werden. Jan hatte nichts dagegen. So waren feine Fäden gesponnen worden, und die Heimlichkeiten machten die Situation recht pikant.
»Also, die Toscana müssen wir fallen lassen, Binni«, sagte Helmut bedächtig. »Dr. Cornelius meinte, dass man dir noch nicht zu viel zumuten soll bei der Hitze.«
Sabine genoss ihren ersten Triumph, denn sie meinte, dass dieser allein ihr Verdienst wäre.
»Und wohin fahren wir, Paps?«, erkundigte sie sich.
»Erst mal in einen kleinen Gebirgsort. Dort soll die Luft besonders günstig für dich sein.«
Nun schmollte sie ein bisschen. »Hätten wir da nicht gleich dorthin fahren können, wo Annette ist?«, fragte sie.
»Wir können sie ja besuchen. Ich glaube, das ist nicht weit entfernt.«
Sie warf ihm einen schrägen Blick zu. »Du möchtest ja wohl auch gern mit ihr beisammen sein«, stellte sie fest.
»Ich habe nichts dagegen«, gab er zu.
»Wie geht es Annabel«, lenkte sie ab.
»Sehr gut. Sie hilft schon wieder fleißig in der Praxis.«
»Heiraten sie bald?«
»Ich denke im Dezember. Dann macht Rolf über die Feiertage Urlaub mit ihr.«
»Die paar Monate werden sicher schnell vergehen«, sagte Sabine gedankenvoll.
»Hoffentlich bekommen sie dann auch bald ein Baby, damit ich Patin werden kann.«
Sie hatte Grannys Mahnungen beherzigt und mühte sich, nicht allzu oft von Annette zu sprechen.
»Dir hat es auf der Insel gut gefallen?«, fragte er beiläufig.
»Ja, es war wunderschön, und Granny ist so lieb. Und mit Onkel Willem kann man viel lachen. Er hat einen goldigen Humor. Hoffentlich wirst du auch mal so ein lieber Opa.«
»Jesses, mach mich nicht gar zu schnell dazu«, meinte er.
»Eigentlich wärest du ja doch noch nicht zu alt, um noch mal Vater zu werden«, stellte Sabine ganz gelassen fest.
»Guter Gott, was du so alles daher bringst«, seufzte er. »Das kann ich mir nun wirklich nicht vorstellen.«
»Soviel jünger als du ist Rolf auch nicht, und er kann es sich sehr gut vorstellen.«
»Manchmal werde ich nicht klug aus dir, Binni«, sagte er. »Teenager wollen eigentlich keine kleinen Geschwister mehr haben.«
»Ich habe kleine Kinder aber gern. Und andere Teenager gehen mich nichts an.« Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter. »Es ist schön, Paps, dass wir uns wieder verstehen.«
»Es war sehr gut, dass du mir den Kopf zurechtgesetzt hast«, sagte er lächelnd.
»Es wäre schrecklich gewesen, wenn du an ihr hängengeblieben wärest. Aber irren ist ja menschlich. Ich werfe es dir nicht mehr vor. Es kann mir ja auch mal passieren, dass ich auf so ein Getue hereinfalle. Man muss seine Erfahrungen selbst machen.«
»Meine kluge Tochter«, sagte er.
»Na ja, so weit ist es wohl auch nicht her, Paps. Wenn man richtig darüber nachdenkt, sieht man sich auch kritischer.«
Helmut wusste, dass sie es meinte, wie sie es sagte, dass es nicht nur angelernte Floskeln waren, wie sie sich junge und auch manchmal ältere Menschen einstudierten, um gescheit zu wirken, Weisheiten, die sie aus Büchern übernahmen, und die ins Gespräch geworfen, oft so lächerlich wirkten.
Aber Sabine dachte wirklich nach. Sie war mutig und wachsam. Er hatte es erfahren, und er wusste jetzt auch, dass eine manchmal verletzende Ehrlichkeit besser war, als Schöntuerei.
»Was macht eigentlich Finchen?«, fragte Sabine jetzt. »Ist es nicht ungerecht, sie allein zu lassen?«
»Du wirst schon sehen, was sie macht«, erwiderte er lächelnd. Und da stand sie dann auch schon vor einem schmucken Häuschen und hielt Ausschau und winkte ihnen zu. Und wie strahlte sie, als ihr Sabine an den Hals flog.
»Gut schaut das Kindchen aus«, sagte sie zufrieden, »und hier kann es sich richtig erholen. Schön ist es, und was für eine gute Luft! Ich will ja nicht sagen, dass bei uns die Luft schlecht ist, aber hier ist sie doch noch würziger. Und gute Milch und Butter bekommen wir auch direkt vom Bauern. Mit dem habe ich mich schon angefreundet.«
»Na, na, Finchen«, sagte Helmut, »auf deine alten Tage wirst du doch nicht mehr fremdgehen.«
»Was Sie aber auch gleich denken«, drohte sie lachend mit erhobenem Finger. »Er hat doch eine Frau und sieben Kinder.«
»Sieben Kinder«, staunte Sabine.
»Wie die Orgelpfeifen, und vielleicht kommen da auch noch ein paar dazu. Hier denkt man ja noch anders als in der Stadt, und wo sieben Mäuler gestopft werden können, kommt es auf ein paar mehr auch nicht an.«
Finchen fühlte sich schon sehr wohl, und nun erfuhr Sabine, dass sie schon zwei Tage hier war, um alles so herzurichten, wie man es daheim gewohnt war.
Hübsch war das Haus, urig eingerichtet, und Sabine gefiel es.
»Ich glaube, so ähnlich muss Annettes Häusle auch sein«, sagte sie gedankenvoll.
Finchen zwinkerte Helmut rasch zu und entschwand in die Küche, und bald standen Kaffee und Kuchen auf dem Tisch auf der Terrasse, die jetzt im angenehmen Halbschatten lag, denn man war darauf bedacht, dass Sabine nicht gleich wieder zu viel Sonne abbekommen sollte.
»Weit entfernt kann Annettes Urlaubsort doch eigentlich nicht sein«, meinte Sabine nachdenklich. »Schau doch mal die Karte an, Paps.«
»Das brauche ich nicht. Du wirst deine Annette morgen schon wiedersehen, Kleines.«
Da fiel sie ihm um den Hals und küsste ihn ab. »Bist doch mein allerliebster Paps«, sagte sie.
»Aber sei nicht gar zu stürmisch mit deinen Wünschen, Binni.«
»Kannst beruhigt sein. Granny hat mir schon gesagt, dass man nichts erzwingen darf.« Sie lehnte sich zurück und ließ ihren Blick träumerisch in die Ferne schweifen, »aber schön ist es, in die Zukunft träumen zu können. Und jetzt brauche ich mich ja nicht nur mehr auf dich zu konzentrieren, oder auf Annette. Jetzt habe ich auch noch Granny und Onkel Willem.«
»Und was ist mit Rolf und Annabel?«, fragte Helmut.
»Die gehören doch auch dazu. Ich rede dir jetzt nicht mehr drein. Mit deinen Problemen musst du schon allein fertig werden.«
Er lachte herzhaft. »So schwerwiegend sind meine Probleme nicht, Binni. Ich habe schon einiges getan, um die anstehenden aus dem Weg zu räumen. Und ich habe dabei Unterstützung.«
»Bist du einig mit Annette?«, fragte sie aufgeregt.
»Vorerst mal mit Jan. Er ist ein Prachtkerl.«
Sabine betrachtete ihren Vater mit langem forschendem Blick. »Eigentlich bist du ein Fuchs«, sagte sie, »wenn man dich auch mal auf die falsche Fährte gelockt hat.«
Nun begann eine herrliche Zeit für sie alle. Das Wiedersehen zwischen Annette und Sabine war rührend.
Nun ging es auch nicht mehr an, dass Sabine als Einzige Sie zu Annette sagte.
»Es wird zwar ein bisschen kritisch, wenn du wieder auf der Schulbank vor mir sitzt, aber wir werden das schon hinkriegen«, meinte Annette.
»Vielleicht wäre es dann doch besser, du würdest eine andere Klasse übernehmen, und ich bekäme nur Privatunterricht bei dir«, meinte Sabine verschmitzt.
»Du brauchst doch keinen Privatunterricht«, lachte Annette.
»Nachhilfe kann ich ja geben, wenn es nötig ist«, meinte Jan.
»Auch keine schlechte Idee«, sagte Sabine.
»Sie sind wie Geschwister«, stellte Helmut nach ein paar Tagen fest.
»Solange nicht andere Gefühle mitspielen«, meinte Annette nachdenklich. »Freundschaft kann der Anfang einer Liebe sein.«
Er legte seine Hand auf ihre Schulter. »Bei uns nicht auch, Annette?«
Sie lehnte sich leicht an ihn. »Vielleicht bei uns auch, Helmut.«
»Eigentlich hat es ja schon vor zwanzig Jahren angefangen«, sagte er. »Du warst nur so spröde. Ganz so ist Sabine doch nicht. Schau mal die beiden an.«
Da gingen sie Hand in Hand auf den Wald zu, Jan und Sabine. Annette lächelte gedankenverloren. »Jan ist vielleicht auch nicht so stur wie du damals warst«, meinte sie.
»Und ich gerate dann an eine Frau, mit der ich schon nach ein paar Monaten fertig war. Wenn Sabine nicht gewesen wäre, ach, was soll es, es war ein ziemlich weiter Weg zu dir, Annette, aber jetzt werde ich um dich kämpfen.«
»Ein harter Kampf wird es wohl nicht werden, Helmut«, sagte sie weich. »Was ist mit Irene?«
»Keine Ahnung. Sie hat mir gedroht, aber es war wohl ein Schuss ins Blaue. Ich habe nichts zu fürchten, wenn du nachsichtig mit mir bist. Hängst du eigentlich sehr an deinem Beruf?«
»Bisher schon, aber es bleibt zu überlegen, ob es nicht doch etwas Wichtigeres geben könnte. Ich bin gar nicht so spröde, wie du denkst.«
»Das denke ich doch gar nicht mehr. Manchmal muss man überreif werden, um die Liebe wirklich zu entdecken. Ich bin glücklich, restlos glücklich, wenn du mich so anschaust.«
Und dann nahm er sie in die Arme und küsste sie, und ausgerechnet in diesem Augenblick drehte sich Sabine um. Sie stieß einen leisen Juchzer aus und zwickte Jan in den Arm.
»He, was ist?«, fragte er.
»Sie küssen sich, es ist geschafft, Jan, ist das nicht wundervoll?«
»Leise, ganz leise, Binni, es gibt Momente, in denen man nicht behutsam genug sein sollte.«
»Ich sage ja gar nichts mehr«, flüsterte sie. »Ich bin so glücklich, dafür gibt es keine Worte.«
Zärtlich strich er mit zwei Fingern über glühende Wangen. »Du bist so lieb«, sagte er weich. »Von jetzt an werde ich aufpassen, dass du keine Dummheiten machst.«
»Wenn du keine machst, mache ich auch keine, Jan«, sagte Sabine.
»Das werden wir noch einige Jahre beweisen müssen, Binni.«
»Mir fällt das gar nicht schwer.«
Und da fanden sich auch ihre Lippen zu einem ersten scheuen Kuss. Eine junge Liebe erblühte, und sie sollte gedeihen können, umsorgt und behütet wie eine ganz kostbare Pflanze. Für Henrike und Willem Straaten sollte sie zum größten Glück ihres Lebensabends werden.
Als die Ferien zu Ende waren, stand es fest, dass Annette ihre Stellung aufgeben würde. Finchen schwelgte in Glückseligkeit.
Gemeinsam, mit zwei Autos, fuhren sie zur Insel der Hoffnung, um Henrike und Willem abzuholen, aber erst daheim erfuhren sie, wie glückverheißend diese Ferienwochen beschlossen worden waren.
Im Familienkreis wurde ein Fest gefeiert, zu dem natürlich auch Rolf und Annabel kamen. Sie verkündeten, dass sie doch bereits im Oktober heiraten würden.
»Gibt es dafür einen besonderen Grund?«, fragte Helmut.
»Du hast es erraten, großer Bruder. Wir wollten Binni die Freude machen, bald Patin zu werden.«
»Wie wäre es mit einer Doppelhochzeit, damit wir in Terminschwierigkeiten geraten?«, fragte Helmut.
»Nichts dagegen«, erwiderte Rolf.
Sabine überlegte. Zwei Hochzeiten wären ihr eigentlich lieber gewesen, aber dann ging es ihr durch den Sinn, dass die Älteren und Jüngeren dann den Vortritt lassen würden, und sie stimmte schnell zu.
»Uns wäre es auch lieber, wenn wir nicht so oft reisen müssten«, sagte auch Henrike.
Da war Sabine wieder ganz rasch im Denken.
»Es wäre doch schön, wenn ihr wenigstens den Winter hierbleiben würdet, Granny. Dann können wir auch Weihnachten und Neujahr zusammen feiern, und im Winter ist es bei uns doch schöner.«
Und auch da gab es kein langes Überlegen, als Annette sagte, dass ihr Haus ihnen doch auch alle Annehmlichkeiten bieten würde.
»Aber ihr müsst versprechen, dass ihr im Sommer dann einige Wochen bei uns verbringt«, sagte Willem, der nun schneller war als seine Frau.
Und auch damit waren alle einverstanden, nichtahnend, wie aufregend der kommende Sommer dann werden sollte.
Doch jetzt wurden erst Pläne für die Hochzeit gemacht. Finchen werkelte im Haus wie in jüngsten Jahren. Die Zimmer wurden umgestaltet, neu tapeziert und auch neue Vorhänge wurden angebracht.
Für Jan wurde die Mansarde ausgebaut, denn natürlich sollte er auch bei ihnen wohnen. Und als der erste Schultag begann, konnte Sabine ihren Triumph ausspielen, als sie aufgezogen wurde, dass ihre Lieblingslehrerin nun nicht mehr an der Schule sei.
Ganz kühl und gelassen sagte sie: »Das wusste ich schon ein bisschen früher als ihr. Annette heiratet nämlich meinen Vater.«
Und da war man sprachlos, und sie konnte sich ins Fäustchen lachen.
»Mensch, hast du es wirklich gut«, sagten einige. »Da wirst du bestimmt nur noch eine Einserkandidatin sein.«
»So groß ist mein Ehrgeiz nun auch wieder nicht«, meinte sie. »Was soll es auch. So lange werde ich bestimmt nicht mit dem Heiraten warten.«
Und als sie das sagte, glitzerte es ganz geheimnisvoll in ihren Augen.
*
Eine bezauberndere Brautjungfer hätten sich die beiden reifen Paare wahrhaftig nicht wünschen können, so hinreißend hübsch sah Sabine aus, als sie an Jans Arm hinter ihnen her schritt.
Dass Henrikes Augen dann auch mehr auf diesem jungen Paar ruhten, sollte man ihr nicht verdenken. Sie dachte in die Zukunft und in dieser Stunde auch an verlorenes Glück, da ihr Junge einst auch eine so glückstrahlende junge Frau zum Altar geführt hatte. Aber das Glück überwog in dieser Stunde auch dieses Leid.
»Wir werden auch diese Hochzeit noch erleben, meine gute Henrike«, raunte Willem seiner Frau ins Ohr. »Das Herz geht einem auf und wird wieder jung.«
Aber beim Hochzeitstanz sahen die Älteren nicht weniger gut aus als dieses junge Paar. Und als Rolf mit seiner Nichte tanzte, strahlten Sabines Augen wie Sterne.
»Gell, das habe ich gut gemacht, Rölfchen«, sagte sie.
»Erstklassig, aber meine Annabel habe ich mir allein erobert.«
»Weil du immer einen guten Geschmack hattest«, sagte sie.
Er neigte sich zu ihr hinab. »Von meinem Vorleben weißt du ja nicht viel«, sagte er hintergründig. »Aber du hast es ja gesagt, Binni, man wird nur aus Erfahrung klug.«
Finchen aber sagte tiefsinnig: »Alte Liebe rostet nicht. Aber mir wär’s lieber gewesen, wenn sie sich früher wiedergefunden hätten.«
»Der Herrgott wird’s schon recht gemacht haben, Finchen«, sagte Henrike, und ihre Augen wurden feucht, als sie Jan und Sabine zuschaute, wie sie sich beim langsamen Walzer tief in die Augen schauten.
»In drei Jahren hast du dein Reifezeugnis, Binni«, sagte Jan, »und da bin ich schon fast mit dem Studium fertig. Und dann…«, er zog sie noch ein bisschen fester an sich, aber er sagte nichts mehr.
»Die paar Jahre stehen wir schon noch durch, Jan«, sagte sie. »Ich habe mir nur überlegt, dass ich doch nicht Staatsanwältin werde, sondern vielleicht lieber Sprechstundenhilfe.«
»Ich will aber keine eigene Praxis aufmachen, Binni. Ich will Herzchirurg werden, und dabei bleibe ich. Und das würde auch bedeuten, dass du nicht wie Annabel mithelfen kannst.«
»Und wenn ich nun Medizin studiere? Ich kann ein Einserabitur schaffen, das sagte Annette auch.«
»Wozu, wo du doch Kinder so gern hast«, lachte er leise.
»Na ja«, meinte sie, »für Herzchirurgie habe ich eigentlich nicht viel übrig. Aber du wirst bestimmt Koryphäe werden.«
»Nur keine Vorschusslorbeeren. Vielleicht fühle ich mich einmal den Anforderungen nicht gewachsen und kapituliere, bevor ich versage.«
»Ich will ja auch nicht nur eine Frau für gute Tage sein, Jan, aber ich möchte nichts anderes sein, als deine Frau.«
»Und ich wünsche mir nichts anderes, Binnilein«, sagte er zärtlich.
Ihr Blick wanderte zu Helmut und Annette. »Wenn Paps damals auch so gedacht hätte, wäre alles ganz anders gekommen«, sagte sie sinnend.
»Und wir hätten uns nie richtig kennengelernt.«
»Du bist doch viel klüger als ich«, sagte sie. »Nehmen wir es so, wie es ist.«
Und sie bewiesen, dass auch die erste Liebe halten konnte. Sie bewiesen es auch in schweren Stunden, als Willem Straaten im Frühsommer einen Herzinfarkt erlitt. Da waren sie beide zur Stelle und trösteten Henrike und waren dann überglücklich, als der Großpapa sich erholte. Das brachte aber auch die Entscheidung, dass Henrike und Willem nun für immer in der Nähe der Kinder bleiben wollten. Da waren sie der Insel der Hoffnung auch viel näher und konnten sich zweimal im Jahr dort erholen.
Es wurde ein sehr aufregender Sommer, denn zweimal hatte sich Nachwuchs angekündigt. Diesmal war Annette allerdings vierzehn Tage früher dran als Annabel.
Die Patenschaft war schon vorher geklärt. Jan sollte Pate bei diesem Baby werden, ganz gleich, was es nun werden sollte. Für Sabine stand es schon fest, dass ihr Patenkind ein Junge werden würde, aber der Geburt ihres Geschwisterchens sah sie doch mit größerer Aufregung entgegen. Nun war sie schon siebzehn, und sie hatte mit Annette einen Säuglingskursus besucht, um ganz firm zu sein. Aber dann standen sie noch einmal höllische Angst aus, denn Annette musste durch einen Kaiserschnitt entbunden werden.
In der Leitner-Klinik war auch Dr. Norden zugegen. Er führte die Anästhesie aus, denn er kannte Annette und ihre allergischen Reaktionen auf Medikamente ja genau.
Sabine tröstete ihren Paps. Sie erwies sich als wahrhaft ermunternd und zugleich beruhigend, obgleich ihr junges Herz bang dem entscheidenden Moment entgegenschlug.
Dem Medizinstudenten Jan war es gestattet worden, bei der Geburt zugegen zu sein, und er war dann der Erste, der die freudige Botschaft verkünden konnte, dass Annette einen Sohn zur Welt gebracht hatte. Aber Helmut wollte nur wissen, was mit Annette sei.
Für ihn vergingen noch vier bange Stunden, bis sie die Augen aufschlug, und erst dann wollte er seinen Sohn sehen, nicht einen Moment früher, als auch Annette ihn sehen konnte. Sabine hielt ihn im Arm.
»Er ist das schönste Baby der Welt«, sagte sie zärtlich. »Mein Brüderchen.« Und Tränen rannen über ihre Wangen.
Jan Henrik Willem wurde er getauft. Und als Annabel vierzehn Tage später auch einen Sohn zur Welt brachte, hatten sie nichts dagegen, dass der Henrik heißen sollte. Für Henrike war es das schönste Geschenk. Sie wusste nun auch, wie sehr sie geliebt wurde als einzige Granny, und sie war überglücklich, dass sie sich mit ihrem Mann an diesen beiden Babys freuen konnte. Und nun wünschten sie sich nichts mehr, als auch den Tag noch zu erleben, an dem Jan und Sabine ein Ehepaar werden sollten.
Noch drei Jahre mussten sie sich gedulden, aber länger wollte auch Jan nicht mehr warten.
Doch die Insel der Hoffnung hatte bewiesen, dass sie Wunder bewirken konnte. Willem Straaten genoss die Freude des Lebens gesund und munter, und Henrike als vielgeliebte Granny konnte inzwischen drei lebhafte kleine Trabanten umsorgen, denn Annabel hatte dem kleinen Henrik schon bald ein Schwesterchen geschenkt.
Helmut aber meinte, dass es mit dem Sohn genug sei, denn er hatte zu viel Angst um seine Annette ausgestanden.
Aber stolz waren sie alle, als Jan und Henrik friedfertig wie selten, da sie beide recht eigenwillige kleine Burschen waren, ihren Paten die Blumen auf dem Weg zum Altar streuten.
Sabine wurde Frau Straaten, und niemand zweifelte, dass sie ihr Glück festhalten und verteidigen würde. Sie und Jan hatten keinen Umweg machen müssen, aber Henrike, die Granny, meinte voller Glück, dass die beiden sich gesucht und gefunden hätten, und Annette schloss Sabine liebevoll in die Arme.
»Wir haben dir so viel zu verdanken, mein Liebes«, sagte sie innig.
»Ich dir«, flüsterte Sabine. »Seit ich dich kennenlernte, hatte ich immer nur den einen Wunsch, so zu werden wie du.«
»Aber du hast den besseren und schöneren Weg zu deinem Glück gewählt«, sagte Annette, »unbeirrbar und so treu.«
»Ich hätte gekämpft wie eine Löwin, aber ich brauchte ja gar nicht zu kämpfen«, sagte Sabine.
»Es hätte nur mal einer wagen sollen, mir mein Juwel wegnehmen zu wollen«, sagte Jan.
»Und wenn dir eine schöne Augen gemacht hätte, hätte ich sie ihr ausgekratzt«, sagte Sabine.
»Und ich hätte aufgepasst«, sagte die Granny. »Mein Herzenskind, unsere geliebte Binni, hätte uns niemand wegnehmen dürfen.«
»Ich weiß gar nicht, was ihr wollt, ich habe so was nie befürchtet«, sagte Willem Straaten, »und jetzt fühle ich mich so wohl, dass ich auch noch ein Dutzend Urenkel erlebe.«
»Es muss ja nicht unbedingt ein Dutzend sein, Großpapa«, sagte Jan seufzend. »Ein bisschen was möchte ich von meiner Frau auch noch haben.«
Aber auf vier Kinder brachten sie es in den kommenden sieben Jahren, und dafür musste Helmut Petersen von seinem Sohn Jan die herbe Kritik einstecken, dass sie einen ganzen Haufen Kinder haben könnten, wenn sie auch so jung geheiratet hätten.
»Dann wärest du aber nicht so früh Onkel geworden«, konterte Helmut geistesgegenwärtig, und da Jan darauf sehr stolz war, gab es auch keinen Widerspruch.