Читать книгу Dr. Norden Bestseller Paket 5 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 9
ОглавлениеIlona Nicolai! Wenn Dr. Norden zu ihr gerufen wurde, verging ihm das Lachen, mit dem er sich gerade von Dorle Gulden verabschiedet hatte, die sich nur bei ihm dafür hatte bedanken wollen, dass er ihr die Stellung als Säuglingsschwester in der Leitner-Klinik vermittelt hatte.
Loni legte den Hörer unwillig auf. »Ich kann doch nichts dafür, Chef«, sagte sie. »Wenn bloß das Kind erst da ist, vielleicht wird sie dann wieder normal.«
»War sie jemals normal?«, fragte Dr. Norden. »Aber ich kann es ja Schorsch nicht antun, mich verleugnen zu lassen.«
Schorsch, das war Dr. Hans Georg Leitner, in dessen Klinik Ilona Nicolai in Kürze ihr erstes Kind zur Welt bringen wollte. So, wie sie sich während der ganzen Schwangerschaft aufgeführt hatte, würde es wohl auch das einzige Kind bleiben, und dazu fragte sich Dr. Daniel Norden, wie Markus Nicolai diesen Zustand überhaupt ertragen konnte.
Loni hatte für diese Ehe eine einzige Erklärung. »Das kommt davon, wenn ein Mann auf so eine Puppe hereinfällt, und für mich steht es fest, dass sie ihn nur mit dem Kind geködert hat.«
Loni hatte recht, obgleich sich Markus Nicolai dahingehend nie geäußert hatte. Aber dass seine Nerven arg strapaziert waren, konnte Dr. Norden ihm ansehen, als er nun, kurz nach zwölf Uhr mittags, die Villa Nicolai betrat.
»Ich weiß jetzt wirklich nicht mehr, was ich noch tun soll, Dr. Norden«, murmelte er.
»Jetzt ist es ja bald überstanden«, sagte Dr. Norden beruhigend, denn dieser Mann tat ihm wirklich leid, wenngleich er sich die Suppe, die er sich mit dieser Ehe eingebrockt hatte, nun auch auslöffeln musste.
Markus Nicolai war Ende dreißig, als Durchschnittstyp zu bezeichnen, wenn nicht diese ausdrucksvollen Augen gewesen wären. Er war mittelgroß und untersetzt, kein Mann, dem die Frauen nachschauten oder gar nachliefen. Aber er war reich und ein Unternehmer von Format. Für Dr. Norden war es längst klar, dass dies allein ausschlaggebend für die schöne Ilona gewesen war, sich diesen Mann zu angeln, der wohl wie so mancher, dem der Beruf am wichtigsten war, in diese geschickt gestellte Falle getappt war.
Er hatte es bald bereuen müssen, auch das ahnte Dr. Norden, der nun an das Bett trat, in dem Ilona auf Spitzen gebettet und in noch kostbarere Spitzen gehüllt, mit leidvoller Miene lag.
»Ich kann mich schon gar nicht mehr bewegen«, stöhnte sie. »Kann man denn nicht etwas tun, dass das Kind schneller kommt? Ich halte das nicht mehr aus.«
Sie redete so oder ähnlich, seit man ihr die Schwangerschaft ansehen konnte. Sie war von so maßloser Eitelkeit besessen, dass sie mit Sicherheit einen Schwangerschaftsabbruch hätte durchführen lassen, wenn sie damit nicht diese wohl inszenierte Heirat aufs Spiel gesetzt hätte.
»Die paar Tage schaffen Sie jetzt schon noch«, sagte Dr. Norden sehr bestimmt. »Es ist doch auch für Sie besser, wenn keine operative Entbindung nötig ist. Es bleibt eine Narbe, und im Bikini würde man sie sehen.«
Er setzte allein auf ihre Eitelkeit, und damit hatte er dann doch immer Erfolg verbuchen können, wenn sie auch jammernd und wehklagend Beschwerden schilderte, die sie gar nicht hatte, denn die Schwangerschaft war ohne Komplikationen verlaufen. Ilona konnte die Ärzte nicht täuschen.
»Sie sollten sich mehr bewegen, wenigstens im Garten herumlaufen und Schwangerschaftsgymnastik machen«, fuhr er fort.
»Für Sie ist das einfach«, sagte sie vorwurfsvoll, »und die Männer machen es sich überhaupt leicht. Vater werden ist ja nicht schwer, aber dann stöhnen sie am meisten.«
Das konnte man nun von Markus Nikolai gewiss nicht sagen, aber es war auch sinnlos, es Ilona vorzuhalten, dass sie es ja war, die nur stöhnte.
Er hatte Frauen kennengelernt, die lange Wochen liegen mussten, weil sie ihr Kind nicht verlieren wollten, die klaglos alles auf sich nahmen, und manche hatten dann doch umsonst gehofft.
Und diese Frau, von Luxus umgeben, die alles bekam, was sie wollte, die sich nur tausend Wehwehchen einredete, würde das Glück, ein Kind zu haben, nicht genießen, auch das war Dr. Norden schon längst klar. Das Kind war ihr Faustpfand, Markus Nicolais Frau zu bleiben. Er wünschte sich ein Kind, und er musste teuer dafür bezahlen.
Am nächsten Tag wurde Daniel Norden nicht zu Ilona gerufen, doch am übernächsten bekam er einen Anruf von seinem Freund Dr. Leitner, dass Markus Nicolai seine Frau in die Klinik gebracht hätte.
»Ich wäre dir dankbar, wenn du dich bereithalten würdest, Daniel«, sagte er. »Sie will einen ganzen Tross von Ärzten um sich haben. Sie hätte so viel gelesen, was alles bei einer Geburt passieren könnte, und sie droht mir massiv, was sie alles unternehmen würde, wenn bei dem Kind etwas nicht stimmt.«
»Sie hat nicht alle Tassen im Schrank«, sagte Daniel drastisch. »Sie will sich nur interessant machen. Ist heute noch mit der Geburt zu rechnen?«
»Leichte Wehen hat sie, aber schon dabei brüllt sie die ganze Klinik zusammen.«
»Du hast mein Mitgefühl, Schorsch. Ich komme, wenn es so weit ist.«
»Sie schreit jetzt schon nach einer eigenen Säuglingsschwester für das Kind.«
»Frag doch mal Dorle Gulden. Sie hat doch eine Kollegin, die gar nicht mehr in einer Klinik arbeiten will.«
»Danke für den Rat«, sagte Schorsch Leitner. »Dorle ist übrigens schwer in Ordnung.«
»Und sie fühlt sich wohl bei euch, das hat sie mir gesagt. Ich denke, wenn sie jemanden empfiehlt, kann man sich darauf auch verlassen.«
Dass Dorle Gulden und ihre Kollegin Angelika Körner ihre Stellungen an einer Klinik gekündigt hatten, hatte einen schwerwiegenden Grund.
An dieser Klinik waren nämlich fast gleichzeitig zwei Neugeborene unter mysteriösen Umständen gestorben. Dorle und Angelika hatten zu dieser Zeit dienstfrei gehabt, aber sie hatten manches erfahren, was sie erst nachdenklich stimmte, dann aber auch ihre Initiative anregte, als man Kolleginnen von ihnen für diese Todesfälle verantwortlich machen wollte.
Sie hatten sich mutig eingesetzt und ein Verfahren gegen das Ärzteteam in Gang gebracht.
Obgleich dann ihre Vorwürfe berechtigt waren und ein Arzt und die Anästhesistin vor Gericht kamen, hatten es Dorle und Angelika vorgezogen, diese Klinik zu verlassen, da ihnen der Chefarzt versteckte Vorwürfe machte. Man hänge so etwas nicht an die große Glocke, hatten sie zu hören bekommen. Und Angelika hatte man auch noch zu verstehen gegeben, dass bei ihr wohl Eifersucht im Spiel gewesen sei. Das war dann doch zu viel gewesen, aber Angelika litt mehr unter solcher Unterstellung als Dorle.
Dorle hatte sich schon eingelebt in der Leitner-Klinik. Es war schnell gegangen. Sie fühlte sich pudelwohl, hatte einen Wirkungskreis, der ihr gefiel, einen Chef, den sie voll akzeptieren konnte und überhaupt war die Atmosphäre richtig familiär bei allen unterschiedlichen Charakteren.
Dass Ilona Nicolai Unruhe in die Klinik brachte, wirkte sich nicht nachhaltig aus. Allgemein hoffte man nur inständig, dass das Kind bald zur Welt kommen würde.
Die letzte Phase bahnte sich gegen acht Uhr abends an. Und bei Dr. Norden klingelte das Telefon.
Fee Nordens Kommentar war kurz und leicht sarkastisch. »Hoffentlich bist du vor Mitternacht wieder zurück, Schatz«, sagte sie zu ihrem Mann und drückte ihm noch ein paar mitfühlende Küsse auf die Wangen. »Es wäre wohl besser, dieses Kind würde im Buckingham-Palace geboren.«
»Das wäre der Ilona grad recht gewesen«, sagte Daniel ironisch. »Dazu fühlte sie sich geboren.«
»Ich bin gespannt, was für einen Namen das Kind bekommt«, meinte Fee tiefsinnig.
»Mir tut Nicolai leid«, sagte Daniel.
»Es prüfe, wer sich ewig bindet, ob sich nicht doch was bessres findet«, sagte Fee.
Sie bekam auch noch einen Kuss. »Der Himmel war mir gnädig, ich habe das Große Los gezogen«, sagte er, und dann fuhr er los.
*
Um 22.35 Uhr brachte Ilona eine Tochter zur Welt. Es war eine unkomplizierte Geburt. Das heißt, sie wäre es gewesen, wenn Ilona nicht gebrüllt hätte, als würde sie am Spieß stecken.
Markus Nicolai war nicht anwesend. Er war nach Hause gefahren. Er hatte tatsächlich nicht damit gerechnet, dass das Kind schon an diesem Tage geboren würde, und er hatte wichtige Entscheidungen zu treffen.
Für ihn hatte dieser Tag eine noch weitaus dramatischere Entwicklung genommen, da Ilona an diesem Morgen einen Brief bekommen hatte, der sie in höchste Erregung zu versetzen schien. Er hatte sich nie darum gekümmert, von wem und was für Post sie bekam, doch an diesem Tag konnte es ihm nicht verborgen bleiben, dass sie Geheimnisse vor ihm hatte.
Sie hatte diesen Brief im Bett gelesen, und als er ihr Zimmer betreten hatte, als sie zu schreien begann, hatte sie noch rasch versucht, den Brief zu verstecken. Er musste irgendwo hineingerutscht sein, denn er fand Ilona am Boden herumkriechend. Sie hatte dann als Erklärung gesagt, dass sie irrsinnige Schmerzen hätte, und daraufhin hatte er sie in die Klinik gefahren, obgleich sie sich seltsamerweise sträubte.
Nachdem Dr. Leitner ihm gesagt hatte, dass kein Anlass zur berechtigten Sorge bestünde, war er heimgefahren. Er hatte den Brief gesucht und gefunden, und da waren ihm die Augen aufgegangen, die er immer noch vor Ahnungen hatte verschließen wollen. Es waren nur wenige Zeilen, die er lesen konnte.
Adieu, Ilona, es hat nicht sollen sein. Markus hat mir ein so glänzendes Angebot gemacht, das ich nicht aufs Spiel setzen will. Du wirst schon alles zurechtbiegen. Alles Gute wünscht Dir Peter. Natürlich auch für den Stammhalter!
Für Markus war es purer Hohn, was sein Cousin Peter Nicolai da geschrieben hatte. Ausgerechnet Peter, dem er zu allem verholfen hatte, was er heute war und besaß. Peter, der immer so getan hatte, als wäre Ilona für ihn überhaupt nicht vorhanden.
Alle Zweifel, die Markus schon so lange hegte, wurden zu einem Drama, weil es Peter war, mit dem Ilona ihn betrogen hatte. Markus zweifelte an seinem Verstand. Und vor allem zweifelte er jetzt daran, der Vater des Kindes zu sein, das Ilona zur Welt brachte.
Aber es wurde kein Stammhalter. Um halb elf Uhr rief ihn Dr. Leitner an und sagte ihm, dass er Vater einer Tochter geworden sei.
»Ich werde dann morgen Vormittag kommen«, sagte er tonlos.
Dr. Leitner wandte sich kopfschüttelnd zu Daniel Norden um. »Er kommt morgen Vormittag«, sagte er. »Er hat wohl mit einem Stammhalter gerechnet und ist enttäuscht.«
»War sie nicht auch enttäuscht?«, fragte Daniel.
»Sie nehmen wir doch nicht mehr für voll«, sagte Schorsch. »Sie hat das Kind doch gar nicht angeschaut. Nur ihr Bauch war interessant, und sie hat geheult, dass er immer noch dick war. Wenn ich mehr solche Patientinnen hätte, würde ich den Beruf wechseln.«
»Tröste dich mit dem Gedanken, dass sie bestimmt kein Kind mehr zur Welt bringen wird«, sagte Daniel. »Und ich hoffe zu Gott, dass sie sich einen anderen Hausarzt suchen wird, wenn ich ihr bei passender Gelegenheit mal sage, was ich über sie denke.«
»Sei vorsichtig, solche Frauen sind unberechenbar.«
»Was ich privat sage, kann mir niemand ankreiden.«
»Privat hast du doch nichts mit ihr zu schaffen«, sagte Schorsch.
»Wollte sie sich noch nicht an deine Brust schmiegen?«, fragte Daniel anzüglich.
»Du liebe Güte«, ächzte Schorsch, »dazu bin ich wohl nicht attraktiv genug. Hat sie es etwa bei dir versucht?«
»Sie hat da keine Skrupel, Schorsch, aber ich habe ja Loni als meinen rettenden Engel. Sei nur froh, dass du hier keinen flotten jungen Doktor hast, den sie möglicherweise umgarnen könnte.«
»Bei mir nicht«, sagte Schorsch. »Ist sie wirklich so schlimm? Ich dachte nur, dass sie hysterisch ist. Und Nicolai ist doch ein so seriöser Mann.«
»Zu seriös für sie, aber er hat Geld, und die weniger seriösen haben meistens keins, oder sie kennen diese Sorte Frauen zu gut.«
»Hat Nicolai sich denn nicht auf das Kind gefreut?«, fragte Dr. Leitner.
»Er ist schwer durchschaubar, aber es kann sein, dass ihn die letzten Wochen total entnervt haben. Sie war unausstehlich. Ich habe sogar Zustände gekriegt, wenn ich zu ihr gerufen wurde. Wie die Königin von Saba thronte sie in ihrem Bett.«
»War sie auch so? Für solche Damen habe ich mich nie interessiert«, sagte Schorsch.
»Wir sind ja auch glücklicherweise bestens versorgt. So leid wie mir Nicolai auch tut, es ist seine Angelegenheit. Er hat eine gesunde, sehr niedliche Tochter. Man kann ihm nur wünschen, dass sie ihrer Mutter nicht ähnlich wird.«
Indessen war Ilona bei vollem Bewusstsein und fassungslos, dass ihr Mann nicht herbeigeeilt kam. Ausgerechnet Schwester Dorle bekam zu hören, was sie in ihrem Zorn darüber von sich gab. Sie hatte gleich den negativsten Eindruck von dieser Frau bekommen.
Nein, das ist nichts für Angelika, dachte sie. Das würde sie nicht ertragen. Und das sagte sie am nächsten Morgen auch Dr. Leitner.
Er nickte. »Sie soll sich selbst eine Säuglingsschwester suchen, wenn sie nicht fähig ist, ihr Baby selbst zu versorgen«, sagte er.
*
Markus Nicolai kam am nächsten Vormittag in die Klinik. Er sprach zuerst mit Dr. Leitner und erfuhr von ihm, dass die Geburt ohne Komplikationen verlaufen sei.
Dann betrachtete er das Baby, das Dorle in den Arm genommen hatte. Er betrachtete es kritisch, als suche er nach Ähnlichkeiten. Dorle war bestürzt, weil er keinerlei Freude zeigte. Auf sie machte dieser Mann einen sympathischen und zuverlässigen Eindruck, aber sie gestand sich auch ein, dass er zu Ilona keineswegs zu passen schien.
Ilona hatte sich einige Gedanken gemacht, nachdem sie ausgeschlafen hatte. Freilich hatte sie erwartet, dass ihr Mann sie mit Blumen und einem kostbaren Geschenk überraschen würde, aber er blieb zwei Schritte entfernt von ihrem Bett stehen.
»Nun hast du es ja überstanden«, sagte er heiser. »Ich bringe dir übrigens diesen Brief, der dich gestern so erregt hat.«
Sie starrte ihn an. Ihre Lippen bewegten sich, aber sie brachte kein Wort darüber.
»Ich werde Peter mitteilen, dass es kein Stammhalter ist«, fuhr Markus tonlos fort. »Immerhin wäre es sehr peinlich gewesen, wenn Martha diesen Brief beim Aufräumen gefunden hätte.«
Sie schnappte nach Luft: »Wie kannst du so reden, Markus«?, stieß sie hervor. »Du hast das missverstanden. Ich war auch empört und wollte dir das erklären. Du musst es richtig verstehen. Ich habe ihm einen Korb gegeben.«
»Verstrick dich nicht noch weiter in Lügen«, sagte er. »Ich werde feststellen lassen, ob ich überhaupt der Vater des Kindes bin.«
»Das wagst du zu sagen?«, kreischte sie. »Willst du mich umbringen?«
»Das bestimmt nicht. So töricht wäre ich denn doch nicht, mein Leben noch mehr zu verderben. Ich werde die Scheidung einreichen.«
Ihre Augen waren ganz eng. »Und mit welcher Begründung?«, fragte sie, den Brief zerreißend.
»Das war nur eine Ablichtung«, sagte er gelassen. »Und wenn ich Peter in die Wüste schicke, wird er schon plaudern. Du hast mich unterschätzt, Ilona. Deine Launen habe ich ertragen, aber der Krug ist übergelaufen. Und jetzt hast du viel Zeit zum Nachdenken. Niemand wird dich stören. Ich werde dich nicht besuchen, und wenn du hier herumschreist, werden die Ärzte entscheiden müssen, ob du in einer Nervenklinik nicht besser aufgehoben wärest. Das Spiel ist aus. Du hast es zu weit getrieben. Kümmere dich jetzt um deine Figur, um dein Gesicht. Dafür zahle ich noch.«
»Markus, ich bitte dich, bedenke doch, dass du auch deinen Ruf aufs Spiel setzt«, sagte Ilona zitternd.
»Mein Ruf interessiert mich nicht. Ich steige aus. Meinetwegen soll alles draufgehen, was ich bisher erreicht habe. Glück hat es mir nicht gebracht. Aber so will ich nicht mehr leben. Meine Selbstachtung will ich nicht auch noch verlieren. Du hast es geschafft, mich innerhalb eines Jahres kaputt zu machen. Aber es war ja meine Schuld, dass ich auf dein Getue hereingefallen bin.«
»Du musst mich anhören, Markus. Ich kann doch nichts dafür, dass mir die Männer nachlaufen. Ich habe sie doch nie animiert.«
»Nie?«, höhnte er. »Mich auch nicht? Ich sehe es jetzt nur anders. Peter mag wohl schneller durchschaut haben, worauf es dir ankommt. Er hatte ja genügend Erfahrung mit Frauen. Mir kannst du jetzt nichts mehr vormachen.«
»Aber es war nichts zwischen mir und Peter«, sagte sie schluchzend. »Wenn du schon dein Kind nicht anerkennen willst, glaube mir doch wenigstens das.«
Er blieb an der Tür stehen. In seinem Gesicht arbeitete es. »Gut, ich werde Peter ein Angebot machen. Er kann dich haben, wenn er dich noch haben will, und dafür werde ich nochmals bezahlen. Aber nur unter der Voraussetzung, dass du gegen die Scheidung keinen Einspruch erhebst. Das ist mein letztes Wort.«
Und dann ging er.
Ilona starrte auf die geschlossene Tür. Sie weigerte sich zu glauben, dass dies wirklich so geschehen war, dass Markus sie nach der Geburt des Kindes so verächtlich behandelte, und nie und nimmer hätte sie sich eingestanden, dass sie daran selbst schuld war.
Markus hatte nicht die geringste Ahnung gehabt, was sich zwischen ihr und Peter angebahnt hatte. Sie hatte sich insgeheim amüsiert, wie leicht er hinters Licht zu führen war. Sie war viel zu skrupellos, um dabei Gewissensbisse zu bekommen. Peter, ja, das war der Mann, den sie sich gewünscht hatte, aber Markus war reich. Er konnte ihr mehr, er konnte ihr alles bieten, was man mit Geld kaufen konnte.
Niemand ahnte, was in ihrem Kopf vor sich ging, nachdem Markus sie verlassen hatte, im wortwörtlichen Sinne verlassen. Niemand in der Leitner-Klinik hätte sich auch vorstellen können, dass eine Frau, die gerade ein Kind zur Welt gebracht hatte, solcher Gedanken fähig sein könnte.
Man betrachtete sie nur als eine exzentrische Frau, als sie es ablehnte, das Baby zu stillen, obgleich sie dazu durchaus in der Lage gewesen wäre.
Als man sie fragte, wie das Baby heißen solle, erklärte sie, dass dies ihr Mann entscheiden solle. Es war für Dr. Leitner doch ein leichter Schock, als Markus Nicolai daran kein Interesse bekundete. Da er sich auch während der nächsten Tage nicht in der Klinik blicken ließ und Ilona nun immer wieder schluchzend erklärte, dass er sich so sehr auf einen Sohn versteift hätte, dass er die Tochter nicht akzeptiere, bat Dr. Leitner seinen Freund Norden, einmal mit Markus Nicolai zu reden.
Markus war nach Brüssel geflogen, wo Peter nun seit einigen Tagen die Leitung der Niederlassung übernommen hatte.
Peter war über sein Erscheinen erstaunt, aber ahnungslos, was Markus dazu bewegt hatte.
»Ist das Baby immer noch nicht da?«, fragte er überstürzt.
»Doch, es ist da. Es ist ein Mädchen«, erklärte Markus kühl. »Du kannst den Namen aussuchen.«
»Ich, wieso ich?«, fragte Peter verblüfft.
»Ilona hat bestimmt, dass der Vater den Namen aussucht.«
Peter wurde blass. »Soll das ein Witz sein?«, fragte er heiser.
»Keineswegs. Mir ist dein Brief in die Hände gefallen, und mir ist ein Licht aufgegangen. Ich habe eine Menge geschluckt, aber zum Narren lasse ich mich nicht machen.«
»Markus …«, er kam nicht weiter, der Ältere schnitt ihm gleich das Wort ab. »Du wirst mich jetzt anhören«, sagte er eisig. »Du kannst sie und das Kind haben, und du bekommst eine halbe Million von mir, wenn die Scheidung sang- und klanglos über die Bühne geht. Es liegt jetzt an dir, Ilona dahingehend zu beeinflussen. Andernfalls bekommst du von mir nicht mehr einen müden Euro und kannst dir woanders eine Stelle suchen. Hast du verstanden?«
»Aber ich bin nicht der Vater des Kindes«, widersprach Peter erregt. »Gut, ich gebe zu, mit Ilona ein Techtelmechtel gehabt zu haben, aber dann hat sie sich für dich entschieden.«
»Damit ihr mich gemeinsam ausnehmen könnt«, sagte Markus verächtlich. »Da habt ihr euch wirklich etwas einfallen lassen, aber sie wird nichts zurechtbiegen. Ich habe ihr bereits erklärt, dass diese Angelegenheit für mich erledigt ist.«
»Das kannst du nicht machen, Markus«, begehrte Peter auf. »Es ist dein Kind, ich schwöre es dir. Es ist nicht so, wie du denkst. Lass es dir doch wenigstens erklären.«
»Bitte, ich höre. Aber ich will kein Märchen aufgetischt bekommen.«
»Ich war verliebt in Ilona, bevor sie dich kennenlernte. Wir hatten ein Verhältnis, aber sie ist eine anspruchsvolle Frau. Heiraten wollte sie mich nicht. Und heiraten wollte ich sie eigentlich auch nicht. Als ich in England war, hat sie sich an dich herangemacht. Ich war wirklich überrascht, als ich erfuhr, dass es ihr gelungen war, dich eingefleischten Junggesellen einzufangen. Es brachte mich natürlich auch in eine verzwickte Lage, aber ich konnte ja sicher sein, dass sie über unsere Affäre nicht reden würde.« Er schwieg plötzlich, aber Markus sagte scharf: »Weiter, es ging doch weiter.«
»Nicht, wie du denkst. Ich dachte, sie würde sich durch das Kind ändern. Ich vermied es, sie zu treffen, aber sie kam eines Tages wieder zu mir. Sie sagte, dass sie dir das Kind überlassen würde, und dass sie sowieso den Eindruck hätte, dass du die Heirat schon bereust.«
»Womit sie allerdings recht hatte«, sagte Markus kühl. »Ich habe für diesen Ausrutscher teuer genug bezahlt.«
»Und jetzt ist es dir sehr willkommen, dass du einen Grund gefunden hast, Ilona loszuwerden«, sagte Peter gepresst.
»Ich habe nicht damit gerechnet, dass du mich hintergehen würdest«, sagte Markus, »aber nun kannst du die Sache ausbaden. Und du kannst mir nicht einmal vorwerfen, dass ich kleinlich wäre.«
»Ich wollte das nicht, Markus. Ich habe Ilona beschworen, dich nicht zu enttäuschen. Ich habe doch Adieu gesagt.«
»Mit einer merkwürdigen Formulierung und aus egoistischen Gründen, weil du dir mein Wohlwollen nicht verscherzen wolltest.«
»Ich wollte Ruhe vor ihr haben, ja, das wollte ich«, erwiderte Peter erregt. »Und schließlich ist es nicht mein Kind. Ich bin jederzeit bereit, dies medizinisch feststellen zu lassen.«
»Und ich bin nicht bereit, die Ehe fortzuführen. Es gilt, was ich vorhin sagte. Du kannst dich entscheiden.«
»Ich habe gedacht, du liebst Ilona«, sagte Peter beklommen.
»Eine solche Frau kann man doch nicht lieben. Ich muss Mattscheibe gehabt haben, als ich mich überhaupt mit ihr einließ, und warum ich sie dann geheiratet habe, weißt du ja.«
»Und jetzt bist du voller Zweifel, der Vater des Kindes zu sein. Aber du kannst doch rechnen, Markus, sogar sehr gut rechnen. Ich war zu jener Zeit für Ilona jedenfalls nicht verfügbar.«
»Wenn nicht du, dann vielleicht ein anderer«, sagte Markus voller Bitterkeit.
»Kannst du das wirklich denken?«, fragte Peter erregt.
»Ich will mich nicht näher darüber auslassen. Ich will auch nicht mit dir streiten. Ich denke, dass dir Ilona ohnehin schreiben wird, oder sie ruft an. Sie wird dir berichten, wie ich reagiert habe, und du wirst sie trösten. Sie wird sich scheiden lassen und in deine Arme eilen, falls sie nicht noch mehr Eisen im Feuer hat.«
Er sagte es so kühl und unberührt, dass ein Frösteln über Peters Rücken kroch.
»Und was wird mit dem Kind?«, fragte er.
»Es wird sich finden. Mir wird schon etwas einfallen. Wenn die Scheidung vollzogen ist, kannst du machen, was du willst. Auch mit dem Geld, das du bekommen wirst«, fügte er sarkastisch hinzu.
»Mir gefällt es hier sehr gut«, sagte Peter, »und du wirst dich nicht zu beschweren haben. Ich werde gute Arbeit leisten.«
Markus runzelte die Stirn. »Wir können nach der Scheidung noch mal darüber reden«, sagte er.
Er flog am Abend zurück, und Peter konnte nun darüber nachdenken, was für ihn am vorteilhaftesten sein könnte. Der Gedanke, Ilona für immer am Hals zu haben, behagte ihm nicht.
*
Markus erfuhr erst am nächsten Morgen, dass Dr. Norden angerufen hatte und ihn dringend zu sprechen wünsche.
Natürlich dachte er dabei sofort an Ilona und fragte sich, was sie möglicherweise ausgeheckt haben könnte, um ihn umzustimmen.
Er rief Dr. Norden an. Der war jedoch gerade sehr beschäftigt. Markus vereinbarte mit Loni einen Termin am Nachmittag.
Ilona gab sich indessen apathisch und entsagungsvoll. Ohne Make-up sah sie so nichtssagend aus, dass Dr. Leitner gar nicht begreifen konnte, wieso sie eigentlich so faszinierend auf Männer wirken konnte, dass so ein kühler Typ wie Markus Nicolai auf sie hereingefallen war.
Jetzt spielte sie wieder die Leidende, als er automatisch ihren Puls fühlte, dabei hatte sie auch die lästigen Begleiterscheinungen, die dadurch entstanden waren, dass sie das Kind nicht stillte, bereits überwunden. Für den Arzt gab es keinen Zweifel, dass sie organisch eine völlig gesunde Frau war.
Er sagte ihr das auch klipp und klar. Sie verlegte sich aufs Schmollen. »Von meinem Seelenleben wissen Sie aber nichts«, seufzte sie. »Ist es nicht irgendwie demütigend für eine Frau, wenn sie einen so gefühllosen Mann hat, der sich nicht einmal um sein Kind kümmert?«
»Sie wollen es ja auch nicht bei sich haben«, sagte Dr. Leitner unverblümt.
»Ich fühle mich entsetzlich elend«, redete sie sich heraus.
»Das verstehe ich wirklich nicht. Sie hatten eine leichte Geburt, wie ich sie mir für alle Frauen wünschen würde.«
»Und warum habe ich immer noch einen dicken Bauch?«, fragte sie aggressiv.
»Wenn man nicht stillt, dauert es länger, bis man wieder Figur bekommt«, erklärte er, »aber Sie müssten sich auch Bewegung verschaffen.«
»Ich bin doch viel zu schwach«, widersprach sie.
»Das bilden Sie sich nur ein.« Dr. Leitner war nicht bereit, ihr auch noch gut zuzureden. Auch ihm fiel sie auf die Nerven, und er war sonst wirklich die Ruhe selbst.
Das Kind tat ihm jetzt schon leid. Er hoffte jetzt nur, dass Daniel Norden von Markus Nicolai eine Stellungnahme erfahren würde.
Seine Stimmung besserte sich, als er nun Frau Messner aufsuchte, die genau das Gegenteil von Ilona war, und die ihr Kind am liebsten gar nicht aus dem Arm lassen wollte.
»Ein bisschen Ruhe sollten Sie sich aber doch gönnen, Frau Messner«, mahnte er die nicht mehr ganz junge Frau. »Daheim haben Sie dann doch gar keine mehr.«
»Ach was, das werd’ ich schon schaffen. Was meinen Sie, wie mein Mann sich freut, wenn er mich morgen mit unserm Butzerl abholen kann.«
Sie hatte das Kind erst vor einer Woche zur Welt gebracht, aber sie konnte es gar nicht erwarten, ganz schnell wieder heimzukommen. Solche Unterschiede gab es, aber Dr. Leitner war froh, dass die positiven überwogen.
*
Als Markus Nicolai bei Dr. Norden erschien, gewann er bald den Eindruck, einen sprechenden Roboter vor sich zu haben, so unbewegt war Nicolais Gesicht, so steif seine Bewegungen.
»Betrachten Sie es bitte nicht als Einmischung in Ihre Intimsphäre, Herr Nicolai«, begann Dr. Norden, jedes Wort überlegend, »aber wir machen uns Gedanken, dass Sie Ihre Frau und Ihr Kind nicht besuchen, und das Baby muss endlich angemeldet werden. Ihre Frau hat sich noch nicht für einen Namen entschieden. Dabei hat sie sich dahingehend geäußert, dass Sie sich einen Sohn gewünscht hätten und nun enttäuscht wären.«
»Und was hat sie sonst noch beklagt?«, fragte Markus. »Ich werde Ihnen reinen Wein einschenken, Herr Dr. Norden. Es bleibt ja unter uns. Ich bezweifle, dass ich der Vater des Kindes bin.«
Deutlicher hatte er es nicht sagen können. Dr. Norden sah ihn bestürzt an.
»Sie haben Beweise dafür?«, fragte er stockend.
»Ich habe Beweise, dass Ilona ein Verhältnis mit meinem Cousin hatte, und das genügt mir. Dass ich zufällig der Vater des Kindes sein könnte, ändert nichts an meiner Einstellung. Ich werde mich scheiden lassen.«
»Wenn Sie so triftige Gründe haben, sollten Sie aber doch bedenken, dass das Kind ehelich geboren ist und Ihren Namen tragen wird.«
»Mein Cousin heißt auch Nicolai«, sagte Markus ironisch.
»Wenn es aber doch Ihr Kind ist, Herr Nicolai?«
Markus starrte ihn blicklos an. »Kann man es mit hundertprozentiger Sicherheit feststellen?«
»Sie sollten sich mit Dr. Leitner unterhalten. Er kann Ihnen mit Sicherheit sagen, wann die Schwangerschaft eingetreten ist und einen DNA-Test machen. Sie sind doch nicht der Mann, der die Verantwortung für sein Kind von sich schiebt, was immer Sie auch gegen Ihre Frau haben können.«
»Wie es auch sei, es ist nicht gut, wenn ein Kind ohne Mutter aufwächst, und ich werde bestimmt nicht wieder heiraten.«
»Aber Sie würden doch auch nicht sagen, dass Ihre Frau eine gute Mutter werden könnte.«
Markus Nicolai starrte Dr. Norden wieder an. »Ich werde mir alles durch den Kopf gehen lassen und morgen mit Dr. Leitner sprechen.«
»Wollen Sie sich nicht auch mit Ihrer Frau aussprechen?«
»Es ist bereits alles gesagt. Man hat mich zum Narren gehalten, aber ich bin kein Hampelmann. Ich hatte gehofft, dass sie sich durch das Kind ändern wird, aber es war ihr nur Mittel zum Zweck, diese Heirat zu erzwingen. Und Sie wissen sehr gut, wie sie sich aufgeführt hat.«
Ja, das wusste Daniel Norden, und er hatte auch Verständnis für diesen Mann, der sich so tief gekränkt fühlen musste. Doch das Kind konnte wirklich nichts dafür.
Nachdem Markus gegangen war, rief Dr. Norden in der Leitner-Klinik an, um seinem Freund Schorsch Bericht zu erstatten.
»Mir ist jetzt alles ziemlich egal«, sagte Schorsch seufzend, »wenn sie nur schnell aus meiner Klinik verschwindet. So ein Weib habe ich wirklich noch nicht erlebt. Jetzt hat sie plötzlich erklärt, dass das Kind Mercedes heißen soll, weil das ihre Lieblingsautomarke ist.«
»O Gott! Morgen kommt Nicolai, sprich mit ihm darüber.«
*
An diesem Abend war Ilona allerdings bestens gelaunt. Peter hatte sie angerufen, und durch den Draht konnte sie nicht sehen, wie unbehaglich es ihm zumute war.
Zuerst hatte sie gejammert, dass er ihr diesen Brief geschrieben hatte und ihm dann gesagt, dass Markus ihn gefunden hätte.
Er erklärte ihr, dass er dies wüsste. dass er von ihm informiert worden sei.
»Er will die Scheidung«, sagte sie, »aber so leicht mache ich es ihm nicht.«
»Was willst du eigentlich, Ilona? Jetzt ist doch alles klar. Die Karten liegen auf dem Tisch. Ich werde dich abholen.«
Sie schnappte fast über. »Das wirst du tun? Und wie soll es weitergehen?«
»Du wirst dich scheiden lassen, aber du musst dich mit ihm einigen, dass er das Kind behält.«
»Wie es scheint, will er es aber nicht haben.«
»Lass dir was einfallen.«
»Wirst du mich heiraten, Peter?«
»Zuerst musst du geschieden sein. Außerdem heißt du doch sowieso Nicolai, und ich denke, dass du Markus einige Bedingungen stellen kannst, wenn du keine Schwierigkeiten machst.«
»Zahlen muss er ja auf jeden Fall«, sagte sie kichernd.
Vielleicht wurde ihm erst in diesem Augenblick ganz bewusst, wie gefühllos und berechnend sie war, und ein ganzes Leben mit ihr zu verbringen, konnte er sich weiß Gott nicht vorstellen, aber ihm lag jetzt vor allem daran, nicht sich selbst zu schaden. Er setzte alle Hoffnung darauf, dass Ilona sehr bald am süßen Leben wieder Gefallen finden würde.
Jedenfalls wurden die Schwestern an diesem Abend nicht schikaniert. Ilona schmiedete Pläne.
*
Dorle hatte Dienst auf der Säuglingsstation. Ein Dutzend Babys hatten sie zur Zeit hier, und nicht alle waren so friedlich wie die kleine Mausi. So hatten sie das bisher namenlose Baby genannt, an dessen Bettchen nur der Name Nicolai stand.
Es war ein ausgesprochen niedliches Kind, und für Dorle spielte es keine Rolle, welcher Art die Mutter war. Gerade war sie dabei, die Kleine zu wickeln, als Dr. Leitner eintrat.
»Hat sich ja schon rausgemacht«, sagte er. »Mercedes soll sie nun heißen, was sagen Sie dazu, Dorle?«
»Du liebe Güte, warum nicht gleich Rolls Royce?«
»Sie haben wenigstens Humor. Nun, morgen wird Herr Nicolai kommen, und wir werden hören, was er sagt.«
»Zeigt er nun doch Interesse? Eine seltsame Ehe muss das sein. Ich weiß nicht, warum manche Leute überhaupt heiraten.«
»Sie haben hoffentlich diese Absicht nicht so bald«, sagte Dr. Leitner. »Es würde uns sehr leidtun, wenn Sie uns bald wieder verlassen.«
»Keine Bange, ich fühle mich hier sehr wohl.«
Mausi strampelte und gab drollige Laute von sich. Plötzlich betrachtete Dr. Leitner fasziniert die kleinen Beine. »Ein Muttermal am Unterschenkel, das ist auch selten«, sagte er staunend. »Das ist mir gar nicht sofort aufgefallen.«
»Es ist ja auch nur ein Pünktchen«, sagte Dorle, »bestimmt nichts Schlimmes.«
»Nein, das gewiss nicht, aber wenn die Kleine wächst, wird es wohl noch mitwachsen.«
»Für eine junge Dame immerhin noch besser als im Gesicht«, sagte Dr. Leitner gedankenvoll. »Hat Frau Nicolai solch ein Muttermal?«
»Bei ihrer Eitelkeit hätte sie das wohl längst entfernen lassen. Himmel, die Frau kennt doch gar nichts anderes, als sich im Spiegel zu betrachten und zu pflegen. Aber man muss es ihr lassen, dass sie es schon schafft, schnell wieder Figur zu kriegen. Nichts für ungut, Herr Doktor.«
»Wir können ja ein bisschen lästern, wenn es niemand hört«, sagte er.
Mausi schlief jetzt satt und zufrieden ein. Dr. Leitner konnte sich nun auch Ruhe gönnen, aber redselig war er nicht, wie seine Frau Claudia feststellen musste.
»Bedrückt dich was, Schorschi?«, fragte sie weich.
»Nicht so sehr. Morgen kommt Nicolai. Ich werde aufatmen, wenn diese Frau Adieu sagt. Kannst du dir vorstellen, dass es mehr solche Frauen gibt, die ihr Baby nur ein einziges Mal kurz angeschaut haben?«
Claudia konnte sich das vorstellen, denn sie hatte es erlebt, als sie selbst noch Krankenschwester gewesen war.
»Ich habe es erlebt, dass eine Frau ihr Kind überhaupt nicht angeschaut hat und ein paar Tage später auf Nimmerwiedersehen aus der Klinik verschwand. Sie hatte sich dort unter einem falschen Namen eingetragen und wurde nie gefunden.«
»Und das Kind?«
»Es kam zu sehr liebevollen Adoptiveltern, und das ist immer noch besser, als wenn brutale Mütter oder auch Väter ihre Kinder zu Tode prügeln. Es ist erschreckend, wie oft man das heutzutage in den Zeitungen liest.«
»Es ist grausam«, sagte er leise. »Es ist vieles in der Welt grausam, mein Liebes.«
Am nächsten Tag sollte er feststellen, dass es sich Markus Nicolai nicht so leicht machte, wie er gemeint hatte.
Dr. Leitner überlegte. »Darf ich Sie fragen, ob Sie ein bestimmtes äußeres Merkmal haben, Herr Nicolai!«
»Was meinen Sie?«
»Ein Muttermal zum Beispiel.«
Markus sah ihn verwundert an. »Ich habe tatsächlich eins«, erwiderte er. »Und seltsamerweise an der gleichen Stelle, wo es auch meine Mutter hatte. Wir haben früher darüber oft gestaunt, dass so etwas möglich ist.«
»Und wo befindet sich das Muttermal?«
»An meinem rechten Unterschenkel, aber warum fragen Sie danach?«
»Weil ich Sie jetzt bitten möchte, mit mir zur Säuglingsstation zu gehen.«
In Dr. Leitners Stimme schwang Staunen und Erleichterung mit. »Die Natur treibt manchmal ein seltsames Spiel«, sagte er, als sie dann in dem kleinen Raum standen, der durch eine breite Glasfront von der Säuglingsstation abgeteilt war.
Schwester Dorle hatte Mausi, die sehr ungehalten war, weil sie aus tiefem Schlummer gerissen wurde, entkleidet, damit man ihre Beinchen sehen konnte. Das Muttermal befand sich zwar am linken Unterschenkel, aber Markus war sprachlos, als er es betrachtete.
Sein Gesicht war blass, seine Lippen bildeten nur einen schmalen Strich. Er wandte sich ab und fuhr sich über die Augen.
»Ich werde sie behalten«, sagte er leise. »Darf ich sie mal in den Arm nehmen?«
»Dazu werden wir Ihnen einen sterilen Kittel anziehen müssen«, erwiderte Dr. Leitner. »Aber wir sollten uns jetzt besser unterhalten. Es muss noch erörtert werden, ob sie wirklich Mercedes heißen soll.«
»Mercedes?«
»Ein Einfall Ihrer Frau. Wegen der Lieblingsautomarke.«
»Das sieht ihr ähnlich«, sagte Markus sarkastisch. »Ich möchte jetzt, dass sie Angelika heißt, wie meine Mutter.«
Er wirkte zwar äußerlich gefasst, aber seine Augen hatten jetzt einen anderen Ausdruck, und in seinem Gesicht arbeitete es.
Bevor Dr. Leitner etwas sagen konnte, fuhr Markus fort: »Es wird aber nichts an meinem Entschluss ändern, mich von Ilona zu trennen. Ich habe bereits meinen Anwalt beauftragt, alle notwendigen Schritte in die Wege zu leiten. Allerdings werde ich eine Betreuerin für das Kind brauchen. Könnten Sie mir dabei behilflich sein?«
»Es besteht die Möglichkeit«, erwiderte Dr. Leitner.
»Es muss eine außerordentlich zuverlässige Person sein.«
»Das Baby könnte vorerst noch in der Klinik bleiben«, erklärte Dr. Leitner.
Markus atmete tief durch. »Ich werde jetzt mit Ilona sprechen. Wie lange muss sie noch in der Klinik bleiben?«
»Sie hat mir heute Morgen verkündet, dass sie uns am Wochenende verlassen wird.«
»Das ist gut, das erleichtert alles. Von dem Muttermal sagen Sie ihr bitte nichts.«
Aus dem Mann soll man klug werden, dachte Dr. Leitner.
Er redete, als ginge es um ein Geschäft. Aber dann musste sich der Arzt doch eingestehen, dass Markus Nicolais Stimme nicht mehr so kühl klang, seit er das Baby betrachtet hatte.
Er ging zu Dorle zurück. »Die Kleine wird Angelika heißen«, sagte er. »Das wäre doch ein gutes Omen für Ihre Freundin Angelika. Ganz gewiss eine gute Stellung für sie.«
»Sie betreut jetzt aber eine schwer depressive Patientin von Dr. Norden«, erwiderte Dorle.
»Nun ja, vorerst kann die Kleine ja hierbleiben. Es wird sowieso noch einiges zu regeln sein.«
»Wieso ist er nun doch anderen Sinnes geworden? Darf ich das fragen?«
»Manchmal bedarf es nur eines kleinen Pünktchens, Dorle. Seine Mutter hieß Angelika, und sie hatte auch so ein Pünktchen. Er übrigens auch, aber das bleibt unter uns.«
»Selbstverständlich.«
In Ilonas Augen glomm es triumphierend auf, als Markus ihr Zimmer betrat.
»Besinnst du dich jetzt doch«, sagte sie mit einem frivolen Lächeln, »aber jetzt ist es zu spät. Ich habe mich bereits für Peter entschieden.«
Wie töricht sie doch ist, dachte er. Aber war er nicht auch töricht gewesen, als er sich von ihr verführen ließ.
»Dann ist es ja gut«, sagte er ruhig. »Wir können uns über die finanziellen Dinge unter uns einigen.«
Es passte ihr nicht ganz in den Kram, dass er sofort wieder den Geschäftston anschlug, und auch ihr blieb erst mal die Sprache weg, als er erklärte, dass er das Kind behalten würde.
»Sie wird Angelika getauft werden«, sagte er.
»Wie du willst«, rang es sich von ihren Lippen.
Ihn wiederum überraschte es, dass sie so reagierte. Aber gleich sagte sie: »Es ist immerhin erfreulich, dass du dein Kind wenigstens anerkennst. Für die Scheidung werde ich selbstverständlich meine Bedingungen stellen.«
»Ich werde dir einen Vorschlag machen, Ilona. Du bekommst monatlich dreitausend Euro, bis du dich wieder verheiratest. Peter kann die Niederlassung in Brüssel weiterhin leiten, solange er dies korrekt tut, und er wird dafür entsprechend honoriert und beteiligt werden.«
»Und was hast du mit dem Kind vor?«, fragte sie mit einem tückischen Blick.
»Es wird eine ausgebildete, perfekte Betreuerin bekommen. Du kannst deine Sachen holen oder abholen lassen und deinen Mercedes vollladen.«
»Peter holt mich ab«, sagte sie triumphierend.
»Dann kann er dir ja beim Einpacken helfen«, sagte Markus kühl. »Ich werde nicht anwesend sein.«
»Hast du keine Angst, dass ich dir das Haus ausräume?«, fragte sie zynisch.
»Mein Anwalt wird anwesend sein und die Formalitäten mit dir besprechen. Noch irgendwelche Fragen?«
»Das wäre es dann ja wohl«, erwiderte sie gereizt. »Du langweilst mich, du hast mich immer gelangweilt.«
Sie konnte ihn nicht mehr reizen. Er lächelte spöttisch. »Dann ist ja alles okay«, sagte er eisig.
»Und nicht der kleinste Dank, dass ich dir ein Kind zur Welt gebracht habe«, brauste sie auf.
»Zähl mal zusammen, was deine Kleider und dein Schmuck kosten, die Pelze und alles Drum und Dran. Und für die neun Monate bekommst du zehntausend Euro extra.« Er warf ihr einen Umschlag auf das Bett. »Aber komm mir ja nicht wieder unter die Augen«, fügte er dann hinzu und ging.
Dr. Leitner vertrat ihm den Weg. »Wollten Sie nicht Ihre Tochter in den Arm nehmen?«, fragte er leise.
»Ich komme, wenn diese Frau die Klinik verlassen hat«, erwiderte Markus. »Passen Sie gut auf mein Kind auf.«
*
Das wäre doch eine Aufgabe für Angelika Limmer, dachte Dr. Norden, als Schorsch am Abend mit ihm telefoniert hatte. Aber sie betreute jetzt Frau Kuester, und das war ein tragischer Fall. Dr. Norden musste jeden Tag zu dieser schwer depressiven Frau, manchmal sogar zweimal, und er hatte wirklich tiefes Mitgefühl mit ihr, obgleich sie nicht ganz schuldlos an ihrer Lage war.
Sie war mit achtundvierzig Jahren Witwe geworden. Ihr Mann hatte sie gut versorgt hinterlassen, und auch ihre beiden Kinder hatten ein anständiges Erbteil bekommen. Aber sie waren erwachsen gewesen und bald aus dem Hause gegangen. Frau Kuester hatte es nicht allein ausgehalten. Sie war eine Frau, die nie einen Beruf gehabt hatte, sie wusste nichts mit ihrer Zeit anzufangen. Immer war ihr Leben von ihrem Mann und von den Kindern bestimmt worden. Sie hatte einen Untermieter in das geräumige Haus genommen, einen Mann, der ihr gefiel, der sich bei ihr einschmeichelte und angeblich eine hohe Pension bezog, obgleich er nicht viel älter war als sie.
Er hatte sie um einen großen Teil ihres Erbes gebracht, bis ihr bewusst wurde, welch falsches Spiel er mit ihr getrieben hatte. Bei ihren Kindern fand sie kein Verständnis mehr. Sie sah alles nur grau in grau, dann, als sich auch die alten Freunde zurückzogen, alles nur noch schwarz, und die Depressionen wurden immer schlimmer.
Sie war eine hübsche, gepflegte Frau gewesen, jetzt aber nur noch ein Häufchen Elend. Und auch Angelika, dieses herzenswarme, verständnisvolle Wesen, vermochte nichts auszurichten. Als Dr. Norden an diesem Abend kam, zuckte sie nur noch mit den Schultern.
»Sie lässt sich völlig gehen«, sagte Angelika. »Sie überhäuft sich mit Selbstvorwürfen, und dann sind wieder die Kinder an allem schuld. Die Tochter erwartet gerade ein Baby und weigert sich zu kommen, was auch verständlich ist. Der Sohn, mit dem ich heute telefonierte, verhält sich auch reserviert, aber er kommt und will dafür sorgen, dass sie in eine psychiatrische Klinik gebracht wird.«
»Das wäre wohl auch am besten, aber auf mich will sie ja nicht hören«, sagte Dr. Norden.
»Sie sagte nur immer wieder, dass es doch nichts nützt und was das wieder kosten wird. Dafür hätte sie kein Geld.«
»Ganz arm ist sie ja wirklich nicht«, sagte Dr. Norden, »und außerdem zahlt das die Versicherung.«
»Aber das sieht sie nicht mehr ein, Herr Doktor. Es steht schlimm um sie.«
»Und Sie sehen auch schon ganz mitgenommen aus«, stellte Dr. Norden fest.
»Es ist doch schrecklich, wenn man nicht mehr helfen kann.«
»Ich denke, dass ich Ihnen bald eine Stellung verschaffen kann, die Ihnen Freude machen wird. Jetzt werde ich mal mit Frau Kuester sprechen.«
»Sie reden gegen eine Wand«, sagte Angelika.
So war es auch. Starre, blicklose Augen in einem eingefallenen Gesicht, eiskalte Hände, die ohne Gefühl zu sein schienen.
Auch beschwörende Worte schienen ihr Gehör nicht mehr zu erreichen.
»Ihr Sohn wird kommen, Frau Kuester«, sagte er.
Nichts regte sich in ihrem Gesicht, in ihren Augen. »Er wird mir auch nur sagen, dass ich immer faul gewesen bin, dass ich nie etwas getan habe«, sagte sie. »Ich sage es mir ja auch. Ich bin selbst schuld an allem.«
Das hatte sie schon so oft gesagt, immer und immer wieder, und etwas anderes dachte sie nicht mehr.
»Schwester Angelika meint es doch so gut mit Ihnen«, sagte Dr. Norden.
»Ich kann sie nicht mehr bezahlen. Sehen Sie mich doch an. Ich habe nur noch ein paar schäbige Sachen.«
Die hatte sie wirklich an, aber Dr. Norden wusste sehr gut, dass sie einen vollen Kleiderschrank mit guten Sachen hatte. Sie hatte sich jedoch schon so tief in diese Wahnvorstellungen hineingesteigert, dass sie nicht mehr davon zu befreien war. Arm und verlassen sei sie, aber es wäre ja alles ihre Schuld. Lebensangst war wohl der auslösende Grund gewesen.
Dr. Norden gab ihr die übliche Injektion, doch Angelika sagte, dass auch diese nicht mehr lange wirken würde.
»Ich sehe keine Besserung mehr«, sagte Dr. Norden. »Vielleicht hilft die gezielte Behandlung in der Klinik, den geistigen Verfall einzudämmen, aber der körperliche ist auch bedenklich fortgeschritten. Wenn Herr Kuester kommt, soll er sich gleich mit mir in Verbindung setzen. Aber nun zu Ihnen, Frau Limmer.«
Er erzählte von Markus Nicolai und dem Baby, das auch Angelika heißen sollte.
»Das wäre doch eine erfreulichere Aufgabe für Sie«, meinte er, »und Herr Nicolai würde diese Tätigkeit bestimmt großzügig honorieren.«
»Dorle hat mir von seiner Frau erzählt«, erklärte Angelika zögernd.
»Sie wird nicht mehr in das Haus zurückkehren. Die Fürsorge für das Kind wird allein in Ihren Händen liegen.«
»Manche Frauen kann man wirklich nicht verstehen«, sagte sie leise. »Wenn ich daran denke, wie verzweifelt die beiden jungen Mütter waren, als sie ihre Kinder verloren, ich werde es nie vergessen. Auch nicht, wie die Ärzte nur darauf bedacht waren, jede Schuld von sich abzuwälzen.«
Sie braucht auch etwas, was ihr Freude bereitet, dachte Dr. Norden. Diese trostlose Atmosphäre hier deprimiert sie auch.
»Sie werden es sich überlegen, Frau Limmer?«
»Ich brauche nicht zu überlegen, wenn ich hier nicht mehr gebraucht werde und Herr Nicolai einverstanden ist.«
»Ich werde eine Verabredung mit ihm vereinbaren, wenn Frau Kuester in der Klinik ist.«
*
Das geschah schon am übernächsten Tag. Da war sie bereits so apathisch, dass sie keinen Widerspruch erhob, und die Anwesenheit ihres Sohnes, der einen sehr energischen Eindruck machte, trug wohl auch mit dazu bei.
Er hatte mit Dr. Norden gesprochen und ihm erklärt, dass es absolut unsinnig sei anzunehmen, dass seine Mutter mittellos wäre. Außerdem sei sie ausreichend versichert und könne bestens untergebracht werden.
Er bedankte sich auch höflich bei Angelika. Für sie war diese traurige Episode nun auch vorbei. Dr. Norden konnte ihr bald mitteilen, dass Herr Nicolai sie am Montag zu einem Gespräch erwarte.
Angelika konnte sich am Wochenende von den Strapazen erholen, die die Pflege der bedauernswerten Frau Kuester mit sich gebracht hatte. Sie fuhr zu ihrer Mutter, die in Reith wohnte.
In der Leitner-Klinik war man guten Mutes, da für Ilona Nicolai nun die Abschiedsstunde schlug. Besorgt war man dann aber doch, als sie das Kind zu sehen wünschte. Manchmal erwachten Muttergefühle spät, aber für Ilona war es nur ein letzter Auftritt.
Die kleine Angelika schrie wie am Spieß, als sie aus ihrem Bettchen genommen wurde. Krebsrot wurde ihr Gesichtchen, und da sah sie nicht so niedlich aus wie sonst. Ilonas Gesicht drückte auch Widerwillen aus, als sie fragte, ob sie immer so schrie.
»Babys schreien halt manchmal«, erklärte Dorle, »das kräftigt die Lunge.«
Ilona war zufrieden, dass sie solchen Behelligungen entfliehen konnte. Sie fieberte Peter entgegen, und als er kam, genierte sie sich keineswegs, ihm um den Hals zu fallen. Ihm war das peinlich, und er drängte zur Eile. Dagegen hatte Ilona auch nichts einzuwenden. Dr. Leitner war im Kreißsaal unabkömmlich und so verlief auch ihr Abschied aus der Leitner-Klinik wirklich sang- und klanglos. Und hier begann das große Aufatmen.
»Bin ich froh, dass ich das hinter mir habe«, sagte Ilona. »Aber ein paar Wochen werde ich schon noch brauchen, um wieder in Form zu sein. Du wirst ja nichts dagegen haben, dass ich mich auf einer Schönheitsfarm erhole, Peter.«
Einen größeren Gefallen konnte sie ihm gar nicht tun, aber er war äußerst vorsichtig mit seiner Antwort.
»Es wird wohl überhaupt besser sein, wenn wir die Scheidung getrennt abwarten«, sagte er.
»Meinst du, dass es schnell gehen wird?«, fragte sie.
»Das wird Markus schon durchsetzen.«
Sie warf ihm einen raschen Seitenblick zu. »Du sagst das so komisch.«
»Er macht kurzen Prozess, wenn für ihn etwas erledigt ist.«
»Aber er will das Kind behalten und hat ihm auch den Namen seiner Mutter gegeben. Vielleicht denkt er doch, dass ich zu ihm zurückkomme.«
»Damit brauchst du bestimmt nicht zu rechnen.«
»Wie bist du mit ihm verblieben?«
»Er mit mir, meinst du wohl. Nun, er war fair. Eiskalt und souverän.«
»Er hat kein Temperament«, sagte Ilona wegwerfend.
»Du solltest froh sein, dass er sich so verhält.«
»Ich meine, dass er mich in der Klinik nicht so hätte brüskieren müssen. Man kann ja wenigstens nach außen hin das Gesicht wahren. Gut, es ist erledigt.«
Sie dachte jetzt schon daran, was sie alles mitnehmen wollte, von ihren persönlichen Dingen abgesehen, aber so etwas schien Markus geahnt zu haben. Die wertvollen Dinge waren alle unter Verschluss. Das kostbare Silber und auch das Meißener Porzellan.
Peter nahm es zur Kenntnis, aber er sagte nichts.
»Hilf mir packen«, sagte Ilona unwillig.
Da wurden zwei riesige Wandschränke ausgeräumt, Kleider, Pelze, Wäsche, Schuhe und Handtaschen.
»Wo willst du das unterbringen?«, fragte Peter.
»Na, du wirst doch hoffentlich Platz haben. Alles kann ich doch nicht mitnehmen ins Sanatorium.«
»Hast du schon einen Platz?«, fragte er.
»Alles gebucht«, erwiderte sie lässig. »Ich bin so taktvoll, dir nicht zuzumuten, mich zu ertragen, solange ich mich selber nicht leiden kann.«
Eigentlich hatte sie erwartet, dass er sagen würde, dass ihm dies nichts ausmache, aber er sagte es nicht.
»Wohin soll ich dich bringen?«, fragte er.
»Du sollst mich nirgendwohin bringen, mein Schatz. Diese vier Koffer werde ich mitnehmen in meinem Wagen, und das andere nimmst du mit. Wir werden jetzt ganz schick essen gehen, aber irgendwohin, wo man mich nicht kennt, und dann trennen sich vorerst unsere Wege.«
Sie konnte nicht ahnen, wie erleichtert er war, da er nun sagte: »So hatte ich es mir nicht gedacht, Ilona.«
»Aber du wirst mich wiederbekommen, wenn ich diese schrecklichen Wochen überwunden habe. Manches hatte ich mir ja auch anders vorgestellt, aber es ist mir doch lieber so. Mir hat es gelangt, wenn ich das Geplärr von diesen Kindern hörte.«
Ein Gemütsmensch war Peter gewiss nicht, aber so viel Gefühllosigkeit ging ihm doch unter die Haut.
»Wir waren auch mal so klein«, sagte er rau.
»Gut, dass wir uns daran nicht erinnern können«, lachte sie frivol. »Du brauchst jedenfalls nicht zu fürchten, dass ich das noch mal mitmache.«
»Und wenn ich mir nun ein Kind wünschen würde?«, fragte er.
»Du? Dass ich nicht lache. Man lebt nur einmal, Peter, und mir kamen diese neun Monate wie neun Jahre vor.«
Er wollte sich nicht in eine Diskussion mit ihr einlassen. Er hörte sich dann auch bei dem gemeinsamen Essen widerspruchslos an, welche Pläne sie für die Zukunft entwickelte. Da war auch eine lange Weltreise inbegriffen.
»Vergiss nicht, dass ich mir mein Geld auch verdienen muss«, sagte er da doch.
»Fang du jetzt nicht auch noch damit an. Ich weiß schon, wie wir zu Geld kommen werden. Schließlich bist du ja der einzige Verwandte von Markus.«
Ihm wurde es immer unbehaglicher. »Vergiss nicht, dass er auch noch eine Tochter hat«, warf er ein.
Sie kniff die Augen zusammen. »Deine Argumente sind lächerlich«, zischte sie. »Was ist bloß in dich gefahren?«
»Vergiss auch nicht, dass wir von Markus’ Gnade leben«, sagte er nun.
»Von seiner Gnade«, höhnte sie. »Was macht er denn mit all seinem Geld? Er versteht doch nicht zu leben. Er ist ein Spießer.«
Warum sie ihn dennoch geheiratet hatte, brauchte er nicht zu fragen, doch ihre Kaltblütigkeit auch jetzt gab ihm zu denken.
Für die nächsten vier Wochen war er sie los. Die würde sie auf der Beauty-Farm Regina Romano im Tessin verbringen.
»Ist dir die Fahrt nicht zu weit?«, fragte er.
»Keine Sorge, mein Schatz, ich habe zwei Tage Zeit. Ich habe auch in Luzern noch etwas zu erledigen. Monique wird mich begleiten. Du hast sie doch mal kennengelernt.«
»Du hattest schon vorgeplant?«, fragte er.
»Du hast es erfasst. Ich hatte nicht die Absicht, mich sofort einem kleinen Schreihals zu widmen. Nun bleibt mir das sowieso erspart. Ich bin ganz zufrieden, dass es so gekommen ist. Und du bist doch auch froh, Peter!«
Nicht der mindeste Gedanke schien ihr zu kommen, dass dem nicht so sein könnte. Sie bedachte ihn mit betörenden Blicken. »Wir werden ein gutes Gespann abgeben«, meinte sie mit einem girrenden Lachen. »Wir brauchen ja auch nicht zu heiraten. Nicolai heiße ich sowieso, und Markus zahlt nur solange, bis ich mich wieder verheirate. Du musst jetzt schauen, dass du noch herausholen kannst aus ihm, was herauszuholen ist. So, nun können wir starten. Meine Adresse hast du. Auf unsere gemeinsamen Nächte muss ich ja leider noch verzichten, aber in ein paar Wochen wird es umso schöner werden, Peter.«
Gott, steh mir bei, dachte er unwillkürlich, in was habe ich mich da eingelassen! Aber nun hatte er wenigstens ein paar Wochen Zeit, mit sich ins Reine zu kommen. Er hatte sich ja alles ganz anders vorgestellt, als er ihr jenen Brief geschrieben hatte.
*
Markus Nicolai kehrte erst am Sonntag wieder in sein Haus zurück. Und da war dann auch das Mariele wieder da, die Hausangestellte, der er das Wochenende freigegeben hatte, das sie bei ihren Eltern in Straubing verbracht hatte.
»Ich will Sie ja nicht erschrecken, Herr Nicolai«, sagte sie ängstlich, »aber die Schränke im Zimmer der gnädigen Frau sind alle leer.«
»Sie hat ihre Sachen abgeholt. Sie wird nicht mehr zurückkommen«, erwiderte er.
»Nie mehr?«, fragte Mariele, eine gute Vierzigerin und etwas langsam von Begriff, staunend.
»Nie mehr.«
»Und das Baby? Ist was mit dem Baby?«
»Es ist noch in der Klinik. Ich werde eine Pflegerin einstellen. Es wird Sie hoffentlich nicht tangieren, dass ich mich scheiden lasse.«
Was tangieren bedeutete, wusste Mariele nicht, aber sie hörte, dass er sich scheiden lassen wollte.
»Jetzt, wo das Kindchen da ist«, murmelte sie geistesabwesend. »Aber gefreut hat sie sich ja nicht darauf.«
»So ist es, Mariele«, sagte er, »und jetzt wird darüber nicht mehr geredet. Morgen kommt eine junge Frau. Limmer heißt sie. Sie wird für das Baby sorgen. Ich hoffe, dass Sie sich gut mit ihr verstehen und bei uns bleiben.«
Schlimmer kann’s ja nicht werden, dachte Mariele, die auch allerhand mitgemacht hatte in diesen Monaten, und sie tat ihre Arbeit und wurde gut bezahlt. Das war ihr wichtig, denn sie musste ihre Eltern unterstützen, die alt waren und von einer kleinen Rente leben mussten.
Es behagte Markus nicht, dass Ilona ihren Hausschlüssel mitgenommen hatte. Gleich am Montagmorgen bestellte er den Schlosser und ließ ein neues Sicherheitsschloss einsetzen. Am späten Vormittag kam der Notar. Markus hatte alles bedacht. Er machte sein Testament.
Während er mit dem Notar sprach, rief Peter an. Er wolle ihn nur unterrichten, dass Ilona die nächsten Wochen in einem Sanatorium im Tessin verbringen würde, sagte er.
»Interessiert mich nicht«, sagte Markus kurz.
»Ich dachte, du brauchst ihre Einwilligung zur Scheidung«, meinte Peter verlegen.
»Die habe ich bereits.«
»Es gäbe doch noch einiges zu besprechen«, sagte Peter.
»Ruf mich heute Abend an. Ich bin hier.«
Angelika Limmer kam pünktlich um vier Uhr. Ihr blasses Gesicht hatte an dem sonnigen Wochenende Farbe bekommen. Ein glattes, sympathisches Gesicht mit warmen Grauaugen war es. Das aschblonde Haar trug sie schlicht zurückgesteckt. Für Markus genügte ein kurzer Blick, um sie so einzustufen, wie sie war, zuverlässig, unauffällig und zurückhaltend.
Sie gab ihm ihre Papiere, bevor er sie dazu aufgefordert hätte, ihre Referenzen und auf seine kurze Frage, erklärte sie ihm dann auch, warum sie die Stellung an der Klinik aufgegeben hätte. Sie ist ehrlich und auch mutig, dachte er. Dann sprachen sie über das Baby.
»Es mag ein gutes Vorzeichen sein, dass Sie auch Angelika heißen«, sagte er. »Es war auch der Vorname meiner Mutter, und deshalb sollte ihn auch meine Tochter bekommen. Dr. Norden war so freundlich, Ihnen bereits mitzuteilen, dass meine Ehe getrennt wird, also brauchen wir darüber keine Worte mehr zu verlieren. Mir liegt nur daran, dass das Kind bestens versorgt wird. Das Kinderzimmer ist eingerichtet. Sie können gleich nachschauen, ob noch etwas fehlt. Über die Einrichtung Ihrer Räume können Sie selbst bestimmen. Da es sich um eine absolut selbstständige Vertrauensstellung handelt, werde ich Ihnen das Doppelte Ihres vorherigen Gehaltes zahlen. Wenn Sie sich entschieden haben, werde ich Sie mit Mariele bekannt machen, die für Haus und Küche sorgt.«
Er führte sie zum Kinderzimmer. Es war groß und modern eingerichtet.
Alles war vorhanden, aber die Kleidung war noch verpackt und fabrikneu.
»Die Wäsche müsste ausgekocht werden«, sagte Angelika. »Es ist ja wohl eine Waschmaschine im Haus.«
»Aber sicher«, erwiderte Markus mit einem flüchtigen Lächeln. »Mariele wird Ihnen alles zeigen. Und Sie wissen alles bestimmt besser als ich.«
Dann zeigte er ihr die beiden Räume, die neben dem Kinderzimmer lagen, die bisher als Gästezimmer bezeichnet, aber wenig benutzt worden waren.
»Eines kann ganz als Wohnraum eingerichtet werden«, erklärte er. »Möbel sind genug vorhanden. Sie können sich aussuchen, was Sie haben wollen. Das Bad steht auch zu Ihrer alleinigen Verfügung, ebenso das Schrankzimmer. Ansonsten wird ohnehin noch einiges verändert werden, bis das Baby abgeholt wird. Ich denke, das wird in zwei Wochen sein.«
»Warum wollen Sie so lange warten?«, fragte Angelika.
»Wann können Sie anfangen?«, fragte er.
»Das brauchen Sie nur zu bestimmen.«
»Gut, umso besser, dann können Sie sich hier einrichten und Sie bestimmen, wann das Baby geholt wird.«
»Ich habe Erfahrung. Es ist nicht gut, wenn sich ein Baby im frühesten Alter an eine Bezugsperson gewöhnt, die dann plötzlich nicht mehr da ist.«
»Sie ist an niemanden gewöhnt«, stellte er ruhig fest.
»Ein wenig doch an die Säuglingsschwester. Ich bin mit Dorle Gulden befreundet. Sie hat sich ganz besonders um Mausi gekümmert.«
»Mausi?«, wiederholte er fragend.
»So wurde Ihre Tochter genannt.« Angelika errötete. »Man gibt ja den Säuglingen Kosenamen. Männer verstehen das wohl nicht so ganz, aber auch die Kleinstkinder reagieren auf Stimmen, auf die Ansprache, auf die Art, wie sie umsorgt werden.«
»Ich habe mich damit noch nicht befasst, aber ich bin überzeugt, dass Sie meine Tochter bestens versorgen werden«, erklärte Markus. »Allerdings müsste ich auch zur Bedingung machen, dass Sie ständig im Hause sind, bis Mariele sich an das Kind gewöhnt hat.«
»Selbstverständlich.«
»Haben Sie keine Verwandte oder Bekannte?«
»Meine Mutter wohnt in Reith. Ich habe sie am Wochenende besucht. Hier kenne ich nur Dorle Gulden näher.«
»Ich habe nichts dagegen, wenn Ihre Freundin Sie besucht, aber Herrenbesuche wären mir nicht angenehm.«
Jetzt war er tatsächlich auch ein bisschen verlegen geworden, weil Angelika plötzlich leise lachte. »Das brauchen Sie nicht zu fürchten, Herr Nicolai. Ich habe keinen Freund, und Dorle hat auch sehr wenig Zeit. Aber es ist sehr nett, dass Sie mir gestatten, sie mal einzuladen. Sie wird sich auch dafür interessieren, wie Mausi sich entwickelt.«
Ihm war plötzlich ganz eigen zumute. Zwei fremde Frauen hatten Interesse an seinem Kind, das ihr von der eigenen Mutter versagt wurde. Es wurde ihm leichter ums Herz. Sein Gesicht entspannte sich.
»Für alles, was das Kind braucht, werde ich Geld bereitlegen, sodass Sie mich nicht zu fragen brauchen. So, das wäre es für heute. Jetzt mache ich Sie mit Mariele bekannt. Sie ist eine einfache Frau, aber ein guter Mensch.«
Mariele wischte sich schnell die Hände an ihrer Schürze ab, als Angelika ihr die Hand reichte. Scheu sah sie die Jüngere an, aber dann ging ein Aufleuchten über ihr Gesicht.
»Ein herzliches Willkommen sag ich. Mariele heiß ich.«
»Und ich Angelika.«
»Darf ich so sagen?«, fragte Mariele.
»Aber ja.«
Es wird gutgehen, ging es Markus durch den Sinn. Besser wird es sein, als es vorher war.
Angelika fuhr noch zur Leitner-Klinik. Ihr Wagen war alt und klapprig und stotterte recht herum.
»Nun mach schon, Schnauferl«, sagte sie. »Ein bissel musst du noch durchhalten.«
Aber leichten Herzens würde sie sich nicht von ihm trennen, das wusste sie, denn sechs Jahre hatte er ihr doch recht treue Dienste geleistet, und da hatte er auch schon an die dreißigtausend Kilometer zu verzeichnen gehabt.
So schön wie nun hatte sie es nie gehabt. Von Haus war kein Geld dagewesen. Als sie dann ihren Beruf angefangen hatte, wohnte sie erst in einem bescheidenen möblierten Zimmer, dann in einem kleinen Apartment mit Dorle zusammen im Schwesternheim.
Große Ansprüche hatten sie zwar beide nicht gestellt, aber ab und zu waren sie doch mal gern ins Theater oder in ein Konzert gegangen, hatten sich Schallplatten und Bücher gekauft und Vorträge besucht, um sich weiterzubilden.
Und nun sollte sie in einem wunderschönen Haus wohnen, über allen Komfort verfügen können, sogar einen Fernsehapparat haben.
Sie war zwar nicht so versessen darauf, aber manches hätte sie sich schon gern angeschaut, wenn Zeit dazu da war. Aber am wichtigsten war es ihr, ein kleines Kind ganz allein betreuen zu können, so, als wäre es ihr Kind. Ja, ein Kind hätte sich Angelika schon gewünscht, wenn ihr auch nie so recht der Sinn nach einem Mann gestanden hatte. Nach ihr schaute sich ja keiner um, und sie schaute erst recht nicht nach einem aus. Da war mal ein Arzt gewesen, der schon ganz gern mit ihr angebandelt hätte, aber sie hatte schnell herausbekommen, dass sie nicht die Einzige gewesen wäre.
Als Zeitvertreib war sie sich dann doch zu schade. Und als Krankenschwester hatte sie so manches mitbekommen, was ebenso unerfreulich war, wie Markus Nicolais Ehe wohl gewesen sein mochte. Einmal waren es die Männer, denen man nicht trauen konnte, aber dann waren es auch manchmal die Frauen.
Dorle freute sich, als sie kam. Sie hatte auch ein paar Minuten Zeit, und hier in der Leitner-Klinik war man da auch nicht kleinlich, wenn die Arbeit nicht vernachlässigt wurde.
»Hat es geklappt, Geli?«, fragte Dorle.
»Ja, und Herr Nicolai hat auch schon erlaubt, dass du mich besuchst. Es ist ein wunderschönes Haus. Du hättest die Stellung bestimmt auch haben können, Dorle.«
»Ach was, ich gönne sie dir von Herzen. Willst du jetzt deinen Schützling sehen?«
»Ist das erlaubt?«, fragte Angelika.
»Aber freilich, doch da kommt Dr. Leitner. Wir können ihn fragen, wenn es dich beruhigt.«
Und munter erklärte Dorle dem Arzt, dass dies Schwester Angelika sei, die die kleine Angelika Nicolai fortan betreuen solle.
»Da können wir dann allesamt zufrieden sein«, sagte Dr. Leitner lächelnd. »Wir sind sehr froh, wenn wir bald das Bettchen freibekommen.«
»Herr Nicolai will im Hause noch einiges verändern lassen«, erklärte Angelika. »Aber ich könnte ja noch mal mit ihm reden.«
»Es ist ein gesundes Kind. Es bestehen gar keine Bedenken«, sagte Dr. Leitner. »Und an Flaschennahrung ist es gewöhnt.«
Nun konnte Angelika das Baby betrachten und auch in den Arm nehmen. Die Kleine riss die Augen weit auf, deren Farbe noch ziemlich undefinierbar war. Zärtlich, mit weicher Hand streichelte Angelika das kleine Köpfchen.
»Wir werden schon gut miteinander auskommen, Mausi«, sagte sie leise.
»Das denke ich auch«, sagte Dr. Leitner, der dann wieder an die Arbeit gehen musste.
»Sie ist so ein liebes Kind«, sagte Dorle. »Ich frage mich, wie so ein wüstes Weib so ein goldiges Kind zur Welt bringen kann.«
»Ist sie so schlimm?«, fragte Angelika.
»Reden wir nicht darüber. Wir sind alle heilfroh, dass sie fort ist. Der Mann kann einem wirklich nur leidtun.«
»Er hätte sie ja nicht zu heiraten brauchen«, sagte Angelika.
»Wir wissen doch genau, wie das geht, Geli. Zuerst nur so ein bisschen Amüsement, und dann sind sie aufs Kreuz gelegt, und manche sind eben doch so anständig, dass sie die Konsequenzen ziehen, und auch ihr Kreuz tragen. Hast du keinen guten Eindruck von Nicolai?«
»Er ist schwer zu durchschauen. Nach außen hin kühl und gelassen.«
»Und wie’s drin ausschaut, geht niemand was an«, sagte Dorle. »Jedenfalls ist der andere Nicolai, der sie abgeholt hat, ein flotter Typ. Nun gib Mausi schon her, du wirst sie noch lange genug haben.«
»Dir gefällt Herr Nicolai wohl?«, fragte Angelika.
»Ich habe ihn ja nur ein paarmal kurz gesehen, aber übel finde ich ihn nicht. Er hätte was Besseres verdient.«
»Jedenfalls hätte seine Frau dem Baby die Wäsche wohl so angezogen, wie sie aus dem Geschäft gekommen ist«, sagte Angelika. »Alles noch mit Preisschildern versehen.«
»Die hätte der Kleinen überhaupt nichts angezogen. Die hätte gewartet, bis eine Säuglingsschwester das machte, Geli. Unserer Mausi bleibt viel erspart. Schau doch, wie süß sie ist.«
Angelika hätte die Kleine am liebsten gleich mitgenommen. Aber sie musste jetzt erst dafür sorgen, dass auch alles gut hergerichtet wurde.
*
Am nächsten Morgen erschien sie in der Villa Nicolai. Mariele machte ihr die Tür auf und strahlte.
»Der Herr ist schon im Büro«, erklärte sie, »aber ich weiß ja Bescheid.«
Wie fleißig und sauber sie war, konnte Angelika im Wirtschaftsraum feststellen, in dem von der Waschmaschine über den Trockner und die Bügelmaschine alles vorhanden war. Blitzblank war es auch, Mariele wollte Angelika diese Arbeiten abnehmen.
»Das kann ich wirklich selbst machen, Mariele«, sagte Angelika. »Die meiste Zeit schläft ein Baby noch, und ich kann doch nicht nur herumsitzen.«
»Aber der Herr hat gesagt, dass Sie nur für das Kind da sind.«
»Und das gehört auch dazu«, sagte Angelika, als sie die Babywäsche in die Waschmaschine legte.
»Heut kommen gleich die Handwerker«, sagte Mariele. »Die Zimmer von der Gnädigen werden anders eingerichtet. Das Zeug kommt alles weg.« Sie seufzte in sich hinein. »Ich hab’ ja geahnt, dass es mal ein böses Ende nehmen muss, so wie sie sich aufgeführt hat. Da braucht man ein dickes Fell, aber das hat der Herr gar nicht, das werden Sie schon noch merken. Man kann mit ihm auskommen.«
Dann läutete es. Die Möbelpacker kamen. Ein Dekorateur war dabei. Aus dem zweiten Gästezimmer wurden die Möbel zuerst herausgeschafft und andere hineingestellt, wunderschöne Möbel, wie Angelika feststellen konnte.
»Wäre doch schade, wenn sie auf dem Speicher verstauben«, sagte Mariele, »aber die Gnädige wollte ja alles ganz modern haben.«
Angelika konnte sich ihre Gedanken machen, doch nun wurden die Räume von Ilona ausgeräumt.
»Da bleibt nichts wie es war«, erklärte Mariele. »Ist auch besser so. Morgen kommen die Tapezierer. Wenn er was anordnet, geht es ruckzuck.«
Ja, es ging ruckzuck, und drei Tage später war alles fertig. Nur Möbel kamen nicht in die beiden Räume, die Ilona als ihr eigenes Reich hatte betrachten dürfen.
Mariele äußerte dazu nur kurz, dass er vielleicht doch noch mal heiraten würde und zuckte die Schulter. Ihr war das vorerst egal, denn Platz hatten sie alle genug.
Nur kurz hatte sich Angelika bei Markus bedanken können, dass ihr Wohnraum so schön eingerichtet worden war. Er war selten vor zehn Uhr abends zu Hause.
»Es freut mich, dass es Ihnen gefällt. Sie sollen sich wohlfühlen«, sagte er freundlich.
Als die Handwerker dann aus dem Hause waren, kam er früher heim, und Angelika wagte ihn zu fragen, wann sie das Baby holen dürfe.
»Sie können es wohl gar nicht erwarten?«, fragte er. »War nicht genug Trubel die letzten Tage?«
»Es war doch gar nicht schlimm«, erwiderte sie.
»Mariele hat mir gesagt, wie Sie zugepackt haben. Vielen Dank.«
Sie wurde verlegen. »Das war doch selbstverständlich. Mariele meint auch, dass wir sehr gut ohne Zugehfrau zurechtkommen.«
Seine Augenbrauen ruckten empor. »Ich hatte die frühere entlassen, weil sie zu viel geklatscht hatte. Ich dachte, dass wöchentlich einmal die Leute vom Reinigungsinstitut kommen, die auch meine Büroräume pflegen.«
»Das ist doch nicht nötig. Es macht doch niemand Schmutz«, sagte Angelika. »Mariele ist auch dieser Meinung. Ich habe schon schwerere Arbeit geleistet, Herr Nicolai. Mariele ist sehr umsichtig.«
»Das weiß ich. Hier liegt ja auch nie mehr etwas herum. Gut, dann kommen die Leute zum Fensterputzen und wenn ein großer Hausputz gemacht werden muss. Aber wenn die Kleine da ist und Sie nicht zurechtkommen, sprechen wir nochmals darüber, Frau Limmer.« Er machte eine kleine Pause. »Wollen wir sie morgen holen?«
Ihre Augen leuchteten auf. »Gern. Ich habe alles fertig. Windeln habe ich auch besorgt und was sonst noch alles nötig ist.«
»Was hat denn noch gefehlt?«, fragte er.
»Die Fläschchen, die Säuglingsnahrung und alles für die Körperpflege.«
»Wie es scheint, hätte das arme Kind hungern müssen«, sagte er sarkastisch. »Aber solche Sachen kann man ja nicht einfach telefonisch bestellen, noch dazu, wenn man überhaupt keine Ahnung hat und sich vorher nicht informiert. Aber es gibt ja sogar Mütter, die ihr neugeborenes Kind in einen Lumpen wickeln und in die Mülltonne werfen.«
Es klang so bitter, dass Angelika erschrak. »Das tut weh«, entfuhr es ihr.
»Ihnen ja, und mir auch. Wären Sie bitte so freundlich, in der Klinik anzurufen, wann wir Angelika morgen holen können?«
»Ja, gern«, erwiderte sie.
*
Dr. Leitner blickte auf, als Dorle eintrat. »Ist was?«, fragte er geistesabwesend, denn er hatte bereits ein neues Problem. Eines, das ihn menschlich ungemein mitnahm.
»Angelika hat eben angerufen, wann sie morgen das Kind holen könnten«, erwiderte Dorle.
»Das geht ja schneller, als ich dachte«, sagte er, und seine Miene hellte sich auf. »Aber es ist mir sehr willkommen. Wir bekommen einen Neuzugang, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Sagen wir gegen elf Uhr, dann kann ich unsere kleine Mausi verabschieden.«
»Heute hat sie zum ersten Mal gelacht«, sagte Dorle leise.
»Sie gehören glücklicherweise auch zu denen, die die Gefühlsregungen der Säuglinge richtig verstehen«, sagte er. »Angeblich sagen ja die Supergescheiten, dass Babies zwar schreien, aber nicht lachen können.«
»Die verstehen eben nichts«, sagte Dorle.
»Und uns wird man nachsagen, dass wir in diese kleinen Wesen etwas geheimnissen, Dorle«, meinte Dr. Leitner. »Aber das ist immer noch besser als die stupide Ansicht, dass diese kleinen Menschlein keiner fröhlichen Regung fähig sind.«
»Ich bin froh, dass ich Mausi auch später noch sehen kann und noch froher darüber, dass sie bestens betreut werden wird.«
»Es ist sehr beruhigend«, sagte Dr. Leitner.
Nun musste er sich wieder seinem jetzt größeren Problem zuwenden. Da ging es um eine junge Frau, die in Kürze ihr Kind zur Welt bringen sollte, und vor einer Stunde hatte Dr. Leitner die Nachricht bekommen, dass der Ehemann in lebensbedrohendem Zustand in die Behnisch-Klinik eingeliefert worden war. Es handelte sich um einen Kollegen von Dr. Leitner, um den Gynäkologen Dr. Richard Mey. Dr. Leitner kannte ihn nur flüchtig, und er war mehr als erstaunt gewesen, als Dr. Norden ihm gesagt hatte, dass Cornelia Mey kurz vor der Geburt ihres Kindes stünde. Es stimmte ihn nachdenklich, denn Dr. Mey war bereits Ende fünfzig und Dr. Leitner wusste, dass seine erste Frau vor vier Jahren gestorben war und aus dieser Ehe ein Sohn da war, der mindestens Ende zwanzig sein musste.
Dr. Dieter Behnisch hätte ihm noch mehr über den Kollegen Mey erzählen können, aber dazu hatte er jetzt keine Zeit. Er hatte sich umsonst bemüht, das Leben dieses von ihm sehr geschätzten Mannes zu retten, und nun musste er der jungen Frau sagen, dass ihr Mann tot war.
Obgleich sie hochschwanger war, hatte Cornelia Mey ihren Mann im Notarztwagen in die Klinik begleitet.
»Er darf nicht sterben, helfen Sie doch«, hatte sie immer wieder gestammelt. »Er hat sich doch so auf das Baby gefreut!«
Dr. Behnisch sah seine Frau Jenny hilflos an. »Würdest du es ihr schonend beibringen, Jenny?«, sagte er bittend. Jenny nickte.
Cornelia wartete im Ärztezimmer, aber als Jenny dieses betrat, sah sie, wie Cornelia sich stöhnend zusammenkrümmte. Doch nun starrte sie Jenny mit weit aufgerissenen Augen an.
»Was ist, wie geht es Richard?«, stammelte sie.
Jenny konnte es nicht sagen, nicht jetzt. »Er wünscht, dass ich Sie in die Leitner-Klinik bringe«, erklärte sie geistesgegenwärtig, »und ich denke, es ist höchste Zeit.«
»Ich möchte ihn sehen«, bat Cornelia.
»Jetzt geht das nicht, Cornelia. Ich rufe den Krankenwagen.«
»Nein, ich kann gehen. Es ist noch nicht so weit. Bitte, lassen Sie mich noch zu Richard.«
Aber dann konnte sie doch keinen Schritt mehr tun. Eilends wurde der Krankenwagen herbeigerufen, und Cornelia wurde auf eine Trage gebettet, und schon wenige Minuten später, die Leitner-Klinik war ja zum Glück so nahe, wurde sie dort schon in den OP gebracht.
Zum Reden war keine Zeit mehr, aber ein operativer Eingriff wurde auch nicht nötig. Die Aufregung hatte die Wehen beschleunigt, schon zehn Minuten später hielt Jenny, die Dr. Leitner in dieser heiklen Situation tatkräftig unterstützt hatte, einen recht kräftigen kleinen Buben im Arm.
»Wenigstens das ist gutgegangen«, sagte Jenny leise. Dr. Leitner warf ihr einen fragenden Blick zu, aber er begriff, ohne dass sie etwas sagte.
»Tragisch«, murmelte er.
Cornelia schlug nach der Kurznarkose bald die Augen wieder auf. Jenny hatte ihr das Baby, das schnell gesäubert worden war, auf den Bauch gelegt. Nach dem ersten kräftigen Schrei wimmerte es jetzt leise.
»Es ist ein Bub, Cornelia«, sagte Jenny, »ein kräftiges Bürschchen.«
»Sie müssen es Richard gleich sagen«, murmelte Cornelia. »Es wird ihm helfen.«
»Ich werde es ihm sagen.« Diese fromme Lüge musste jetzt dieser jungen Frau helfen. Sie musste leben für dieses Kind.
»Wir sehen uns später, Schorsch«, sagte Jenny leise. Dann streichelte sie Cornelia das feuchte Haar aus der glatten Stirn. »Und Sie sollen sich jetzt freuen, Cornelia. Schauen Sie Ihren Sohn an.«
Ihr war die Kehle eng, denn lange konnte sie es Cornelia nicht verheimlichen, dass Richard Mey nicht mehr lebte, aber sie war entschlossen, bei der frommen Lüge zu bleiben, dass er noch von der Geburt des Kindes erfahren hatte.
Dr. Norden war in die Behnisch-Klinik gekommen, um sich nach Richard Meys Befinden zu erkundigen. Als Jenny kam, hatte er schon erfahren, dass das Leben des Kollegen nicht mehr zu retten gewesen war.
»Es war kein Herzinfarkt«, sagte Dr. Behnisch. »Es war Krebs. Mir ist schleierhaft, wie er durchhalten konnte, aber er hat sich selbst behandelt, und er muss eine ungeheure Willenskraft gehabt haben.«
»Um die Geburt seines Kindes noch zu erleben?«, sagte Daniel Norden fragend.
Dieter Behnisch blickte zu Boden. »Er kann nicht der Vater des Kindes sein, Daniel. Er war schon seit Jahren impotent, das habe ich hier selbst festgestellt, aber er hat mich zum Schweigen verpflichtet, als er Cornelia geheiratet hat.«
»Er hätte fast ihr Großvater sein können«, sagte Daniel nachdenklich, aber ohne jegliche Hintergründigkeit. »Ist es möglich, dass er sie geheiratet hat, damit das Kind einen Vater bekommt?«
Dieter Behnisch zuckte die Schultern. »Jedenfalls hat er Cornelia sehr geliebt und sie ihn auch.«
»Und jetzt hat sie einen Sohn«, sagte Jenny von der Tür her, »und ich brachte es nicht über mich, ihr zu sagen, dass Richard gestorben ist.«
»Mein Gott, sie wird es doch erfahren müssen«, murmelte Dieter.
»Aber wir werden ihr sagen, dass er noch erfahren hat, dass es ein Sohn ist. Es wird ihr ein kleiner Trost sein.«
Dieter schluckte schwer. »Du weißt doch auch, dass er nicht der Vater sein kann, Jenny. Ich habe es Daniel eben erklärt.«
»Und sie wird es auch wissen«, sagte Jenny, »aber sie hing wirklich mit unendlicher Liebe an Richard. Warum konnten wir ihm nur nicht noch mehr helfen, Dieter?«
»Weil seine Lebensuhr abgelaufen war, Liebes. Er muss unmenschliche Schmerzen erduldet und ertragen haben.«
Auf das Warum gab es keine Antwort. Erbarmungslos hatte der Tod ein Leben weggenommen von dieser Welt, um damit ein zweites in grenzenlose Trauer zu versetzen.
Das wurde am nächsten Tag offenbar, als man es Cornelia mit aller Behutsamkeit mitteilte, mitteilen musste, da ja jemand beauftragt werden musste, die notwendigen Formalitäten zu erledigen.
Minutenlang lag sie wie erstarrt. »Ich muss es erst begreifen lernen«, flüsterte sie. »Er ist der beste, gütigste Mensch, der mir je begegnet ist.«
Sie sprach noch in der Gegenwartsform, aber dann rannen heiße Tränen über ihre Wangen.
»Weiß es Kati schon?«, schluchzte sie.
»Ja, ich habe sie benachrichtigt, Cornelia«, erwiderte Jenny. »Sie wird bald kommen.«
Und da kam sie, groß und knochig, eine schlichte Frau und doch irgendwie hoheitsvoll wirkend, die langjährige Haushälterin von Dr. Mey.
Sie nahm Cornelias Hände und drückte sie an ihre Lippen. »Jetzt müssen wir an das Kindchen denken und an dich, Nelchen«, sagte sie mit so weicher Stimme, wie man sie ihr nie zugetraut hätte.
Du sagte sie und Nelchen, aber für die, die es hörten, war dies nur beruhigend. Cornelia Mey war nicht allein.
»Darf ich jetzt unser Bübchen sehen?«, fragte Kati.
»Schwester Dorle wird ihn bringen«, sagte Dr. Leitner.
*
Für Dorle war dieses Geschehen so einschneidend, dass der Kummer über die Trennung von Mausi nicht so nachhaltig wirkte.
Von dieser seltsamen Ehe wusste sie nichts, aber nun war da eine junge Frau, die ihr Kind über alles liebte, und den Mann verloren hatte.
Dorle war es zum Weinen zumute. Sie war warmherzig und mitfühlend. Sie sah, wie aus Katis Augen Tränen auf das Gesichtchen des Babys fielen, wie sie dann behutsam die kleinen Hände streichelte.
»Bist ja unser Herzenskind«, murmelte Kati. »Gott wird es mir schon vergönnen, dass ich noch für euch sorgen kann.«
»Richard hätte sich so gefreut«, flüsterte Cornelia.
»Aber er wollte nicht, dass sein Prinzesschen traurig ist«, sagte Kati. »Es war schon schlimm genug, dass es so traurig sein musste. Aber jetzt soll ich lieber meinen Mund halten. Du musst jetzt schlafen, Nelchen. Du brauchst Kraft für dein Kindchen.«
*
»In so einer Klinik ist allerhand los«, sagte Markus Nicolai, als sie mit der kleinen Angelika zu Hause angelangt waren. »So dicht liegen Freude und Leid beisammen.«
»Was meinen Sie?«, fragte Angelika. »Ich habe nur mitbekommen, dass Dorle ein neugeborenes Baby zur Mutter bringen musste. Wir konnten uns gar nicht richtig verabschieden.«
Sie war ganz auf das Baby konzentriert, aber die kleine Angelika wachte gar nicht auf, als sie in das eigene Bettchen gelegt wurde.
»Ich habe zufällig gehört, dass es sich um Frau Mey handelt«, sagte Markus. »Dr. Mey ist plötzlich gestorben.«
Angelika wusste noch immer nicht, worum es sich handelte, aber sie wunderte sich, dass Markus Nicolai darüber sprach.
»Sie kannten ihn?«, fragte sie, und dann erschrocken: »Doch nicht der Gynäkologe Dr. Mey?«
»Kannten Sie ihn auch?«, fragte Markus.
»Er war in dem Gremium, das jenen Fall begutachten sollte, wegen dem ich meine Stellung aufgab. Er hat auch sehr mutig den Standpunkt vertreten, dass so etwas in einer gut geführten Klinik nicht passieren dürfe, aber man hat ihn auch nicht gerade freundlich behandelt.«
»Ich kannte seinen Sohn recht gut. Ich wollte ihn sehr gern als Mitarbeiter gewinnen, aber er hatte schon einen Vertrag für ein Großprojekt in Libyen in der Tasche, und dort ist er seit Monaten verschollen.«
»Wie schrecklich«, sagte Angelika bestürzt. »Das wird seinem Vater gewiss große Aufregung bedeutet haben.«
»Wahrscheinlich«, sagte Markus nachdenklich. »Mich wundert nur, dass er eine so junge Frau geheiratet hat. Aber das ist jedermanns eigene Angelegenheit. Missverstehen Sie mich bitte nicht.«
Das tat Angelika nicht. Es freute sie, dass er einmal so lange und persönlich mit ihr gesprochen hatte. Nun bereitete sie alles für Mausis nächste Mahlzeit vor. Und endlich konnte auch Mariele in aller Ruhe das Baby bestaunen.
»Ich denk schon, dass sie dem Herrn ähnlich wird«, sagte Mariele hoffnungsvoll.
»Die Hauptsache ist, dass sie gesund ist und ein fröhliches Kind sein wird«, sagte Angelika.
»Und so, wie ihre große Namensschwester«, meinte Mariele. »Ich freu mich so, dass Sie bei uns sind, Angelika.«
Mit dieser Entwicklung konnte Markus nun wahrhaft zufrieden sein. Aber der Tod von Dr. Mey beschäftigte ihn auch, und er erkundigte sich bei einigen zuständigen Stellen, ob man noch immer nicht wüsste, was eigentlich mit Stefan Mey geschehen sei. Aber niemand konnte ihm Auskunft geben. Diese Frage war Kati auch von Dr. Norden gestellt worden. Er hatte Stefan Mey auch gut gekannt.
»Mich dürfen’s nicht fragen«, sagte Kati traurig. »Er hätt’ nicht weggehen dürfen.«
»Ist er weggegangen, weil Dr. Mey Cornelia geheiratet hat?«, fragte Daniel. »Bitte, verübeln Sie mir die Frage nicht, Kati.«
»Gott bewahre, Gott bewahre«, murmelte sie. »Es war doch alles ganz anders, aber darüber soll ich nicht reden. Ich habe es meinem guten Herrn Doktor in die Hand versprechen müssen.«
»Ich will Sie auch nicht drängen, aber Stefan müsste doch benachrichtigt werden.«
Sie schlug die Hände vor ihr Gesicht.
»Das können wir doch nicht«, stöhnte sie schmerzlich. »Es stimmt doch, dass er verschollen ist, wenn auch was anderes geredet worden ist. Das ist so eine politische Sache, über die niemand richtig Auskunft geben will. Der Stefan wär’ längst zurück, wenn er noch leben würde. Schon wegen dem Nelchen.« Erschrocken hielt sie inne. »Das hätt’ ich auch nicht sagen sollen, Herr Doktor. Es ist doch alles so schwer, es geht doch auch um das Kindchen.«
Dr. Norden griff nach Katis Hand. »Sie dürfen Vertrauen zu mir haben, Kati. Wir alle wollen doch Cornelia helfen. Wenn Stefan tatsächlich verschollen ist, muss doch jemand Nachforschungen anstellen. Ich will das gern tun.«
»Aber der Herr Doktor hat doch alles unternommen«, sagte Kati. »Sie ahnen ja nicht, wie viel Geld er ausgegeben hat, um Stefan zu finden. Er wär’ ja auch selbst hingefahren und hätte ihn gesucht, aber er konnte Nelchen doch nicht allein lassen. Das arme Kind war ja so verzweifelt. Und nun hat sie beide verloren. Gott steh mir bei, ich wollte mein Wort nicht brechen.«
»Es wird Ihnen niemand übel nehmen, Kati«, sagte Dr. Norden sanft.
»Jetzt lassen Sie uns doch mal vernünftig darüber reden. Es bringt keinen Schaden, es kann nur Nutzen bringen.«
»Es war ein Verhängnis mit dem verdammten Vertrag«, murmelte sie. »Er hatte schon seinen eigenen Willen, der Stefan. Er war ja immer so ein Dickkopf. Die ganze Welt wollte er erforschen. Jesses, was hatte er schon als Bub alles im Kopf. Glauben wollte er nicht, dass Gott die Welt und die Menschen erschaffen hat, und leidig war es ihm, dass es so viel Reiche und so viel Arme gibt in der Welt. Die Menschen sind überall gleich, Kati, hat er zu mir gesagt. Es gibt Gute und Böse, aber in Frieden können wir nur leben, wenn wir alles verstehen, und denen helfen, die eben Hilfe brauchen. Und dann hat er auch gemeint, dass er den Armen helfen könnte, wenn er da an dem Projekt mitarbeitet. Worum es ging, weiß ich nicht, und der Herr Doktor hat gesagt, dass er sich wohl was ganz anderes vorgestellt hätte. Aber er hatte den Vertrag schon unterschrieben, als er das Nelchen kennenlernte, und da konnte er nicht mehr zurück. Er hat ja auch nicht erfahren, dass das Kindchen kommen würde.« Kati faltete die Hände. »Es war ja abgemacht, dass Nelchen bei uns bleiben soll, bis er wiederkommen würde.«
»Und er kam nicht wieder«, sagte Daniel heiser.
Kati nickte, und Tränen tropften auf ihre Hände herab. »Die Nachricht kam, dass er verschollen ist«, murmelte sie. »Und dann hat der Herr Doktor Nelchen geheiratet, damit das Kind wenigstens den Namen bekommen soll, der ihm zusteht, und dass keiner ihm das Erbe streitig machen könnt’. Es gibt ja noch Verwandte, die ganz fuchsig darauf sind. Aber jetzt können sie nichts mehr machen. Und ich werde aufpassen, dass keiner dem Prinzesschen zu nahe kommt, darauf werden Sie sich verlassen. Aber Sie dürfen keinem ein Wort davon sagen, Herr Doktor. Nelchen würde das nicht wollen. Sie hat ihn so geliebt den Herrn Doktor, genauso, wie sie den Stefan geliebt hat. Nein, er hätt’ nicht weggehen dürfen.«
»Er wollte doch wiederkommen, Kati, und leider weiß man nie vorher, was geschehen könnte.«
Sie nickte. »Man weiß es nie. Ich bin nur froh, dass es Nelchen gut geht und dass das Kind gesund ist. Und dass Sie alle so gut und verständnisvoll sind. Meinen Sie, dass man wirklich erfahren könnt’, was geschehen ist?«
»Ich werde mich sehr bemühen, es in Erfahrung zu bringen. Ich verspreche es Ihnen.«
*
Auf die Namen Stefan Richard Cornelius sollte das Baby getauft werden. So hätte es ihr Mann bestimmt, hatte Cornelia gesagt, und ebenso hatte sie bestimmt, dass Dr. Richard Mey erst beerdigt werden sollte, wenn sie ihm das letzte Geleit geben konnte.
Diese zarte junge Frau wuchs über sich hinaus, und man konnte sie nur noch bewundern. Das Baby wurde in der Klinik getauft. Ganz spontan hatte Jenny Behnisch sich als Patin angeboten, und Cornelia hatte es dankbar akzeptiert. Am darauffolgenden Tag stand Jenny neben Cornelia am Grab von Dr. Richard Mey. Kati stützte Cornelia an der anderen Seite. Auch Daniel und Fee Norden nahmen an der kurzen Trauerfeier teil. Dr. Behnisch musste operieren, und Dr. Leitner musste wieder einem Kind zum Erdendasein verhelfen. Aber unter den Trauergästen bemerkte Dr. Norden zu seinem Erstaunen auch Markus Nicolai. Und zufällig trafen sie sich dann auch am Ausgang.
Einer höflichen Begrüßung folgte ein kurzer Wortwechsel. »Sie kannten Dr. Mey?«, fragte Daniel Norden.
»Besser noch seinen Sohn, dessen tragisches Schicksal mich auch beschäftigt«, erwiderte Markus. »Ich habe leider noch immer nicht in Erfahrung bringen können, was mit ihm geschehen ist. Ich hoffe jedoch sehr, dass meine Nachforschungen auch von Erfolg sein werden.«
»Würden Sie mich informieren?«, fragte Daniel, »und darf ich fragen, wie es dem Baby geht?«
»Mausi ist bestens versorgt, das habe ich Ihnen zu verdanken«, erwiderte Markus.
Mit einer tiefen Verbeugung verabschiedete er sich dann auch von Fee Norden.
»Er ist doch ein sehr netter Mann«, sagte Fee, als sie mit Daniel zum Parkplatz ging.
»Er ist schon richtig aufgelebt«, sagte Daniel. »Es wäre gut, wenn er Stefan Meys Schicksal klären könnte. Er hat die besten Verbindungen.«
»Wieso eigentlich?«, fragte Fee skeptisch.
»Er ist Unternehmer. Die sitzen am Drücker.«
»Ich verstehe nicht, wie eine besitzgierige Frau solche Ehe aufs Spiel setzt«, sagte Fee.
»Wahrscheinlich hat sie nicht daran gedacht, dass er sie vor die Tür setzen würde, mein Schatz.«
Und genauso war es, denn so langsam wurde es auch Ilona bewusst, was sie da aufs Spiel gesetzt hatte.
Ihre Freundin Monique hatte sich nicht als so verständnisvoll erwiesen, wie sie es erwartet hatte. Sehr deutlich hatte sie ihr sogar erklärt, dass sie solche Einstellung, wie Ilona sie zeige, nicht akzeptieren könne. Und nun musste Ilona in dem »Sanatorium« hungern. Sie war auf Nulldiät gesetzt worden, und das Drumherum war auch nicht nach ihrem Geschmack.
Hinzu kam, dass Peter nicht anrief und dass sie ihn nie erreichen konnte. Sie bekam das große Flattern, war aber plötzlich tatsächlich so schwach, dass sie nichts mehr unternehmen konnte. Wenn sie sich aus dem Bett erhob, war ihr so schwindelig, dass sie zusammenbrach, aber es wurde ihr gesagt, dass sie dieses Stadium durchstehen müsse, wenn sie die überzähligen Pfunde schnell herunterbringen wolle.
Sie hatte nicht mal die Kraft, sich das selbst zu besorgen, wonach es sie gelüstete. Und in den Spiegel mochte sie schon gar nicht schauen, weil ihr Gesicht so faltig geworden war. So konnte sie sich auch gar nicht darüber freuen, dass sie bereits superschlank geworden war.
Aber so weit konnte sie noch denken, welches Leben sie gegen dieses eingetauscht hatte. Sie wollte dieses Leben wiederhaben. Mit letzter Kraft riss sie sich zusammen und schrieb Peter einen bitterbösen Brief.
Dann schleppte sie sich die Treppe hinunter, aber im Büro war niemand. Doch da sah sie eine Flasche stehen. Whisky war das, schottischer Whisky. Sie griff nach der Flasche und nahm sie mit. Sie traf niemanden. Sie kicherte in sich hinein, als sie ihr Appartement erreicht hatte.
Voller Abscheu sah sie die Wasserflasche an, die an ihrem Bett stand. »Jetzt ist Schluss«, sagte sie. »Ich will wieder leben.«
*
Ein paar Stunden vorher hatte Markus Nicolai seinen Cousin Peter angerufen.
»Ich hätte einen Auftrag für dich«, sagte er. »Kannst du nach Libyen fliegen?«
»Wenn du es wünschst«, erwiderte Peter.
»Dann setz dich in die nächste Maschine und komm nach München. Du kanntest doch Stefan Mey, Peter.«
»Ist er immer noch nicht zurück?«, fragte Peter.
»Nein, noch immer nicht. Ich werde dir alles erklären, wenn du hier bist.«
»Vielleicht erreiche ich die Abendmaschine noch«, sagte Peter.
Er erreichte sie, und kurz nach neun Uhr erschien er in der Villa Nicolai.
Das ahnungslose Mariele hätte ihm die Tür fast vor der Nase zugeschlagen, aber Peter sagte: »Markus erwartet mich.«
»Der Herr ist gerade erst gekommen«, sagte Mariele. »Er ist im Kinderzimmer.«
»Ist das Baby hier?«, fragte Peter.
»Natürlich ist es hier«, erwiderte Mariele.
Da stand Markus oben schon an der Treppe. »Du bist ja schon da«, sagte er.
»Ja, es hat geklappt. Du hast es ja dringend gemacht.«
Früher hatten sie sich eigentlich immer ganz gut verstanden, und jetzt war es, als wäre eine Mauer niedergerissen, obgleich keiner von beiden darüber nachdachte.
Neun Jahre Altersunterschied lagen zwischen ihnen, doch der schien auch verwischt.
Markus schien jünger, Peter älter geworden zu sein. »Setz dich«, sagte Markus. »Möchtest du etwas essen?«
»Wenn Mariele mir was gibt? Sie schaut grimmig«, sagte Peter.
Aber sie brachte dann doch was. »Nun red schon«, sagte Peter.
»Du kennst doch Stefan Mey«, sagte Markus. »Ihr habt doch ein paar Semester zusammen studiert.«
»Ich kannte ihn. Er soll tot sein«, erwiderte nun Peter.
»Es ist nicht bewiesen. Und wenn er tot ist, will ich wissen, wann und wie er ums Leben kam.«
»Warum?«
»Weil es mich interessiert. Wenn du bereit bist, schicke ich dich in geschäftlicher Mission nach Libyen, um Nachforschungen anzustellen. Du musst diplomatisch vorgehen, Peter, ich will wahrhaftig nicht, dass du dort auch vor die Hunde gehst.«
»Was willst du dann?«, fragte Peter. »Kannst du verlangen, dass ich den Rest meines Lebens mit Ilona verbringe? Ich will es nicht, nein, das will ich nicht. Lieber gehe ich auch in Libyen vor die Hunde, wenn du es genau wissen willst.«
»Und das will ich gewiss nicht«, sagte Markus.
»Dir wäre es lieber, wenn ich Ilona heiraten würde, aber ich werde sie nicht heiraten. Ich verzichte auf die finanzielle Unterstützung. Ich will nicht für eine Dummheit ewig büßen, um mir dann auch noch nachsagen lassen zu müssen, dass ich dafür bezahlt worden bin. Und wenn ich jetzt Nachforschungen nach Stefan Mey anstelle, dann deshalb, weil mir vielleicht noch mehr daran liegt als dir, Markus.«
»Und warum?«, fragte Markus.
»Weil Stefan mir das bezauberndste Mädchen, das mir je über den Weg gelaufen ist, vor der Nase weggeschnappt hat, aber vielleicht kann ich sie doch noch erobern, wenn es sicher ist, dass er nicht mehr zurückkommt.«
»Und Ilona?«
»Ich werde nichts unternehmen, bevor die Scheidung nicht ausgesprochen ist. Ich weiß ja auch gar nicht, wo Cornelia sich jetzt aufhält.«
Markus hielt den Atem an. »Cornelia?«, fragte er.
»Dieses bezaubernde Mädchen, von dem ich sprach.«
Markus presste die Lippen aufeinander, damit ihm kein unbedachtes Wort entschlüpfen konnte.
»Nun, ich hoffe, dass Stefan Mey doch noch am Leben ist«, sagte er nach einem längeren Schweigen.
»Wann soll ich fliegen?«, fragte Peter.
»Morgen.«
»Okay, aber zu Ilona kein Wort davon, falls sie auch hier anrufen sollte.«
»Das wird sie ja wohl bestimmt nicht tun«, meinte Markus.
»Darf ich deine Tochter jetzt auch mal sehen?«, fragte Peter.
»Seit wann interessierst du dich für kleine Kinder?«, fragte Markus spöttisch.
»Seit du Vater bist«, erwiderte Peter schlagfertig, »aber ich möchte dir auch sagen, dass Ilonas Einstellung bezüglich des Kindes ordinär ist. Es hat mich schockiert.«
Angelika gab der Kleinen gerade das Fläschchen. Zufrieden nuckelte das Baby, riss aber die Augen weit auf, als die beiden Männer dicht herantraten.
Markus machte Peter beiläufig mit Angelika bekannt. »Eigentlich ist so was Kleines doch sehr niedlich«, sagte Peter.
Vielleicht gefiel Mausi die fremde Stimme nicht. Sie verzog weinerlich ihr Gesichtchen.
»Gehen wir«, sagte Markus.
»Da hast du dir ja ein ganz hübsches Wesen ins Haus geholt«, stellte Peter fest.
»Frau Limmer ist sehr tüchtig und sehr korrekt«, erklärte Markus steif.
»Es sollte wirklich keine Anspielung sein«, meinte Peter entschuldigend. »Du gestattest, dass ich hier übernachte?«
»Ja, natürlich. Die Gästezimmer sind jetzt allerdings Frau Limmers Reich, und Ilonas Zimmer sind ausgeräumt.«
»Das ging aber schnell. Nun, ich kann auf dem Sofa schlafen. Wann muss ich am Flughafen sein?«
»Mittags. Ich bringe dich hin.«
*
Und so geschah es. Angelika bekam Peter nicht mehr zu Gesicht. Sie hatte wie immer mit Mariele in der Küche gefrühstückt und sich dann dem Baby gewidmet.
Markus sah kurz ins Kinderzimmer. »Ich bringe Peter zum Flughafen«, erklärte er, »und dann habe ich noch einiges zu erledigen. Aber ich würde mich freuen, wenn Sie mir heute Abend beim Essen Gesellschaft leisten würden.«
Sie war so verblüfft, dass sie nur nickte, und er war auch wieder schnell verschwunden.
Die Formalitäten für den Flug hatte Markus schon mit gewohnter Schnelligkeit geregelt.
Peter hatte reichlich Bargeld und die Kreditkarte bekommen.
»Du bist sehr großzügig«, sagte er anzüglich. »Wenn ich nun durchbrenne?«
»Ich hoffe, dass du mir dann vorher wenigstens Bericht erstattest, was du über Stefan erfahren konntest«, erwiderte Markus gleichmütig. »Sei vorsichtig und komm gut zurück«, fügte er dann aber rasch hinzu.
Peter konnte First-class fliegen, und zu seiner Freude hatte er reizende Gesellschaft. Nicht mehr ganz jung, aber sehr charmant und auch geistreich, wie sich herausstellte, war Madame Bruneau, mit dem blumigen Vornamen Fleur ausgestattet, und Peter erfuhr sehr rasch, dass sie Kunsthändlerin war.
Peter hätte nichts dagegen gehabt, wenn der Flug noch länger gedauert hätte, aber dann war er hocherfreut, dass sie im gleichen Hotel wohnten. Allzu eilig hatte er es demzufolge nicht, Nachforschungen nach Stefan Mey anzustellen, denn die charmante Fleur hatte durchaus nichts gegen seine Gesellschaft einzuwenden und Peter konnte schon die Hoffnung hegen, dass es nicht bei einer flüchtigen Romanze bleiben würde, da sie ihm schon gesagt hatte, dass sie sehr häufig in Brüssel sei.
Als er vier Tage später auf der Botschaft erschien, wurde er dort mit einer Nachricht überrascht, die er nicht erwartet hatte. Er käme einen Tag zu spät, wurde ihm mitgeteilt. Stefan Mey hätte gestern den Heimflug angetreten.
Peter weigerte sich, dies als Tatsache zu akzeptieren, weil Fleur Bruneau noch eine ganze Woche bleiben wollte. Und so ließ er Markus diese Nachricht auch nicht zukommen.
*
Währenddessen hatte Markus eine andere aufregende Nachricht bekommen. Ilona war mit einer Alkoholvergiftung in ein Hospital gebracht worden. Ihr durch die Nulldiät ausgezehrter Körper hatte einige Gläser Whisky nicht verkraftet. Obgleich man in dem Sanatorium längst wusste, wie sie sich die Flasche beschafft hatte, wurde versichert, dass man keine Ahnung hätte, wie sie zu dem Whisky gekommen sei. Aber der Brief an Peter, den man noch bei ihr gefunden hatte, war abgeschickt worden, und Markus bekam diesen mit anderer Post zugeschickt, da man bei der Niederlassung der Meinung war, dass Peter in München sei.
Kurz zuvor war ihm mitgeteilt worden, dass Ilonas Zustand bedenklich sei und sie sich im Delirium befände.
Er hatte mit Angelika darüber gesprochen. Überhaupt hatten sie jetzt öfter längere Gespräche. Wie gut sie geschult war, erfuhr er aus ihrer Antwort.
»Es ist vom medizinischen Standpunkt kaum vertretbar, so kurz nach einer Geburt eine solche Rosskur zu machen, und wenn dann noch Alkohol dazukommt, können die Folgen sehr böse sein.«
»Für mich allerdings auch«, sagte Markus. »Ich habe mit meinem Anwalt gesprochen. Wenn Ilona so krank ist, kommt es nicht zu einer schnellen Scheidung.« Und auf ihren fragenden Blick fügte er rasch hinzu:
»Sie erwarten von mir hoffentlich kein Mitgefühl.«
Nein, das erwartete sie nicht, nach allem, was sie über Ilona wusste. Aber es versetzte ihr doch einen schmerzhaften Stich, als er sagte: »Diese Zeit war die Hölle, Angelika, und ich dachte, dass ich für das Kind nie etwas empfinden könnte.«
Aber dann beugte er sich über das Bettchen und streichelte zart das Köpfchen. »Und jetzt ist sie unsere Mausi, eine süße kleine Maus.«
*
Zur gleichen Zeit brachte es der kleine Stefan Richard Cornelius Mey fertig, auch hin und wieder schon ein zärtliches Lächeln um den Mund seiner jungen, leidgeprüften Mutter zu zaubern.
Kati war nicht mehr angstvoll auf Schritt und Tritt hinter Cornelia her. Aus der Liebe zu diesem Kind schöpfte Cornelia die Kraft, die schweren Schicksalsschläge zu bewältigen.
Sie hatte ihr Kind gestillt, sie hatte es auch durchhalten wollen, aber es fehlte ihr die Kraft. Sie hatte eine Brustdrüsenentzündung bekommen und musste wieder in die Klinik gebracht werden.
Kati war in heller Aufregung, obgleich Dr. Leitner sie tröstete, dass dies bei gezielter Behandlung schnell behoben werden könnte.
»Sie hat sich zu viel zugemutet«, stöhnte Kati. »Sie hätte die Klinik nicht so bald verlassen dürfen.«
Nun waren Mutter und Kind wieder unter ärztlicher Aufsicht. Dorle hatte wieder einen ganz besonderen Schützling, obgleich das Bettchen des kleinen Stefan die meiste Zeit neben dem seiner Mutter stand.
Geduldig und klaglos ertrug Cornelia ihre Schmerzen, aber nun hatte sie auch wieder zu viel Zeit zum Nachdenken.
Alle waren bemüht, sie abzulenken, ihr Freude zu bereiten. Fee Norden besuchte sie und selbst Jenny nahm sich die Zeit, sie zu besuchen und sie sonst abends anzurufen.
Natürlich kam auch Kati täglich, doch am vierten Tag gab es einen Zwischenfall, der auch sie fast umgeworfen hätte. Sie hatte sich gerade für den Besuch bei Cornelia angekleidet, als es läutete. Sie wollte sich nicht aufhalten lassen. Sie setzte rasch ihren Hut auf und nahm ihre Handtasche, dann erst öffnete sie die Tür, bereit, jeden wegzuschicken, wer immer jetzt auch kommen musste.
Doch den, der jetzt vor ihr stand, konnte sie nicht wegschicken. Sie glaubte, einen Geist zu sehen und wich mit einem Aufschrei zurück.
»Stefan«, schrie sie auf und taumelte. Schnell stützte er sie und nahm sie in die Arme.
»Sehe ich so furchterregend aus?«, fragte er rau. »Reg dich doch nicht so auf, Kati. Ich bin wieder da. Habt ihr mein Telegramm nicht bekommen?«
Telegramme waren viele gekommen, nachdem der Doktor gestorben war. Kati hatte später keines mehr geöffnet, seit Cornelia wieder in der Klinik war. Und ihr hatte sie auch keine Post gebracht. Kati hatte sowieso eine Abscheu vor Telegrammen, denn etwas Gutes brachten sie ja selten.
Doch nun stand Stefan vor ihr, wenn er auch nicht gerade gesund aussah.
Narben zeichneten sein Gesicht ebenso wie Erschöpfung. Aber er lebte, und Kati begriff es erst, als sie sein Gesicht abgetastet hatte und seine trockenen Lippen auf ihrer Wange spürte.
»Wird ja alles wieder gut«, murmelte er. »Brauchst nicht weinen, altes Mädchen.«
Aber sie musste weinen. Sie fühlte, dass er ahnungslos war, völlig ahnungslos, und dass sie ihm eine Hiobsbotschaft mitzuteilen hatte.
»Stefan«, stammelte sie, »wo kommst du her?«
»Aus der Hölle, Kati, aber sie hat mich ausgespuckt. Ich wollte nicht untergehen. Jetzt weiß ich, dass es viel mehr Verrückte gibt, als ich angenommen habe, und ich bin froh, wieder daheim zu sein. Wo ist Paps?«
»Du hast keine Zeitung gelesen, Stefan?«, fragte Kati bebend.
»Schon, aber von Paps stand nichts drin. Ist ihm wieder mal eine Ehrung zuteil geworden?«
»Setz dich, mein Junge«, sagte sie zitternd. »Dein guter Vater lebt nicht mehr.«
»Oh, mein Gott«, flüsterte Stefan, »nein, nicht das …«, und dann sank er in sich zusammen.
Kati, schon voller Angst gewesen, fühlte den Boden unter sich schwanken, aber sie nahm alle Kräfte zusammen. Sie eilte zum Telefon und rief Dr. Norden an.
Sie erreichte ihn gerade noch in der Praxis, und auch er konnte es nicht gleich begreifen. Stefan Mey war zurück, und er hatte noch nichts vom Tod seines Vaters gewusst.
»Rufen Sie meine Frau an, Loni, ich muss zu Stefan Mey. Er ist zusammengeklappt.«
Loni war genauso fassungslos, aber sie begriff, dass Stefan Mey zurückgekommen war.
Sie nickte mechanisch. Und als Dr. Norden verschwunden war, rief sie sogleich Fee an.
*
Stefan war noch immer bewusstlos, als Dr. Norden kam. Doch nun konnte er mit Katis Hilfe auf die Couch gebettet werden.
Angstvoll blickte Kati Dr. Norden an, als dieser Stefan untersucht hatte.
»Er ist total erschöpft, Kati«, erklärte der Arzt, »ich denke, es ist besser, wenn er in der Behnisch-Klinik gründlichst untersucht wird.«
»Ich hab’ ihm doch sagen müssen, dass sein Vater nicht mehr lebt«, stammelte Kati.
»Weiß er von Cornelia und dem Kind?«, fragte Dr. Norden.
Kati schüttelte den Kopf. »Er brach gleich zusammen. Ich hatte solche Angst.«
»Er wird wieder auf die Beine kommen. Er hat schlimmere Strapazen überlebt«, sagte Dr. Norden. »Jetzt müssen wir ihm alles andere wohldosiert beibringen.«
»Ich wollte grad Nelchen besuchen«, murmelte sie leise.
»Aber sagen Sie ihr noch nichts.«
»Das muss ich doch aber. Es wird sie aufrichten.«
»Dann sagen Sie ihr nur, dass Nachricht gekommen sei, dass Stefan lebt«, sagte Dr. Norden. »Er muss erst besser beisammen sein, damit sie nicht auch einen Schock bekommt. Er ist ja fürchterlich zugerichtet. Was mögen sie nur mit ihm gemacht haben.«
»Er hat gesagt, dass er aus der Hölle kommt, aber sie hätte ihn ausgespuckt.«
Aber wie, dachte Daniel. »Hätte ich doch nur nicht gleich was gesagt«, flüsterte Kati.
»Wir bringen ihn schon wieder auf die Beine«, sagte Daniel tröstend.
Aber als Stefan dann in der Klinik war, meinte Dr. Behnisch, dass dies bestimmt schon einige Zeit dauern würde.
*
Cornelia hatte schon auf Kati gewartet, aber als diese so abgehetzt daherkam, sagte sie, dass sie doch wirklich nicht jeden Tag kommen müsse. Sie könnten ja auch telefonieren.
»Heut ist es nur ein bisschen drückend«, sagte Kati entschuldigend.
»Davon merkt man hier drinnen nichts«, sagte Cornelia. »Jetzt komme ich ja auch bald wieder heim.«
»Diesmal wird nichts überstürzt«, erklärte Kati energisch. »Und heute kann ich dir eine gute Nachricht bringen, Nelchen.«
»Eine gute Nachricht?«, fragte Cornelia stockend.
»Stefan lebt. Er wird bald zurückkommen.«
Cornelia atmete schneller. Ihr Herz schlug wie ein Hammer. »Stimmt das auch? Ist das wirklich wahr?«
»Ja, es ist wahr. Ich konnte ein paar Worte mit ihm sprechen. Es war seine Stimme. Er hat wohl eine schwere Zeit hinter sich.«
Cornelia rannen heiße Tränen über die Wangen. »Wenn er nur wiederkommt«, flüsterte sie. »Aber was wird er sagen? Wie soll er alles verstehen?«
»Er wird es richtig verstehen, Nelchen. Er wird verstehen, dass sein Vater dich wirklich nur schützen wollte.«
»Ich werde ihn wiedersehen, ach, wenn er doch nur endlich schon hier wäre.«
Und sie würde wieder aus dem Bett springen und zu ihm laufen, dachte Kati. Nein, sie muss erst ganz gesund werden.
»Es wird alles gut werden, Kindchen«, sagte sie mütterlich. »Und wie er sich freuen wird«, fügte sie hinzu, während sie das Baby betrachtete.
*
Kati fuhr später zur Behnisch-Klinik. Sie durfte auch zu Stefan ins Zimmer. Er schlief jetzt.
»Morgen wird es ihm schon besser gehen«, sagte Dr. Behnisch tröstend.
»Ich komme dann wieder, aber sagen Sie ihm bitte nicht, dass Cornelia in der Klinik ist und auch nichts von dem Baby.«
Dr. Behnisch wusste Bescheid. Er brauchte keine Fragen zu stellen.
Markus Nicolai hatte noch immer keine Ahnung, dass Stefan zurück war. Er hatte allerdings auch nicht damit gerechnet, dass Peter schnell etwas herausfinden würde. Ganz zufällig traf er an diesem Abend Dr. Norden, der in der Nachbarschaft einen Krankenbesuch gemacht hatte.
»Nun, wie geht es der kleinen Mausi?«, erkundigte sich Daniel.
»Sehr gut, aber ich muss mich auch immer wieder bei Ihnen bedanken, dass Sie mir die Bekanntschaft mit Angelika vermittelt haben. Bei uns herrscht Frieden im Haus.«
»Das freut mich«, sagte Daniel.
Dann berichtete Markus auch noch von Ilona. Da runzelte Daniel die Stirn.
»Das kann allerdings sehr schlimme Folgen haben«, bestätigte er.
»Sie hat es sich selbst zuzuschreiben. Von Stefan Mey habe ich leider noch nichts in Erfahrung bringen können. Ich hoffe, dass Peter überhaupt etwas recherchieren kann.«
»Sie wissen es noch nicht? Stefan Mey ist zurück. Allerdings schwer angeschlagen. Die Nachricht vom Tode seines Vaters hat ihn erst mal umgeworfen.«
»Er ist hier? Aber das hätte doch Peter auch erfahren müssen. Nun, wie dem auch sei, ich hoffe, dass Stefan bald wieder auf die Beine kommt, und vielleicht nimmt er dann doch mein Angebot an. Ich könnte einen so tüchtigen Mitarbeiter nötig brauchen.«
Nach Cornelia erkundigte er sich lieber nicht. Es sähe wohl zu sehr nach Neugierde aus, meinte er für sich. Aber er fragte noch, in welcher Klinik Stefan sei.
Daniel sagte es ihm. »Aber er braucht jetzt erst mal absolute Ruhe«, erklärte er.
Markus war sehr nachdenklich gestimmt. Peter wird doch nicht wirklich durchgebrannt sein, ging es ihm durch den Sinn, so viel Geld hatte er nun doch nicht zur Verfügung, dass es sich lohnen würde. Und nicht mal ahnen konnte er, welch heiße Affäre Peter mit Fleur begonnen hatte.
Das war eine Frau, die ihn restlos faszinierte; und Geld hatte sie auch. Aber seltsamerweise spielte dies für ihn eine nebensächliche Rolle. Er wollte jetzt nur nicht mehr an Ilona denken.
Darin stimmte er mit Markus völlig überein, aber für den sah die Situation gar nicht rosig aus, was Ilona betraf.
Sie rief ihn an, als sie einigermaßen bei Sinnen war. Mit kläglicher Stimme bat sie ihn, sie doch heimzuholen. Sie wolle alles gutmachen.
»Ich leide so sehr, Markus. Ich muss von Sinnen gewesen sein. Der Arzt sagt auch, dass es eine Kindbettpsychose gewesen sein könnte.«
»Nein«, sagte er, »ich hole dich nicht.«
Er rief später den Chefarzt an, der sich aber außerordentlich kühl verhielt. Ilona sei in einem sehr desolaten Zustand, und nur größte Fürsorge in ihrem gewohnten Lebensbereich könne ihr helfen, erklärte er.
Daraufhin erklärte ihm Markus, was sich wirklich abgespielt hatte, obgleich es ihm fatal war.
»Ihre Frau hat das aber anders geschildert«, wurde ihm erwidert.
»Das kann ich mir vorstellen«, sagte Markus barsch. »Sie können sich ja bei den Ärzten erkundigen, die bisher mit ihr zu tun hatten. Ich werde nicht das Risiko eingehen, dass dem Kind Schaden zugefügt wird.«
Mochte er auch herzlos erscheinen, der Gedanke, Ilona wieder um sich zu haben, versetzte ihn in Panik. Aber er musste auch damit rechnen, dass sie hier erscheinen würde, wenn sie wieder zu Kräften gekommen war. Und das weckte wieder Zorn gegen Peter.
Wenn Markus jedoch Ilona gesehen hätte, wäre er nicht auf den Gedanken gekommen, dass sie plötzlich hier erscheinen könnte. Sie war völlig ausgezehrt und kraftlos und konnte keinen Schritt allein gehen. Sie war auch nur zeitweise ansprechbar und fähig, noch einigermaßen zu denken.
Der Anruf war auch in einem Zustand von Trance zustande gekommen, und hinterher lallte sie: »Ich will ja gar nicht zu ihm. Ich will zu Peter. – Peter soll kommen.«
Das wiederholte sie oft, und trotz aller ärztlichen Bemühungen war der Verfall nicht mehr aufzuhalten. Auch ein Psychiater konnte da nichts mehr ausrichten.
*
Stefan hatte eine schlimme Nacht verbracht, obwohl er selbst davon nichts merkte. Er phantasierte. Dr. Jenny Behnisch saß an seinem Bett, und ihr wurde es ganz bewusst, welch schreckliche Zeit er durchgestanden hatte. Sie konnte es mitempfinden, denn sie war auch mal in so einem Land gewesen und hatte viel durchgemacht.
»Paps – Neli – Kati«, das waren die drei Namen, die Stefan immer wieder murmelte, und dann: »Ich habe doch nichts getan. Ich will nach Hause!«
Schüttelfrost und Fieber warfen ihn hin und her. Und erst am Morgen, nachdem Jenny der Infusion ein starkes Beruhigungsmittel zugefügt hatte, wurde er ruhiger. Doch Jenny wusste, dass sich solche Zustände noch öfter wiederholen konnten.
Sehr unwillig äußerte sie sich ihrem Mann gegenüber, dass man Stefan in einer solchen Verfassung allein hatte reisen lassen.
Von Kati erfuhren sie dann auch noch, dass ein Telegramm, das seine Rückkehr ankündigen sollte, gar nicht angekommen war.
»Ich habe alle durchgesehen, die noch verschlossen waren, aber es waren nur Beileidsbezeugungen, die man sich in der Form hätte auch sparen können«, sagte sie.
Aber ihre Nähe schien Stefan dann doch zu beruhigen. Sie redete einfach auf ihn ein, ohne zu wissen, ob ihre Worte gehört wurden.
Und da schlug er dann die Augen auf. »Kati, ich bin zu Hause«, murmelte er. »Das habe ich nicht geträumt.« Doch dann irrte sein Blick durch den Raum, und ein Zittern durchlief seinen Körper. »Nein, nicht zu Hause«, stöhnte er.
»Du bist in der Behnisch-Klinik und wirst jetzt erst mal hochgepäppelt«, sagte sie. »Was haben sie dir bloß angetan, mein Jungchen.«
»Nicht reden, ich will nicht mehr daran denken. Ich will nach Hause. Paps – nein, es ist nicht wahr, sag, dass es nicht wahr ist.«
Die arme Kati war verzweifelt. »Nelchen wird bald kommen, Stefan«, lenkte sie ab. »Es soll dir nur ein bisschen besser gehen. Sie hat so viel Angst ausgestanden.«
»Neli!«, stöhnte er auf, und dann hüllte ihn wieder eine gnädige Ohnmacht ein.
Kati läutete. Mit zittriger Stimme erklärte sie Dr. Behnisch, dass sie nicht wisse, was sie sagen solle, wenn er wieder nach seinem Vater fragen würde.
»Wir werden ihn in einen Tiefschlaf versetzen«, erklärte der Arzt.
»Schadet das nicht?«, fragte sie.
»Nein, es kann nur helfen«, erwiderte Dr. Behnisch. »Er hatte schwere Verletzungen erlitten, die nicht sachgemäß behandelt wurden. Wir haben ihn jetzt gründlichst untersucht und können eine gezielte Therapie einleiten.«
Traurig sah ihn Kati an. »Aber er wird doch nicht auch sterben«, stammelte sie.
»Er wird nicht sterben, Kati. Er hat ein starkes Herz, sonst hätte er all das nicht überstanden.«
»Die Hölle«, flüsterte sie, »er sagte, es war die Hölle.«
*
Die gute Kati hatte noch allerlei auszustehen. Cornelia wollte nun auch wissen, ob neue Nachrichten von Stefan gekommen wären.
Kati fühlte sich nicht in der Lage, ihr Auskunft zu geben. Sie hatte Angst, dass auch Cornelia wieder einen Schock bekommen könnte. Sie überließ es Dr. Leitner, der wenigstens insoweit beruhigt sein konnte, dass Cornelia den Eingriff gut überstanden hatte.
»Ich will die Wahrheit wissen, Dr. Leitner«, sagte Cornelia bittend. »Kati ist so merkwürdig, als würde sie mir etwas verheimlichen.«
»Es ist ein bisschen viel auf Kati eingestürmt, wie auch auf Sie, Frau Mey«, sagte er behutsam. »Aber ich kann Sie jetzt beruhigen. Stefan Mey ist zurückgekehrt, er muss sich jetzt nur einer eingehenden ärztlichen Untersuchung unterziehen.«
»Ist er krank? Hat er eine Tropenkrankheit oder gar eine ansteckende?«, fragte sie bebend.
»Er hat eine sehr schwere Zeit hinter sich, das will ich Ihnen nicht verheimlichen, und die Nachricht vom Tod seines Vaters hat ihn auch ziemlich schwer erschüttert.«
»Ich kann es mir denken«, flüsterte Cornelia. »Sie haben sich immer so gut verstanden.«
»Er ist jetzt in der Behnisch-Klinik, und wir denken, dass Sie ihn in ein paar Tagen besuchen können. Sie müssen jetzt nur noch etwas Geduld haben.«
»Ich werde nichts sagen, was ihm schaden könnte. Ich will ihn nur sehen«, flüsterte Cornelia. »Ich will sehen, ob er wirklich lebt.«
»Er schläft sehr viel. Er muss schlafen, um zu vergessen, was ihm angetan wurde. Noch wissen wir ja nicht einmal das. Es ist uns allen unbegreiflich, weil niemand eine Auskunft gegeben hat.«
Davon jedoch sollte Peter Nicolai eine Ahnung bekommen, als er am letzten Tag vor dem Heimflug einen Drink an der Bar nahm und darüber nachgrübelte, wie er es Fleur klarmachen sollte, dass er kein reicher Mann sei und nur von seinem eben sehr reichen Cousin abhängig. Zum ersten Mal in seinem Leben war er entschlossen, der Wahrheit alle Ehre zu geben. Fleur war während der letzten Tage sehr oft abwesend gewesen, und es hatte ihm Höllenqualen bereitet, dass ein anderer Mann dahinterstecken könnte, und als er sich nun auf sein Zimmer begeben wollte, sah er sie tatsächlich mit einem Mann das Hotel betreten. Ihm wurde es richtig schwindlig, obgleich der Mann, was seine Kleidung anbetraf, nicht den Eindruck machte, als hätte er Fleur etwas zu bieten.
Fleur sah Peter an. Sie flüsterte dem Mann etwas zu, dann trat sie auf Peter zu.
»Mach kein Aufheben. Komm auf mein Zimmer. Ich muss dir etwas sagen und brauche deine Hilfe.«
Sie brauchte seine Hilfe. Sie vertraute ihm. Das war beruhigend.
Aber der Mann ging mit ihr. Befindet sich Fleur in einer Gefahr, überlegte er. Nie zuvor in seinem Leben hatte er um eine Frau solche Angst gehabt.
Sie verschwand mit dem Mann im Lift. Peter sah, wie der ihren Arm umklammerte. Er eilte die Treppe hinauf, und keuchend stand er schon vor Fleurs Zimmertür, als sie mit dem Mann dort gerade eintrat.
Und er wankte sogleich zu einem Sessel und sank dort hinein.
»Das ist mein Bruder Paul, Peter. Peter und Paul, es ist direkt ein bisschen komisch. Ich muss dir jetzt etwas sagen, Peter.«
»Tu es nicht, Fleur«, stöhnte der Mann. »Wir wissen nicht, ob er nicht auf der andern Seite steht.«
»Auf welcher Seite?«, fragte Peter verwirrt.
»Würdest du mir sagen, warum du hierhergekommen bist, Peter?«, fragte Fleur. »Ehrlich sagen?«
»Ich sollte hier Nachforschungen nach einem Bekannten meines Cousins anstellen.« Er vergaß in diesem Augenblick, dass Markus ihn zu äußerster Vorsicht gemahnt hatte. »Nach einem Stefan Mey.«
Paul fuhr empor. »Sag das noch mal«, stieß er hervor.
»Bekomme ich jetzt Schwierigkeiten?«, fragte Peter.
»Du bist der Retter in der Not«, sagte Fleur und umarmte ihn stürmisch. »Paul war mit Stefan zusammen, und ich bin nicht hergekommen, um Geschäfte zu machen, sondern um ihn aus einer fürchterlichen Klemme herauszuholen.«
»Ich will erst wissen, was mit Stefan ist«, sagte Paul leise.
»Ich habe erfahren, dass er bereits nach Deutschland zurückgekehrt ist vor ein paar Tagen. Ich hätte es Markus schon mitteilen müssen, aber ich wollte mich nicht so rasch von Fleur trennen.«
»Mein Gott, ich danke dir«, sagte Fleur.
»Lass Gott aus dem Spiel«, brummte Paul. Sein Gesicht hatte sich belebt. »Ich kann nur hoffen, dass es stimmt, dass Stefan noch lebt, dass es nicht wieder eine Finte ist.«
»Das hoffe ich allerdings auch. Aber ich habe keine Ahnung, worum es geht.«
»Die Einzelheiten erfährst du, wenn wir hier raus sind«, sagte Fleur. »Jetzt nur so viel. Paul braucht einen guten Anzug. Ich bin im Augenblick nicht mehr in der Lage, ihm einen zu kaufen, und das könnte auch bemerkt werden. Paul war in einem Geheimauftrag hier, mit einem anderen Pass. Mit dem wäre er nie hier herausgekommen. Ich habe seinen richtigen dabei. Und morgen, wenn du mitmachst, werden wir drei dieses Land verlassen.«
»So Gott will«, murmelte Paul jetzt.
»Jetzt lass du Gott aus dem Spiel. Nimm ein Bad, rasiere dich. Ich färbe dir die Haare ein.« Sie musterte Peter. »Ihr habt ja ungefähr die gleiche Größe. Bekommt Paul einen Anzug?«
»Zwei, wenn es sein muss«, erwiderte Peter.
»Hast du Angst?«, fragte Fleur.
»Wenn, dann nur um dich«, erwiderte Peter. »Aber eine Frage, Fleur. Hast du dich nur mit mir eingelassen, weil ich die gleiche Größe wie Paul habe?«
Sie errötete. »Anfangs schon ein bisschen, aber jetzt nicht mehr. Ich wusste ja nicht mal, ob ich ihn wirklich finde.«
»Wenn ich noch etwas zu essen bekommen könnte, wäre es gut«, sagte Paul. »Ich gehe ins Bad.«
Und dann sah Fleur Peter mit einem Blick an, der ihm durch und durch ging, der sein Herz schneller schlagen ließ.
»Ich liebe dich«, sagte sie leise, »und das habe ich noch zu keinem Mann gesagt.«
»Ich liebe dich auch, und jetzt weiß ich, was Liebe ist«, erwiderte Peter.
»Ich werde dich auch nie im Stich lassen, wenn du mich brauchst«, flüsterte sie, als er schon ihr Gesicht mit zärtlichen Küssen bedeckte. »Wenn wir nur den morgigen Tag erst überstanden haben.«
*
Die Lust an jeglichem Abenteuer war Peter anderntags vergangen, als sie im Flugzeug saßen, First-class, und dieses sich in die Lüfte hob, ohne dass noch etwas geschehen wäre.
Fleur fiel ihm wieder um den Hals und bestellte Champagner. Paul streckte sich in seinem Sitz aus und schloss die Augen.
»Na, was sagst du zu meiner Schwester, Peter?«, fragte er schläfrig.
»Sie ist eine wundervolle Frau«, erwiderte Peter.
»Kein Widerspruch, aber sie hat Haare auf den Zähnen«, sagte Paul mit einem leichten Lächeln.
»Das kann ich allerdings nicht feststellen«, sagte Peter leise zu Fleur. »Du wirst mir viel verzeihen müssen, Chérie.«
»Wieso? Was vorher war, geht mich nichts an. Und wenn noch etwas auszubaden ist, werden wir es gemeinsam ausbaden, wie diese Affäre. Aber darüber reden wir erst, wenn wir sicher gelandet sind.«
In Rom hatten sie drei Stunden Aufenthalt, bevor sie nach München weiterfliegen konnten. Sie waren froh darum!
Nun hatten sie nichts mehr zu fürchten.
»Jetzt bin ich wieder Paul Bruneau und werde es bleiben«, sagte Paul erleichtert.
»Du hast es gehört, Peter. Erinnere ihn daran, wenn er rückfällig wird.«
»Keine Gefahr«, sagte Paul. »Ich konnte wirklich nicht ahnen, in was ich mich da eingelassen habe. Einzelheiten kann ich euch nicht erzählen.«
»Mich interessiert eigentlich auch am meisten, was mit Stefan Mey passiert ist«, sagte Peter.
»Den haben sie in die Wüste geschickt. Dort sollte dieses imaginäre Projekt nämlich entstehen, für das man ihn geködert hatte. Aber die wollten doch was ganz anderes bauen, und das muss er spitzgekriegt haben. Auf seine Landsleute kann man sich auch nicht immer verlassen, Peter. Er wollte wieder nach Hause, aber das wollte man verhindern. Man hat da sehr drastische Mittel, jemanden zu etwas zu zwingen, was er eigentlich gar nicht tun will.«
»Und was hattest du damit zu tun?«, fragte Fleur.
»Ich konnte ihm zur Flucht verhelfen, aber ich habe dann die Verbindung zu ihm verloren. Und dann musste ich mich auch verstecken. Aber mir gelang es wenigstens, dich zu verständigen. Allerdings hatte ich keine Ahnung, ob dich meine Nachricht je erreichen würde. Sie hat dich erreicht«, sagte er, dankbar ihre Hand an seine Lippen ziehend.
»Hoffentlich hat Stefan alles gut überstanden«, sagte er dann. »Er ist ein feiner Kerl.«
»Sein Vater ist inzwischen verstorben«, sagte Peter leise.
»Oh, das wird ihn hart treffen«, sagte Paul.
Sie konnten den Flug nun fortsetzen, und dann waren sie recht froh, als München sie mit mäßig warmem Wetter und trübem Himmel empfing.
Peter rief Markus vom Flughafen aus an. »Endlich hört man was von dir«, sagte Markus unwillig. »Wo steckst du?«
»In München, und ich bringe jemanden mit, der Stefan gut kennt und einiges zu erzählen hat.«
»Stefan ist bereits seit Tagen zurück«, sagte Markus.
»Ja, das weiß ich. Ich war in einer heiklen Situation«, schwindelte Peter ein bisschen, denn er wollte nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen. »Können wir uns treffen, Markus?«
»Warum kommst du nicht her?«
»Ich bin mit Paul und Fleur gekommen. Sie kennen sich in München nicht aus.«
»Bring sie mit. Ich habe nichts dagegen.« Markus war nun doch sehr gespannt. Er bestellte ein kaltes Büfett beim Party-Service, um Mariele nicht in Hast und Aufregung zu versetzen. Und er sagte Angelika Bescheid. Sie wollte jedoch lieber oben bleiben.
»Nein, Peter kann es ruhig wissen, dass wir Freundschaft geschlossen haben, Angelika«, sagte Markus sehr bestimmt.
»Haben wir das?«, fragte sie verlegen.
»Sehen Sie es nicht so?«
»Sie sind sehr freundlich und entgegenkommend, Herr Nicolai, aber …«
»Es gibt kein aber«, fiel er ihr ins Wort. »Ich werde mit Peter auch über Ilona sprechen müssen.«
Angelika wurde es jedes Mal bange, wenn der Name fiel, den Markus so gleichgültig aussprach. Ja, sie hatte Angst, dass diese Frau eines Tages doch hier erscheinen könnte, um Anspruch auf das Kind geltend zu machen. Auf dieses Kind, dem Angelika schon ihre ganze Liebe geschenkt hatte.
Mit unendlicher Zärtlichkeit nahm sie das Baby aus dem Bettchen, um es zu baden und zu wickeln.
Das Fläschchen stand auch schon bereit. »Mein Mausilein«, sagte sie liebevoll, »ich möchte dich nie mehr hergeben. Mein kleiner Liebling, hoffentlich gibt dich dein Papi nicht her.«
Markus war noch einmal zurückgekommen, um Angelika noch zu sagen, dass sie ja nicht in ihrer Bescheidenheit die Angestellte betonen solle. Sie hatte nicht gehört, wie die Tür leise geöffnet wurde. Das hatte sich Markus angewöhnt, da Mausi bei lauten Geräuschen leicht erschrak. Er hörte, was Angelika sagte, und ein weiches Lächeln legte sich um seinen Mund. Aber so leise, wie er die Tür geöffnet hatte, schloss er sie auch wieder.
Aber da schlug auch schon der Gong an, und er eilte selbst zur Tür.
Fleur beeindruckte auch ihn. Seine ersten Gedanken, dass es sich um das Ehepaar Bruneau handele, zerstreute Peter rasch, und Markus merkte auch bald, dass Fleur und Peter sich sehr nahe gekommen waren. Er sah schon eine verzwickte Situation voraus, aber ein Markus Nicolai wurde auch mit solchen fertig.
Kaum waren ein paar Worte gewechselt worden, kam schon der Party-Service.
»Kannst du zaubern?«, fragte Peter überrascht.
»Anruf genügt«, erwiderte Markus.
»Das gibt es bei uns nicht«, sagte Fleur.
»Man könnte somit eine Marktlücke schließen«, sagte Paul.
»Fall nicht von einem Extrem ins andere, Paul«, sagte Fleur. Und mit einem charmanten Lächeln wandte sie sich an Markus. »Mein Bruder isst für sein Leben gern gut, und er hat es ziemlich lange entbehren müssen.«
»Dann soll er nur zugreifen«, sagte Markus.
Paul ließ sich nicht zweimal bitten, und auch Fleur naschte schon ein bisschen, aber sie horchte gleich auf, als Peter fragte: »Wie geht es der Kleinen?«
»Gut, sehr gut. Angelika füttert sie gerade.«
»Sie haben ein Kind?«, fragte Fleur. »Ich mag Kinder.«
»Es ist ein ganz kleines Baby, Fleur«, erklärte Peter, und seine Stimme klang etwas gepresst.
»Darf ich es sehen? Wird Ihre Frau es gestatten?«, fragte Fleur.
Peter bedauerte in diesem Augenblick zutiefst, dass er nicht von diesen sehr diffizilen Verhältnissen erzählt hatte. Markus warf ihm einen schrägen Blick zu.
»Meine Tochter wird von einer Kinderschwester betreut«, erklärte er.
»Das andere werde ich Fleur erklären«, warf Peter stockend ein. »Du kannst dich indessen ja schon mit Paul über Stefan Mey unterhalten.«
»Es genügt augenblicklich wohl, dass Madame Bruneau erfährt, dass es Ilona sehr schlecht geht und sie sich in einem Hospital befindet«, erklärte Markus mit einem warnenden Unterton. »Aber wenn Sie Kinder mögen, können Sie meine Tochter später anschauen, Madame Bruneau. Sie wird von Angelika gerade für die Nacht versorgt.«
*
Zu einer Beichte fühlte sich Peter zu dieser Stunde nicht in der Lage, aber er war Markus dankbar, dass er keine anzüglichen Andeutungen machte, und sich dann mit Paul unterhielt. Sie schienen sich sehr angeregt zu unterhalten. So hatte Peter Zeit, Fleur einiges zu erklären.
Dann aber blickte Markus auf die Uhr und war erschrocken, wie schnell die Zeit vergangen war.
»Ich schaue mal nach oben«, sagte er. »Ich hatte Angelika gebeten, uns Gesellschaft zu leisten, aber sie kommt nicht von allein.«
»Darf ich mitkommen, Herr Nicolai?«, fragte Fleur.
»Wenn Fleur ein Baby wittert, ist sie nicht zu halten«, sagte Paul.
»Darf ich bitten«, sagte Markus, während er Peter mit einem bedeutungsvollen Blick streifte.
Fleur benutzte dann die Gelegenheit, ihm zu sagen, dass sie so wenig über ihn und seine Situation gewusst hätte. »Ich wollte vorhin nicht taktlos sein«, sagte sie, als sie vor der Tür zum Kinderzimmer standen.
»So habe ich es auch nicht aufgefasst.«
»Peter hatte kaum Gelegenheit, mir auch dies zu erzählen. Er hat sich in einer sehr prekären Situation phantastisch verhalten, Herr Nicolai.«
»Paul sagte es mir. Es freut mich«, erwiderte Markus.
Dann betraten sie leise das Kinderzimmer. Angelika saß am Bettchen.
Sie errötete jetzt und erhob sich schnell.
»Mausi ist gerade erst eingeschlafen«, sagte sie leise. »Sie war heute sehr lebhaft.« Das entsprach auch der Wahrheit, aber jetzt sahen sie beide, wie Fleur entzückt die Kleine betrachtete. Ihr apartes Gesicht hatte einen ganz verklärten Ausdruck.
»So ein Menschlein ist doch ein Wunder«, flüsterte sie. Auf Zehenspitzen ging sie dann zur Tür.
Markus hatte nach Angelikas Arm gegriffen. »Jetzt kommen Sie aber mit uns«, sagte er leise.
Fleur scheute sich nicht zu zeigen, wie viel Gemüt sie besaß. Sie befasste sich jetzt ausschließlich mit Angelika. Die Männer, auch Peter, schienen zur Nebensache geworden zu sein. Allerdings war sie auch eine Frau mit feinstem Gespür, und sie hatte schnell gemerkt, wie befangen Angelika war.
Nachdenklich ruhte Peters Blick immer wieder auf den beiden. Fleur animierte Angelika, von den leckeren Sachen, die da geboten wurden, zu kosten, und dabei unterhielten sie sich angeregt.
Zwischen Markus und Paul drehte sich die Unterhaltung immer noch um Stefan Mey. Und dann wurde es schon so spät, dass Fleur schließlich erschrocken bemerkte, dass sie sich wohl nun um ein Hotel bemühen müssten.
»Ich kann jetzt zwei Räume zur Verfügung stellen«, sagte Markus zu Peters Erstaunen, »gesetzt den Fall, dass Peter und Paul sich ein Zimmer teilen.«
»Ich hab’ nichts dagegen«, sagte Paul. »Ich habe schon mal mit sechs Leuten in einer schäbigen Hütte geschlafen. Ich könnte auch auf einem Strohsack im Garten schlafen.«
»Ein bisschen bequemer werden Sie es hier schon haben, Paul«, sagte Markus.
Aber dann nahm er Peter beiseite. »Ich will mich ja nicht in deine Angelegenheiten einmischen, Peter, aber ich denke, dass du Fleur nichts vorgaukeln solltest.«
»Das will ich nicht, das wollte ich von Anfang an nicht, Markus«, sagte er. »Aber ich will sie nicht verlieren. Ich liebe sie.«
»Dann sitzen wir beide ganz schön in der Klemme«, murmelte Markus, »aber wir werden einen Ausweg finden. Wir müssen ihn finden.«
»Mir tut alles so verdammt leid, Markus«, sagte Peter leise. »Hau mir eine runter, mach mich nieder. Ich verdiene es nicht anders.«
»Wenn zwei Esel den gleichen Fehler machen, sollten sie sich nicht auch noch beißen«, sagte Markus. »Ich bin froh, dass du hier bist, dass ihr drei nicht auch noch durch die Hölle gehen musstet, durch die Stefan Mey gegangen ist. Und besonders froh bin ich, dass jetzt Fleur da ist, und du nicht mehr nach einer Cornelia suchen wirst.«
*
In Ilonas früheren Räumen standen nun bereits andere Möbel. Sie waren nicht gerade als Gästezimmer eingerichtet, aber man konnte dort Schlafgelegenheiten schaffen. Paul hatte ein großes Nachholbedürfnis an Schlaf.
Mariele hatte nicht gemurrt, dass die Betten hergerichtet werden mussten. Angelika und Fleur hatten ihr dabei tatkräftig geholfen.
Und während Markus und Peter noch miteinander sprachen, war Paul schon eingeschlafen. Fleur dagegen begleitete Angelika nochmals zum Kinderzimmer, weil die kleine Angelika ihre letzte Mahlzeit bekommen musste und sich dazu gemeldet hatte.
»Betrachten Sie es nicht als gutes Omen, dass die Kleine auch Angelika heißt?«, fragte Fleur nachdenklich.
»Es ist ein Zufall, dass Herrn Nicolais Mutter auch so hieß«, erwiderte Angelika.
»Den Zufall schickt uns Gott, zum Schicksal muss der Mensch ihn erst gestalten«, sagte Fleur sinnend. »Ein bedeutungsvolles Zitat, finden Sie das nicht auch?«
Angelika blickte Fleur nachdenklich an. »Meinen Sie, dass man auf das Schicksal Einfluss nehmen kann?«, fragte sie.
»Ich meine, dass man nicht alles als gegeben hinnehmen muss. Wir sagen: corrige la fortune. Man kann das Glück auch verteidigen, Angelika, wenn man es gefunden hat. Und manchmal läuft man auch daran vorbei, oder man weicht ihm aus, wenn man nicht daran glaubt. Mir ist es einmal so ergangen.«
Angelika überlegte. »Aber ob es Glück sein kann, weiß man erst, wenn man es selbst erlebt hat«, sagte sie.
»Ja, da muss ich Ihnen allerdings recht geben«, sagte Fleur. »Aber ein Kind, das ist Glück.«
»Nicht alle Frauen empfinden so.«
»Peter hat es mir angedeutet. Darf ich das Baby einmal in den Arm nehmen, Angelika?«
»Lieber morgen«, erwiderte Angelika. »Sie fremdelt halt schon ein bisschen, und dann schläft sie womöglich unruhig.«
»Ich verstehe schon«, sagte Fleur. »Sollte ich mal ein Kind haben dürfen, werde ich es auch selbst versorgen. Sehen Sie, ich musste das Geschäft unseres Vaters übernehmen. Paul hatte dafür keine Neigung. Mir blieb kaum Zeit für ein bisschen Privatleben, und jetzt bin ich schon fast dreißig.«
»Ich auch«, sagte Angelika, »ich bin achtundzwanzig.«
»Aber Sie haben einen Beruf, der auch Erfüllung bedeuten kann. Ich muss mit leblosen Dingen handeln, die man als sehr wertvoll bezeichnet. Sie sind schön anzuschauen, aber mir geben sie nichts. Es gibt Menschen, denen sie mehr bedeuten, als ein lebendes Wesen, aber dazu gehöre ich nicht. Vielleicht ist Peter ein Mensch mit vielen Fehlern, aber ich liebe ihn. – Warum sage ich das eigentlich?«
»Weil Sie es fühlen«, erwiderte Angelika.
»Lieben Sie Markus?«, fragte Fleur.
»Daran habe ich noch nie gedacht. Ich habe ihn schätzen gelernt. Ich dachte zuerst, dass er nicht wie ein Vater empfindet, aber darin habe ich mich getäuscht. Jetzt habe ich Angst, dass Ilona das Kind holen will. Das hätte ich wohl auch nicht sagen sollen.«
»Wir verstehen uns, Angelika«, sagte Fleur. »Und da sagt man, was man fühlt.«
»Aber wir sind doch so verschieden«, sagte Angelika leise.
»Da muss ich widersprechen«, sagte Fleur. »Ich finde, dass wir sehr viel gemeinsam haben.«
*
Vielleicht war auch dieses Gespräch mit ausschlaggebend, dass Fleur dann weichgestimmt war, als Peter leise an ihre Tür klopfte.
»Sei mir nicht böse, Fleur«, sagte er verzeihungheischend, »aber ich möchte noch mit dir sprechen. Oder bist du zu müde?«
»Zu müde bin ich nicht, aber könnte es Markus nicht schockieren?«
»Ich habe ihm versprochen, dass ich dir noch heute alles erklären will, was ich eigentlich schon hätte tun sollen und müssen.«
»Wir hatten ja kaum Zeit, uns gegenseitig Erklärungen abzugeben, Peter«, sagte Fleur sanft. »Ich will sagen, dass es nicht die richtige Zeit gewesen wäre. Ich hatte eben ein gutes Gespräch mit Angelika. Ich bin mir auch über vieles klar geworden, als ich mit ihr das Kind angeschaut habe und ihre Einstellung kennenlernte. In meinem Leben ist auch viel falsch gelaufen.«
»Hat Angelika über mich gesprochen?«
»Nein, aber über die Umstände, die sie in dieses Haus brachten. Sie ist keine Klatschbase. Sie ist sich über sich selbst so wenig im Klaren, wie ich es auch gewesen bin. Ich bin nur einen kleinen Schritt weiter inzwischen.«
»Ich will beichten, Fleur«, sagte er verhalten.
»Beichten? Wollen wir es nicht lieber nur erzählen nennen, Peter? Wir sind doch keine Kinder mehr. Wir haben schon ein Stück Leben hinter uns, bewegtes Leben. Ich habe keinen Augenblick gedacht, dass du ein Träumer bist. Einen solchen hätte ich in meine Pläne nicht einbezogen.«
Er lächelte flüchtig. »Das vereinfacht die Angelegenheit, Fleur. Also dann.«
Und er erzählte, ohne etwas zu beschönigen, von Ilona, von dieser Affäre, von seinem Abkommen mit Markus.
»Ich habe alles leicht genommen, bis sie so gleichgültig über das Kind sprach«, sagte er. »Ich dachte, dass Markus keiner tiefen Gefühle fähig sei, und wo nichts gegeben wird, kann auch nichts zurückkommen. Ich wusste ja, dass sie ihn nur seines Geldes wegen geheiratet hatte, und ich gestehe auch ein, dass ich Markus wegen seines Vermögens beneidet hatte. Unsere Väter waren Brüder. Der eine hat es zu etwas gebracht, der andere nicht, aber letztlich war es doch Markus, der aus dem bereits Vorhandenen so viel mehr machte und auch mir die Chance gab. Und ich? Ich habe mich schäbig benommen.«
»Am schäbigsten hat sich wohl Ilona benommen«, sagte Fleur. »Aber ich bin nicht zum Richter geboren. Ich war auch einmal in der Gefahr, eine Ehe auseinanderzubringen, doch da blieb meine Rivalin, als die ich die Ehefrau damals betrachtete, die Stärkere. Bei euch war es so: Zwei Männer und eine Frau, bei mir war es umgekehrt. Ich zog die Konsequenzen, doch die Ehe ging ein paar Jahre später dennoch in die Brüche. Da wollte der Mann mich zurückhaben und ich merkte, dass ich ihn gar nicht so geliebt hatte, dass ich ihn vermisst hätte. Also, was haben wir uns vorzuwerfen?«
»Ich möchte dich nie mehr verlieren, Fleur«, sagte Peter, »aber da gibt es noch Ilona. Sie ist schwer krank, wie Markus mir sagte. Und das ist eine Tatsache. Er hat Angst, dass sie herkommt, nicht seinetwegen, aber des Kindes wegen. Er hat in Angelika jetzt eine Frau kennengelernt, die einem Kind viel Liebe geben kann, ohne es selbst geboren zu haben, und ich glaube, dass dies auch ein tiefes Gefühl für Angelika in ihm geweckt hat.«
»Das brauchst du mir nicht zu sagen, Peter, das habe ich gespürt, wie er sie anschaute, wie respektvoll er sie behandelte. Angelika wird dies nie ausnutzen. Sie liebt das Kind, sie denkt dabei nicht an den Mann. Aber ich möchte auch Kinder haben, und ich denke dabei an den Mann, der der Vater sein könnte, aber wenn er keine Kinder mag, soll er es lieber aufgeben, um mich zu werben.«
»Ich kann dir nicht so viel bieten, wie du vielleicht erwartest, Fleur«, sagte Peter leise.
»Ich erwarte nichts als Ehrlichkeit«, erwiderte sie. »Ich bin nicht so anspruchsvoll wie es scheint. Ich habe sehr viel Geld aufbringen müssen, um Paul da herauszuholen, und als Allerweltsreisende hätte ich sehr geringe Chancen gehabt, ihm zu helfen. Aber es ist eine solide Grundlage vorhanden. Ich kann auch warten, Peter, bis deine Angelegenheiten geregelt sind. Du darfst Markus nicht enttäuschen. Und ebenso erwarte ich jetzt von Paul, dass er mich nicht enttäuscht. Ich bin keine femme fatale.«
»So habe ich dich auch nie gesehen, Fleur«, sagte Peter.
»Anfangs nicht doch? Ich habe mich doch sehr schnell auf einen heißen Flirt eingelassen.«
Er nahm sie in die Arme. »Einen Vorteil hat man doch, wenn man schon eine Menge Frauen kennengelernt hat, Liebstes«, sagte er zärtlich. »Man kann unterscheiden, was echt an Gefühlen ist. Markus hatte nicht so viel Erfahrungen mit Frauen, als er Ilona auf den Leim ging. Ich liebe dich.«
»Aber dass es so kommt, hast du auch nicht gedacht«, sagte sie mit einem bezaubernden Lächeln nach einem langen Kuss.
»Nein, das habe ich nicht gedacht. Ich habe gedacht, was kann diese Frau an mir finden, dass sie so zärtlich sein kann, als wir die erste Nacht verbracht haben, Fleur.«
»Und ich habe gedacht, das ist der Mann, von dem ich mir ein Kind wünsche«, sagte sie leise. »Ganz gleich, wie es ausgeht.«
»Und wenn wir ein Kind haben, werde ich es lieben«, sagte er zärtlich.
»Ich denke, dass wir bald eins haben werden. Ich habe es so im Gefühl«, flüsterte sie. »Was aber nicht heißen soll, dass ich dich gleich aufs Standesamt schleppe.«
*
In der Villa Nicolai waren alle Lichter erloschen. Alle schliefen, und Pauls Schnarchen störte niemanden.
So gut hatte er schon lange nicht mehr geschlafen.
Aber auch in der Behnisch-Klinik hatte Stefan Mey nun in einen tiefen Schlummer gefunden, der nicht mehr mit Medikamenten herbeigeführt werden musste, in einen Schlummer, der nicht von Angstträumen beunruhigt wurde.
In der Leitner-Klinik wurde Cornelia vom Weinen ihres Kindes geweckt. Sie hatte darauf bestanden, dass er auch nachts in ihrem Zimmer blieb.
Sie nahm ihn aus seinem Bettchen, und in ihrem Arm beruhigte er sich schnell.
»Du wirst deinen Papi kennenlernen, mein kleiner Stefan«, sagte sie zärtlich. »Wenn wir doch erst alle beisammen wären.« Das Baby kuschelte sich in ihren Arm, suchte die mütterliche Wärme. Und als Dorle das Zimmer betrat, schliefen beide.
»Da sieht man es mal wieder«, sagte Dorle zu Dr. Leitner, »wenn ein Kind bei seiner Mutter ist, braucht es nicht zu weinen. Da kriegt es nicht mal Hunger. Liebe ersetzt so viel.«
Dr. Leitner lächelte. Er wusste es genau, dass das Baby sich rühren würde, wenn es Hunger hatte.
Das geschah allerdings erst eine Stunde später, und dann schrie der kleine Stefan so aus Leibeskräften, dass Cornelia ganz verwirrt war.
Sie sah, wie spät es schon war, aber Dorle war auch schon da mit der Flasche.
»Wir sind noch mal eingeschlafen« sagte Cornelia entschuldigend.
»Ist doch nicht schlimm«, meinte Dorle. »Ich habe erst die andern Babies versorgt.«
»Ich kann Stefan doch selbst füttern und wickeln«, sagte Cornelia.
»Dr. Leitner hat gesagt, dass Sie sich schonen sollen.«
»Ich fühle mich jetzt aber wieder ganz wohl«, erklärte Cornelia. »Ich brauche Bewegung.«
»Sie können doch spazieren gehen, nur nicht zu lange. Sie haben sehr schnell abgenommen, da kommt es leicht zu Kreislaufstörungen.«
Davon merkte Cornelia nichts, als sie dann im Park herumwanderte. Ihre Gedanken waren bei Stefan.
Sie wollte wissen, was mit ihm war.
Sie sah Kati kommen und ging ihr entgegen. »Werde nicht gleich übermütig, Nelchen. Es weht ein kühler Wind heute«, sagte Kati mahnend.
»Davon merke ich nichts. Ihr seid zu besorgt. Wie geht es Stefan? Erzähle doch endlich mal. Rede nicht herum, Kati.«
Kati konnte an diesem Morgen aufatmen. Stefan ging es besser. Sie war schon bei ihm gewesen.
»Jetzt geht es aufwärts«, begann sie zögernd. »Es ging ihm nicht gut, Nelchen. Wir wollten dich nicht aufregen.«
»Ich will ihn sehen«, sagte Cornelia.
»Er weiß noch nichts von dem Kind. Er weiß nicht, dass der Doktor dich geheiratet hat. Dr. Norden meint, dass er es falsch verstehen könnte.« Katis Stimme zitterte. »Er hat sehr viel durchgemacht, Nelchen.«
»Er wird doch verstehen, was Richard wollte. Oder meinst du gar, er könnte glauben, dass es anders war? O nein …«, flüsterte Cornelia.
»Er hatte doch gar nicht erfahren, dass du ein Baby erwartest, Nelchen. Ich denke, es ist besser, wenn ich es ihm schonend beibringe.«
»Meinst du, er könnte mich vergessen haben?«
»Nein, das meine ich nicht, das gewiss nicht. Aber er könnte sich die bittersten Vorwürfe machen, dich allein gelassen zu haben. Und er könnte auch denken, dass du es ihm zum Vorwurf machst.«
Nun war es heraus, was Kati durch den Kopf ging. Und dann fuhr sie fort: »Er hat nach dir gefragt. Er wartet darauf, dass du kommst. Aber ich konnte ihm doch nichts sagen, Nelchen. Es war eine so heikle Situation.«
»Dann erfährt er eben noch nichts von dem Kind. Man sieht mir doch kaum noch etwas an«, erklärte Cornelia. »Ich will ihn sehen. Ich werde ihn besuchen. Und alles andere bringen wir ihm dann nach und nach bei.«
»Sprich erst mit Dr. Norden. Er weiß am besten Bescheid. Und noch etwas. Da ist jemand gekommen, mit dem Stefan zusammen war. Bruneau heißt er, Paul Bruneau. Er weiß ziemlich genau, was da geschehen ist.«
»Dann will ich mit ihm sprechen«, sagte Cornelia. »Aber erst, wenn ich Stefan gesehen habe.«
*
Zuvor sprach sie dann aber doch mit Dr. Norden, der ihr behutsam sagte, dass Stefan wohl noch ziemlich lange brauchen würde, um Abstand von dem Erlebten zu gewinnen.
»Es kann die Psyche eines Menschen verändern«, sagte Dr. Norden nachdenklich.
»Bitte, erklären Sie mir genauer, was Sie denken, Herr Dr. Norden«, bat Cornelia.
»Er ist ohne Vorurteile an die Menschen herangegangen, gleich welcher Rasse, welcher Religion sie sind. Er meinte, dass man ihm deshalb auch so begegnen müsse und dann wurde er schrecklich enttäuscht. Das kann Wunden hinterlassen, die sich manchmal nie schließen.«
»Sie wollen sagen, dass er denken könne, ob es wahr ist, was man ihm erzählt, oder ob man ihn nur täuschen wolle«, sagte Cornelia beklommen.
»Ich denke vor allem, dass er sich erst langsam wieder zurechtfinden muss in dieser Welt.«
»Niemand wird ihm weh tun«, sagte Cornelia. »Er wird wieder zu Hause sein.«
»Es fehlt jemand in dieser Welt, den er sehr geliebt hat. Es könnte sein, dass er sich auch Schuld gibt, dass sein Vater so früh starb. Ich sage Ihnen das nur, damit Sie nicht erschrecken, wenn Sie solche Worte von ihm hören.«
»Ich will ihm doch helfen, sich wieder zurechtzufinden«, sagte Cornelia.
Am Nachmittag ließ sie sich zur Behnisch-Klinik bringen. Ihr Herz begann schmerzhaft zu hämmern, als Dr. Jenny Behnisch sie zu dem Krankenzimmer führte.
»Sie läuten sofort, wenn er wieder Angstzustände bekommt«, sagte Jenny eindringlich.
Voller Angst aber war jetzt erst mal Cornelia, dass Stefan sie gar nicht erkennen würde, denn in seinen Augen war ein ungläubiges Staunen.
»Neli«, flüsterte er dann, »bist du es wirklich?«
»Erkennst du mich nicht mehr, Stefan«, fragte sie bebend.
»Du siehst so anders aus. Du bist noch schöner geworden.«
»Das denkst du nur, weil du mich so lange nicht gesehen hast«, sagte sie zärtlich, dann beugte sie sich hinab und küsste ihn auf Stirn und Wangen.
Er sah so elend aus, dass es sie schmerzte, ihr die Tränen in die Augen trieb.
»Mein lieber, liebster Stefan«, murmelte sie.
»Du hast mich nicht vergessen. nicht abgeschrieben?«, fragte er.
Nein, abgeschrieben hatte sie ihn nicht, aber sie hatte doch nicht mehr zu hoffen gewagt, dass er wiederkommen würde.
»Wir haben alles versucht, um etwas zu erfahren«, flüsterte sie. »Wir haben gehofft und gebetet, und nun bist du da.«
»Aber Paps lebt nicht mehr«. stöhnte er.
»Er war schwer krank, Stefan. Er hatte die Krankheit schon in sich, als du fortgingst, er hat es nur niemandem gesagt.«
»Du hast ihn oft gesehen?«
»Ich war die ganze Zeit bei ihm. Er war mir Freund und Vater zugleich.«
»Ich hätte nicht fortgehen dürfen, Neli. Ich ahnte nicht, wie viel Gemeinheit und Rohheit es gibt.«
»Du wirst es überwinden, Stefan. Ich liebe dich.«
Seine magere Hand legte sich an ihre Wange. »Ich weiß nicht, ob du mich noch lieben kannst, so, wie ich jetzt geworden bin.«
»Dann wäre ich nicht hier, Stefan. Ich habe mich so sehr nach dir gesehnt. Ich habe doch immer nur dich geliebt«, fügte sie mit einem unterdrückten Schluchzen hinzu.
»Ich weiß aber nicht, ob ich mich jemals noch zurechtfinden werde, Neli.«
»Ich werde dir helfen …«
Er schloss die Augen. »Ich weiß ja nicht mal, ob ich dich wieder so lieben kann, wie ich es möchte, wie es früher war.« Seine Stimme wurde leiser und leiser. »All die Narben, das Blut, jeden Tag Blut unter den Händen, keine Kraft mehr …«, sein Bewusstsein schwand, und sie saß bei ihm, streichelte sein Gesicht und seine Hände, die auch Narben aufwiesen, und dachte dabei: Gott war gnädig, dass Richard das nicht mehr erlebt hat.
Sie sah den kraftstrotzenden Stefan vor sich, der bereit gewesen war, dort seine Kräfte einzusetzen, wo sie denen, die er für unterpriviligiert hielt, helfen zu können. Er hatte Pioniergeist in sich, einen übergroßen Idealismus, und dazu ein Wissen und so viel Energie, die er in diesem Wohlstandsstaat unterbewertet glaubte.
Auch stark in seinen Gelühlen war er gewesen, aber er hatte auch gesagt, dass sie erst genau wissen würden, ob ihre Liebe stark genug sei, wenn sie eine Trennung überdauern würde.
Ihre Liebe hatte diese überdauert.
Cornelia kehrte mit dem Entschluss in die Leitner-Klinik zurück, morgen von dem Kind zu erzählen, dessen Vater er war.
*
Zu später Stunde kehrte das Bewusstsein in Stefan zurück. Sein Denken setzte dort ein, wo es ausgeschaltet worden war. Er hatte nicht geträumt, dass Cornelia bei ihm gewesen war, es war Wirklichkeit gewesen. Und er sah ihr Gesicht vor sich, so schön, so reif geworden.
Ein halbes Kind war sie gewesen, als sie ihm ihr Herz schenkte, und in Stunden voller Leidenschaft hatte er sie zur Frau gemacht, aus dem Wunsch heraus, sie für immer zu besitzen.
Wie hatte er sie dann verlassen können? »Warum?«, murmelte er, und suchend tastete seine Hand über die Bettdecke. Eine andere Hand umschloss sie.
»Geh nicht fort, Neli, verlass mich nicht«, flüsterte er.
»Cornelia wird wiederkommen«, sagte Jenny Behnisch sanft. »Morgen kommt sie wieder, Herr Mey. Es ist Nacht.«
»Es war kein Traum?«
»Nein, es war kein Traum«, sagte Jenny sanft.
»Wie sehe ich aus? Kann sie mich überhaupt noch erkennen?«
»Aber ja.«
»Ich will kein Mitleid, nicht nur Mitleid.«
»Wo so viel Liebe ist, hat Mitleid gar keinen Platz«, sagte Jenny. »Und nun denken Sie mal voller Zuversicht in die Zukunft. Morgen wird Paul Bruneau Sie besuchen.«
»Paul?« Jetzt richtete sich Stefan sogar auf. »Er lebt? Sie haben ihn nicht umgebracht?«
»Ihm geht es besser als Ihnen.«
»Er war misstrauischer. Er hat mich gewarnt. Mein Gott, Sie haben ja keine Ahnung, wie das war.«
»Doch, die habe ich, Herr Mey. Ich war auch mal in so einem Land, aber auch mir half man, den Glauben an die Menschheit wiederzufinden. Und Sie werden ihn auch wiederfinden. Letztlich ist die Liebe von Mensch zu Mensch mehr wert, und dafür lohnt es sich zu leben.«
»Und wenn man den Glauben verloren hat?«
»Sie werden ihn wiederfinden«, sagte Jenny mit fester Stimme. »Ich hatte ihn auch verloren, und nun bin ich dankbar für jeden Tag, den ich leben darf und anderen helfen kann.«
»Sind Sie glücklich?«
»Ja, sehr glücklich.«
»Ich will nur, dass Neli glücklich ist.«
»Sie ist glücklich, dass Sie leben, und Sie werden noch erfahren, wie sehr Sie geliebt werden.«
*
Liebe vermochte so viel. Ilona war der wahren Liebe nie fähig gewesen, und sie hatte solche auch nicht empfangen können.
Aber Markus’ eindringlichen Worten folgend, war Peter doch zu ihr gefahren. Doch er hatte nicht allein fahren müssen. Fleur hatte ihn begleitet. Sie bewies, welch menschlicher Größe sie fähig war.
Sie wartete vor dem Hospital. Sie hatten gewusst, wie schlecht es um Ilona stand, wie hilflos sich die Ärzte fühlten. Und Peter sah vor sich eine Sterbende, die ihn nicht erkannte, die ihn mit einer letzten, unkontrollierten Bewegung sogar hinwegscheuchen wollte.
Jäh wurde es Peter bewusst, wie sinnlos ein Leben vergeudet werden konnte, so ein selbstsüchtiges Leben, wie es Ilona geführt hatte, und hatte nicht auch er so munter in den Tag hineingelebt über etliche Jahre? In diesen Minuten schämte er sich grenzenlos, den immer so toleranten Markus hintergangen zu haben, auch da er wusste, dass ihm vergeben worden war.
Als er dann langsam hinausging und Fleur stehen sah, durchfuhr ihn ein stechender Schmerz. Wenn sie sich nun von ihm abgewandt hätte, sie, die erste und einzige Frau, die er wirklich liebte?
Die schlimmste Strafe wäre es gewesen für ihn. Aber sie wandte sich nicht ab. Sie kam auf ihn zu.
Sie streckte ihm beide Hände entgegen. »Man hat es mir schon gesagt«, flüsterte sie. »Du warst so lange weg.«
»Ich musste alles regeln«, sagte er heiser. »Mir ist mies zumute, Fleur.«
Sie nickte. »Das verstehe ich.«
»Mir ist mies, weil ich dich nicht verdient habe.«
Sie zwang ein Lächeln um ihre Lippen. »Ich bin kein Engel, Peter. Ich würde auch manches in meinem Leben gern ungeschehen machen, aber wir können ja einen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen und neu beginnen.«
»Dann packen wir es«, sagte er leise. »Bleibst du die paar Tage noch, bis sie beerdigt ist?«
»Von nun an alles gemeinsam«, sagte sie mit fester Stimme. »Wir müssen Markus anrufen.«
»Nun kann auch für ihn ein neues Leben beginnen«, sagte Peter leise. »Er hat mir noch eine Chance gegeben. Ich werde sie nutzen.«
»Aber du wirst kein Geld von ihm nehmen.«
»So eine kleine Beihilfe zum gemeinsamen Hausstand muss ich doch nicht ablehnen«, meinte er.
»Fang bloß nicht damit an. Ich habe einen kompletten Hausstand.«
»Und das soll ich annehmen?«
»Das ist etwas anderes.«
»Und was ist mit Paul?«
»Er hat Geld genug. Er wäre auch der Letzte, der uns auf dem Pelz hocken würde. Ich wäre nur froh, wenn er von seiner Abenteuerlust geheilt sein würde. Wenn ich für eine Familie zu sorgen habe, werde ich nicht mehr Kindermädchen für ihn spielen.«
»Vorerst hast du ja nur einen Mann.«
Sie warf ihm einen schrägen Blick zu. »Vorerst habe ich ein Patenkind. Die kleine Angelika muss endlich getauft werden, und wenn ich Familie sage, schließe ich auch die Kleine und Markus ein, und so Gott will, wird auch die große Angelika dazugehören.«
»Ich glaube nicht, dass du da nachhelfen musst«, sagte Peter.
»Angelika ist das Gegenteil von Ilona«, sagte Fleur nachdenklich. »Sie würde ihre Gefühle lieber verleugnen, als sich in den Verdacht bringen, sich in ein gemachtes Nest setzen zu wollen.«
»Er ist nicht gerade ein richtiger Draufgänger, aber er wird sie festhalten, davon bin ich überzeugt«, sagte Peter.
*
Paul hatte Stefan besucht. Es war ein erschütterndes Wiedersehen von zwei Männern, die nur ein kurzes Stück des Lebensweges gemeinsam gegangen waren, dafür aber ein so schweres, dass es zur Grundlage einer Freundschaft geworden war.
»Wenn du mir nicht geholfen hättest, wäre ich niemals davongekommen, Paul«, sagte Stefan.
»Pssst, zu niemandem ein Wort darüber. Wirklich zu niemandem, Stefan. Ich habe auch Angst gehabt, dass sie meinen richtigen Namen aus dir herausprügeln würden. Dann wären wir beide über die Klinge gesprungen.«
»Wer hat denn deine Schwester eigentlich benachrichtigt?«
»Ein anständiger Mensch. Man wird dir noch viele Fragen stellen und es ist am besten, wenn du so wenig wie möglich weißt. Den großen Tieren geht es nur um den Profit, vergiss das nicht. Ich soll dir von Markus Nicolai sagen, dass er sein früheres Angebot wiederholt, und wenn du einen Rat von mir annehmen willst, dann nimm es an, Stefan.«
»Wie kommst du zu Markus Nicolai?«
»Über seinen Cousin Peter. Der wird nämlich mein Schwager.«
»Dein Schwager? Wie das?«
Nun geriet das Gespräch in andere Bahnen. Paul redete erleichtert munter drauflos.
»Ich kenne Peter. Er war ein Bruder Leichtfuß«, sagte Stefan.
»Die Menschen können sich ändern, Stefan. Man muss dazu nicht immer barfuß durch die Hölle gehen, man braucht manchmal nur einen Vorgeschmack davon zu bekommen. Ich muss jetzt meine Angelegenheiten regeln, aber ich komme wieder, und ich hoffe, dass du dann wieder okay bist.«
»Du gehst doch nicht wieder zurück?«, fragte Stefan beklommen.
»Da sei Gott vor. Ich werde um meine Demission bitten und dann ein solider Geschäftsmann werden, vielleicht im Antiquitätenhandel, wenn Fleur dann ihrem ungeheuren Drang nachgeht, Kinder in die Welt zu setzen. Sie ist ganz versessen darauf, seit sie Markus Nicolais Tochter in den Armen wiegen konnte.«
»Er hat eine Tochter? Ich will nicht als Klatschbase erscheinen, aber Ilona Nicolai erfreute sich nicht des besten Rufes.«
»Hat sie es bei dir auch versucht? Peter hat sich da wohl ganz schön in die Nesseln gesetzt, aber Fleur weiß darüber Bescheid. Die Ehe ist fini, Stefan. Du wirst schon noch alles erfahren, aber jetzt komm erst mal auf die Beine, alter Junge. Ich melde mich wieder.«
Als Paul das Zimmer verlassen hatte, kam Cornelia. Man hatte ihr gesagt, dass Paul Bruneau bei Stefan sei, und sie hatte gewartet.
»Monsieur Bruneau«, sagte sie, auf ihn zutretend, »ich bin Cornelia Mey.«
Er war konsterniert. »Ich wusste nicht, dass Stefan verheiratet ist«, sagte er bestürzt.
Cornelia wurde verlegen.
»Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir einiges von den Umständen erzählen könnten, unter denen Sie Stefan kennenlernten«, erwiderte sie ausweichend. »Ich meine, wie das passieren konnte. Ich möchte Stefan nicht fragen, nichts aufrühren, was er verdrängen möchte.«
»Das Verdrängen würde ihm nicht helfen, er muss es bewältigen und überwinden. Er wird darüber sprechen müssen, um es loszuwerden, um sich zu befreien. Er ist ein sehr ehrlicher Mensch und er wollte es nicht begreifen, dass er getäuscht wurde.«
»Getäuscht?«, fragte Cornelia.
»Man wollte ihn für ein Projekt einsetzen, das er nicht billigen wollte. Aber man hat sehr harte Methoden, Widerstände zu brechen. Ich hoffe, dass er keinen Knacks bekommen hat, der ewig bleibt.«
»Sie werden Kontakt zu ihm behalten?«
»Sehr gern. Darf ich mich jetzt verabschieden? Ich muss heute noch nach London fliegen.«
»Es würde mich freuen, wenn Sie uns bald besuchen«, sagte Cornelia.
Paul ging, immer noch etwas verwirrt. Warum hatte Stefan ihm nicht gesagt, dass er verheiratet war? Er konnte ja nicht ahnen, wie verzwickt die Verhältnisse waren, und es war gut, dass er nicht mit Markus darüber sprach, sonst wäre er wohl noch mehr irritiert gewesen.
*
Stefan machte auf Cornelia einen bedeutend lebhafteren Eindruck. Er erzählte auch sogleich, dass Paul ihn besucht hätte.
»Ich habe ihn gerade noch kennengelernt«, erklärte Cornelia.
»Mir ist jetzt wohler, da er auch durchgekommen ist«, sagte Stefan.
»Ihr habt am gleichen Projekt gearbeitet?«, fragte sie.
»Nein, das nicht. Er hatte ganz andere Aufgaben. Genaues weiß ich darüber aber nicht, aber stell dir vor, Peter Nicolai wird Pauls Schwester Fleur heiraten.«
»Guter Gott, soll man dazu gratulieren?«, fragte Cornelia ironisch.
»Ich weiß, dass du ihn nicht mochtest«, sagte Stefan, »aber er scheint sich auch geändert zu haben.«
Er erzählte, was er von Paul erfahren hatte. Cornelia äußerte sich nicht dazu.
»Ich werde vielleicht Markus Nicolais Angebot annehmen und nach dem Motto leben: Bleibe im Lande und nähre dich redlich. Wirst du mich dann heiraten, Neli?«
»Wenn du das noch willst? Ich muss dir etwas erzählen, Stefan.«
»Gibt es doch einen anderen Mann?«
»Nein, aber es gibt ein Kind. Dein Kind!«
»Mein Kind? Ich habe kein Kind. Wer hat dir denn so was untergejubelt?«
»Da ich es selbst zur Welt gebracht habe, brauchte es mir niemand unterzujubeln.«
Ob sie es zu schnell, zu spontan gesagt hatte? Er war starr vor Staunen und starrte sie ungläubig an.
»Dein Sohn ist drei Wochen und heißt Stefan Richard Cornelius Mey«, sagte sie leise, da sie nun auch noch das andere sagen wollte. »Als Name des Vaters ist allerdings nur Richard Mey eingetragen.«
»Das verstehe ich nicht«, murmelte er. »Neli, wir haben ein Kind?«
»Ja, wir haben ein Kind«, sagte sie mit fester Stimme. »Unser Sohn kam an dem Tag zur Welt, an dem dein Vater starb, Stefan. Bitte, reg dich nicht auf. Ich musste es dir doch sagen.«
»Ich rege mich nicht auf. Ich bin fassungslos. Ich habe dich allein gelassen, und …«
»Bitte, keine Schuldgefühle, Stefan.«
»Aber du warst allein.«
»Ich war nicht allein. Ich war bei Paps und Kati. Und Paps hatte den einzigen Wunsch, dass dein Kind auch deinen Namen bekommt. Nur aus diesem Grunde hat er mich geheiratet.«
»Er hat dich geheiratet?«
»Um mir den Namen des Mannes zu geben, den wir beide liebten. Du darfst nichts Falsches denken, Stefan, ich bitte dich wirklich flehentlich. Er war ein so wundervoller Mann. Ich habe ihn sehr lieb gehabt. Wir haben so sehr auf dich gewartet und wir haben gehofft und gehofft. Und Paps wollte verhindern, dass andere Verwandte unserm Kind das Erbe streitig machen könnten. Denn alle hatten dich doch schon aufgegeben.«
»Und ihr auch«, sagte Stefan tonlos. »Aber ich kann niemandem einen Vorwurf machen. Ich hatte mich ja auch aufgegeben.«
Cornelia nahm seine Hände und legte ihr Gesicht hinein. »Aber du bist wiedergekommen, und ein kleiner Stefan braucht nicht ohne seinen Vater aufzuwachsen.«
Ein trockenes Schluchzen schüttelte seinen wunden Körper. Cornelia richtete sich auf und nahm Stefan in die Arme. »Ich habe immer nur dich geliebt«, flüsterte sie.
»Aber ich werde lange brauchen, um alles zu begreifen«, sagte er mit erstickter Stimme.
»Es wird viel schneller gehen, als du denkst«, sagte sie innig, »wenn du erst deinen Sohn gesehen hast. Ich werde ihn dir morgen bringen.«
»Aber du warst allein, und Paps konnte dir nicht helfen.« Es erschütterte sie, dass sich nun Tränen aus seinen Augenwinkeln lösten.
»Ich war nicht ganz allein. Dr. Leitner und Dr. Norden haben mir sehr geholfen, und Kati war schließlich auch da.«
»Sie hat mir nichts gesagt, kein Wort.«
»Du solltest erst über den Berg sein. Ich musste auch noch mal ein paar Tage in die Klinik, aber du siehst, es geht mir gut.«
»Und ich liege hier herum, schlafe und schlafe …«
»Und das war gut so, liebster Stefan«, sagte sie innig.
»Wir haben einen Sohn«, flüsterte er. »Ich will ihn sehen.«
»Morgen, Stefan.«
»Ich will nach Hause. Ich will bei euch sein.«
Er war ja schon wieder so müde, und sie küsste ihn liebevoll. »Bald werden wir beisammen sein«, sagte sie, »bald, und für immer. Ich lasse dich nie mehr weggehen.«
*
Mit leichten Schritten betrat Cornelia die Leitner-Klinik. »Sie sind lange ausgeblieben«, sagte Dr. Leitner mit leisem Vorwurf.
»Es musste sein. Manchmal muss auch das Kind zurückstehen«, erwiderte sie. »Und morgen möchte ich entlassen werden.«
Dr. Leitners Gesicht entspannte sich. »Ein Schritt weiter?«, fragte er.
»Viele Schritte! Der Vater will sein Kind sehen, und das Kind wird dem Vater helfen, ins Leben zurückzufinden.«
»Sie sind eine mutige Frau, Cornelia.«
»Liebe macht mutig«, sagte sie leise. »Und Sie, Sie alle haben mir die Kraft dazu gegeben. Ich habe Ihnen viel zu danken. Sie haben nie Fragen gestellt.«
»Wozu auch«, sagte Dr. Leitner.
»Es wäre schön gewesen, wenn Richard Mey es hätte erleben können. Wie gut, dass er noch erfahren konnte, dass ein kleiner Stefan zur Welt gekommen ist.«
Und in diesem Glauben wollten sie alle Cornelia lassen, wie auch Stefan Mey. Es war wirklich eine fromme Lüge, die niemanden geschadet hatte, und vielleicht hatte es Richard Mey, der erfahrene Arzt, längst gewusst, dass es ein Junge werden würde, da er ja Ultraschalluntersuchungen auszuwerten verstanden hatte.
Das konnte Dr. Leitner auch, aber so ganz genau wollte er sich nie festlegen, und außerdem liebten manche Eltern auch die Spannung. Für einige, die sich einen Sohn wünschten, konnte es vorzeitig eine Enttäuschung sein zu wissen, dass es eine Tochter werden würde, und umgekehrt war es ebenso. Entscheidend war doch erst der Augenblick, in dem man ein gesundes Kind im Arm haben konnte, auf das man sich gefreut hatte.
Dr. Leitner wollte jetzt auch nicht mehr daran denken, wie sich wohl Ilona Nicolai erst verhalten hätte, hätte man ihr vorher gesagt, dass es ein Mädchen wurde. Sie hatte sich ja mit einem Erben, einem Namensträger, ihr Wohlleben sichern wollen.
Sie hatte nicht mehr erfahren, wie glücklich Markus mit seiner Tochter war, mit dem Mausilein, das nun schon lachte und gurrte, und ihm die Ärmchen entgegenstreckte, wenn sie seine Stimme hörte.
Sie lag auf dem Wickeltisch, als Markus das Kinderzimmer betrat. Man sah das eiförmige Muttermal ganz deutlich, obgleich es noch so winzig war.
Markus tippte darauf und sah Angelika an. »Der schlüssige Beweis, dass sie meine Tochter ist, Geli«, sagte er.
Heiße Glut stieg in Angelikas Wangen, als er sie mit dem Kosenamen ansprach.
»Sie ist Ihnen sowieso ähnlich«, sagte Angelika. »Sie bekommt die gleiche Augenfarbe wie Sie.«
»Wenn es allein danach ginge, könnte man Mausi auch für Ihre Tochter halten, Geli«, bemerkte er. »Vielleicht denken Sie einmal darüber nach, ob es Sie nicht freuen würde, wenn sie Mami zu Ihnen sagen würde.«
»Bitte, sagen Sie das nicht, Herr Nicolai«, flüsterte Angelika.
»Vorerst denke ich es. Ich bekam gerade einen Anruf von Peter. Ilona ist gestorben. Sie brauchen keine Angst mehr zu haben, Geli, dass sie kommen könnte.«
»Woher wissen Sie, dass ich Angst hatte?«, fragte Angelika atemlos, »Angst, dass sie das Kind holen würde?«
»Ich habe es gespürt, und außerdem habe ich auch gefürchtet, dass sie tatsächlich nochmals hier erscheinen könnte. Aber das Kind hätte ich ihr nie gelassen, um keinen Preis der Welt.«
Behutsam nahm er das Baby empor. »Heute gibt dir dein Papi das Fläschchen, mein Liebling«, sagte er zärtlich. »Wir sind wieder allein mit unserer Geli.«
»Und Mariele«, fügte Angelika leise hinzu. »Und Fleur wird bestimmt eine liebevolle Patin.«
»Ja, Peter hat Glück gehabt, und ich hoffe, dass er es sich verdient. Mit der Taufe werden wir noch ein paar Wochen warten, Geli. Es soll ein schönes Fest werden, und ich wünsche mir sehr, dass Sie –, dass du dann bereits meine Frau bist.«
Angelika setzte der Herzschlag aus. Sie war plötzlich ganz blass geworden.
»Aber ich bin doch ein ganz einfaches Mädchen«, sagte sie stockend. »Sie brauchen doch eine Frau, die repräsentieren kann.«
»Nein, eine solche will ich gewiss nicht. Ich war nie für dieses Tamtam, Geli. Ich habe mich nach häuslichem Glück gesehnt, und dann bin ich an die falsche Frau geraten. Wir reden nachher weiter, wenn unser kleiner Schatz schläft.«
Und Mausi gluckste zufrieden, als er ihr die Flasche gab.
»Ich bin froh, dass sie ein Mädchen ist«, sagte Markus gedankenvoll, »aber ich würde mich auch freuen, wenn ich noch einen Sohn bekommen würde.«
Und dabei sah er Angelika mit einem Blick an, der wieder das Blut in ihre blassen Wangen trieb.
*
Ilona hatte ihr Grab dort bekommen, wohin sie sich begeben hatte, um für ein Leben mit Peter schlank und schön zu werden. Peter und Fleur waren nach der Beerdigung nach Brüssel gefahren. Auch er hatte ein Stück Vergangenheit bewältigen müssen, aber Fleur hatte ihm dabei geholfen, und nun war dieses Kapitel abgeschlossen.
Für ihn war der Flug in ein Abenteuer zum Flug ins Glück geworden. Dass Fleur die Stärkere war, machte ihm nichts aus. Er brauchte eine Frau, die die Zügel fest in den Händen hielt, bis er sich auch auf sich selbst verlassen konnte.
Er führte wieder ein langes Telefongespräch mit Markus. Er sagte ihm, dass er einen Start ohne seine Hilfe versuchen wollte.
»Das wirst du nicht«, erklärte Markus energisch, »du wirst die Niederlassung in Brüssel behalten. Ich kann mich jetzt nicht darum kümmern, Ersatz für dich zu finden. Wir haben eine andere Basis, Peter. Alles hat sich geändert. Ich werde Angelika heiraten, und du darfst Fleur nicht enttäuschen.«
»Ich will sie nicht enttäuschen. Ich muss ihr doch beweisen, dass ich auch ohne deine Rückendeckung etwas leisten kann.«
»Okay, tu das. Ab heute bist du für Brüssel allein verantwortlich. Für Schulden, die du machst, komme ich nicht mehr auf. Und bedenke, dass der Name Nicolai für Korrektheit bürgt.«
»Ich werde es nicht vergessen, Markus. Wie viel Zeit gibst du mir, um es zu beweisen?«
»Bis zur Taufe, in zwei Monaten.«
»Fleur meinte, dass Angelika bald getauft werden sollte«, sagte Peter.
»Sag deiner Fleur, dass unser Kind keinen seelischen Schaden nimmt, wenn es noch ein paar Wochen warten muss. Dann soll ihre Mutter auch meine Frau sein. Hochzeit und Taufe finden am gleichen Tag statt. Den genauen Termin teilen wir auch noch mit.«
»Da kann man nichts machen, Fleur«, sagte Peter, »wenn Markus etwas entschieden hat, gibt es keinen Widerspruch.«
»Wie beruhigend, dass er auch mal eine Fehlentscheidung getroffen hat«, sagte sie, »sonst wäre er mir unheimlich.«
»Und meine Fehler kreidest du mir nicht an?«
»Du warst ein dummer Junge, jetzt bist du ein Mann«, sagte sie, »und wehe dir, wenn du rückfällig werden solltest. Aber wenn man selbst im Glashaus saß, darf man auf andere nicht mit Steinen werfen«, fügte sie mit ihrem bezwingenden Lächeln hinzu.
Er zog sie an sich. »Und wann heiraten wir?«, fragte er.
»Wenn ich ein Kind bekomme«, erwiderte sie ohne zu zögern. »Ich will es genau wissen!«
»Aber ich werde dich niemals deswegen heiraten«, erwiderte er. »Das werde ich mir nie nachsagen lassen. Wir leben vorher getrennt von Tisch und Bett, bis du meine Frau bist.«
Sie blinzelte ihn schelmisch an. »Das hättest du dir aber ein bisschen früher überlegen müssen, Peter«, meinte sie hintergründig. »Aber gut, wenn du willst, eilen wir aufs Standesamt, und den kirchlichen Segen können wir uns dann auch holen, wenn mein Patenkind getauft wird. Ich denke, dass Markus nichts dagegen haben wird.«
*
Ans Heiraten dachte Cornelia noch nicht, als sie mit ihrem kleinen Sohn die Leitner-Klinik verließ. Kati war gekommen, und sie strahlte jetzt Optimismus aus. Für sie war alles schon in bester Ordnung, da Stefan die Tatsachen nun bekannt waren, und sie wollte doch so gern dabei sein, wenn er seinen Sohn zum ersten Mal sah. Wer wollte es ihr verdenken. Freude und Leid hatte sie über viele Jahre mit der Familie Mey geteilt. Sie hatte Stefans Mutter gepflegt, dem Jungen diese dann ersetzt, und sie war auch Cornelia fast eine Mutter gewesen. Nun konnte sie sich sogar als Großmutter fühlen, und das war für sie das größte und schönste Erlebnis im Herbst ihres Lebens.
Aber sie drängte sich nie vor. Sie hielt sich zurück, und das war auch gut so, als Cornelia mit dem Baby an Stefans Bett trat. Denn da konnte die gute Kati nur noch in sich hineinschluchzen, so wehmütig und andächtig zugleich war es ihr ums Herz.
Stefan hatte sich aufgesetzt. Plötzlich hatte er wieder Kraft und als Cornelia das Baby auf die Bettdecke legte, verklärte sich sein Gesicht.
»Du kleiner Mensch«, flüsterte er, »du weißt noch nicht, was für eine wundervolle Mutter du hast, aber ich verspreche dir, dass ich es ihr danken werde bis an mein Ende.«
»Wie schön wäre es, wenn dein Großvater diese Stunde erlebt hätte«, sagte er rau. »Aber ich werde dir viel von ihm erzählen, mein Sohn.«
»Er wird uns unvergessen bleiben«, sagte Cornelia, und diese Stunde war für Kati schöner, als dann ein paar Wochen später die Trauung, die ganz schlicht vollzogen wurde.
»Eigentlich bräuchten wir ja gar nicht mehr zu heiraten, da ich sowieso schon Mey heiße«, hatte da Cornelia schon mit einem Lächeln sagen können, »aber Paps wäre doch dafür. Zuerst war ich ja nicht einverstanden, Stefan, aber er hat gesagt, dass das Kind von Anfang an den Namen Mey bekommen soll.«
»Es war sein Wunsch, und du hast ihm diesen erfüllt, und dafür muss ich dir dankbar sein, Neli.«
Und nach der Trauung gingen sie zu Richard Meys Grab, und Cornelia legte dort ihren Brautstrauß nieder. Dann blickten sie beide zum Himmel empor, der wie eh und je das Weltall umgeben würde, sosehr sich die Erde und die Menschen auch wandeln würden, in dem sich die Seelen wiederfinden konnten.
*
Wenige Tage später wurde Angelika Limmer Frau Nicolai, und am gleichen Tage wurde die kleine Angelika getauft. Ihre Patin Fleur empfing auch mit ihrem Mann Peter den kirchlichen Segen.
Da war Stefan schon längst mit Markus Nicolai einig, fortan mit ihm zusammenzuarbeiten, und er war auch Trauzeuge bei Markus und Angelika gewesen.
In der Kirche schrien dann der kleine Stefan und die kleine Angelika um die Wette, als die Orgel ertönte.
»Musikalisch scheinen sie nicht zu sein«, sagte Paul Bruneau zu Dorle, die bei dieser Feier auch nicht fehlen durfte.
»Sie lieben wohl die sanfteren Töne«, meinte Dorle.
»Sie verstehen die Kinder«, sagte Paul. »Wollen Sie nicht selbst welche haben?«
»Später schon, aber jetzt bin ich erst mal froh, dass für die beiden Kleinen alles so gut ausgegangen ist.«
Aber auch für Dorle war dieser Tag der Anfang zum ganz persönlichen Glück, wenn es auch ein bisschen länger dauerte, bis sie Frau Bruneau wurde.
Der Leitner-Klinik blieb sie noch drei Jahre erhalten, aber sie hatte dann den Vorteil, dass ein Stefan Mey und eine Angelika Nicolai ihr Blumen auf dem Weg zum Altar streuten. Und das hatten die beiden Kleinen perfekt einstudiert, während der kleine Marc, Peters und Fleurs Sohn, dann die Blumen wieder auflas.
Es war eine fröhliche Hochzeit, ein großes Familienfest. Mariele hielt den zappelnden, siebzehn Monate alten Andreas fest, Kati wiegte die neun Monate junge Kathrin im Arm, die lieber schlafen wollte, während derer beider Eltern andächtig der Predigt lauschten und zurückdachten.
Die Schatten und der Schmerz waren gewichen. Die Erde drehte sich weiter, und ihr Glück war vollkommen.
»Kriegt ihr auch bald Kinder?«, fragte der kleine Stefan hernach Dorle. Er war pfiffiger als die schüchterne Mausi, die immer noch so genannt wurde.
»Das will ich sehr hoffen«, sagte Paul. »Dorle hat sich lange genug um andere Kinder gekümmert.«
»Ein Geschwisterchen sollte Marc eigentlich auch noch haben«, sagte Peter zu Fleur, »sonst wird er zu rechthaberisch.«
»Darauf braucht er nicht mehr allzu lange zu warten«, lachte sie. Und drei Ärzte mit ihren Frauen konnten sich an diesem Tag mitfreuen, denn jeder von ihnen hatte auch ein wenig mit dazu beigetragen, dass so fröhlich gefeiert werden konnte. Dr. Norden, Dr. Leitner und Dr. Behnisch waren nach wie vor eine verschworene Gemeinschaft, wenn es darum ging zu helfen, wo immer man noch helfen konnte.