Читать книгу Dr. Norden Bestseller Paket 5 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 15

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Mit einem zärtlichen Kuss verabschiedete sich Bernd Schmitt von seiner Frau Ute. Er musste für vier Tage geschäftlich nach England fliegen, und diesmal fiel es ihm besonders schwer, weil der dreijährige Tino fieberte.

»Komm bald wieder, Papilein«, flüsterte der Kleine heiser.

»So schnell ich kann, mein Butzibärle«, sagte Bernd. »Ich würde lieber bei dir bleiben, das kannst du mir glauben.«

»Das Taxi ist schon da«, sagte Ute, und es war auch höchste Zeit für den Aufbruch, denn während des Berufsverkehrs dauerte es manchmal doch lange bis zum Flughafen.

Sie begleitete ihren Mann zur Tür. »Rufe besser gleich Dr. Norden an«, sagte Bernd besorgt.

»Das wollte ich sowieso tun. Pass auf dich auf, Liebster, und komm gesund zurück.«

»Vielleicht schaffe ich es in vier Tagen«, sagte er und gab ihr schnell noch einen Kuss.

Ute ging zu dem Kleinen. »Mein Hals tut weh, Mami«, flüsterte er.

Zuerst hatte Ute es nicht so ernst genommen, weil Tino immer Wehwehchen hatte, wenn sein Papi geschäftlich verreisen musste, aber diesmal hatte er tatsächlich Fieber.

Ute rief Dr. Norden an und bat um seinen Besuch. Ob es sehr dringend sei, fragte Loni, da das Wartezimmer voll besetzt war.

»Ich hoffe es nicht«, erwiderte Ute. »Tino hat Halsschmerzen und fast neununddreißig Fieber.«

»Die Masern greifen um sich«, erklärte Loni, Dr. Nordens langjährige rechte Hand.

Auch das noch, dachte Ute besorgt. Hoffentlich hat Bernd sich nicht angesteckt, denn er hatte schon einmal gesagt, dass er seines Wissens nach die Masern nicht gehabt hätte.

Tino war schon eingeschlafen. Vielleicht hat er sich doch nur wieder aufgeregt, weil Bernd fortmusste, dachte Ute. Der Junge hing sehr an seinem Papi und war überaus sensibel.

Als es läutete, lief Ute rasch zur Tür. Aber es war nicht Dr. Norden, sondern der Postbote. Er brachte ein amtliches Schreiben. Ute musste den Empfang bestätigen. Auch einige andere Briefe nahm sie in Empfang, und erst später überfiel sie eine Beklemmung, weil dieses amtliche Schreiben von einem Vormundschaftsgericht kam. Was mochte das bedeuten?

Sie erledigte alle private Post, und Bernd hatte es generell genehmigt, dass sie auch alle an ihn adressierten Briefe öffnen könne. Sie hatten keine Geheimnisse voreinander, das hatte er immer wieder betont.

Oder gab es doch ein Geheimnis? Ihre Augen weiteten sich, als sie das Schreiben las, dessen Inhalt sie nicht gleich begreifen konnte, obgleich es klar und unmissverständlich abgefasst war.

Am zwölften Januar dieses Jahres verstarb Melanie Sontheim, von Beruf Kunstmalerin. Sie hinterließ unehelich geborene Zwillinge im Alter von fünf Jahren, namens Bernd und Katja, als deren Vater sie Bernd Schmitt benannte. Es wurde um Stellungnahme gebeten, ob er sich zu der Vaterschaft bekenne, damit die rechtliche Lage der Kinder geklärt würde.

Das gibt es nicht, nein, das darf nicht wahr sein, dachte Ute. Fünf Jahre sind die Kinder, und wir sind seit fünf Jahren und drei Monaten verheiratet.

In ihr war plötzlich eine völlige Leere, aber da läutete es wieder. Sie war kaum fähig, sich zu erheben, so schwindelig war ihr, aber als sie Dr. Nordens Stimme vernahm: »Ich bin es, der Doktor«, wankte sie zur Tür.

Dr. Norden wich unwillkürlich einen Schritt zurück, als sie so fahl und zitternd vor ihm stand.

»Ist es so schlimm?«, fragte er bestürzt. »Warum haben Sie das Loni nicht gesagt?«

Der Brief, den sie noch in der Hand hielt, fiel zu Boden, und dann schwankte sie, und er konnte sie gerade noch auffangen.

»Tino schläft«, stammelte sie.

»Sie dürfen sich aber nicht so aufregen«, sagte er beruhigend. »Oder hat es Sie denn auch erwischt? Es grassiert überall ein recht gemeiner Virus.«

»Der Brief«, murmelte sie geistesabwesend.

Er hob den Brief auf. »Hat er Sie erschreckt?«, fragte er.

Sie nickte. Und dann schluchzte sie auf. »Ich kann es nicht glauben.«

Sie war völlig fassungslos und maßlos erregt. Er führte sie zu einem Sessel und drückte sie mit sanfter Gewalt hinein.

»Tino«, murmelte sie. »Sehen Sie nach Tino.«

Dr. Norden kannte sich in den Räumlichkeiten aus, aber Ute war in einem Zustand, in dem er sie jetzt nicht allein lassen wollte.

»Es geht schon wieder«, flüsterte sie. »Tino ist wichtiger.«

Dr. Norden war nicht immer gleich mit Beruhigungsspritzen zur Hand, aber in diesem Fall schien ihm doch eine angebracht, denn Utes Puls raste. Sie ließ es auch widerspruchslos über sich ergehen.

»Wir reden nachher, ich sehe nach Tino«, sagte er.

Der Junge schlief, das Fieber war schon zurückgegangen. Der Kleine bereitete ihm nicht so viel Sorge wie seine Mutter. Er wollte ihn auch nicht aus dem Schlaf reißen, um ihm in den Hals zu schauen.

Er ging zu Ute zurück. Sie starrte ihn blicklos an.

»Es wird nur eine Erkältung sein«, sagte Dr. Norden beruhigend. »Tino schläft so fest, dass ich ihn nicht wecken will. Aber welcher Kummer bedrückt Sie, Frau Schmitt?«

»Mein Mann ist verreist, geschäftlich, und heute kam dieser Brief. Was soll ich davon halten?«

»Darf ich ihn lesen?«

Sie nickte. »Aber Sie dürfen niemandem etwas sagen.«

»Das ist doch selbstverständlich.«

Er las das Schreiben, und seine Augenbrauen schoben sich zusammen. »Das muss doch erst bewiesen werden«, sagte er ruhig. »Es wird einige Bernd Schmitts geben, die an diesem Tag geboren sind. Und es kann doch sein, dass auch einige das gleiche Schreiben bekommen haben. Sie dürfen sich jetzt nicht so aufregen, Frau Schmitt. Es ist doch wohl so, dass Sie wieder ein Kind erwarten.«

»Ich habe es Bernd noch nicht gesagt«, murmelte sie. »Er steht vor einer wichtigen beruflichen Entscheidung, und ganz sicher ist es doch sowieso noch nicht.«

»Ich denke doch. Der Test war positiv«, sagte Dr. Norden. »Ich war nur besorgt, dass Tino möglicherweise die Röteln bekommen haben könnte, aber dem ist nicht so. Jetzt bleiben Sie mal ganz ruhig. Ich kenne doch Ihren Mann. Es kann da ein Irrtum vorliegen. Sie sollten ganz vernünftig mit ihm darüber sprechen.«

»Und wenn es stimmt?«, fragte sie bebend.

Er dachte nach. »Dann verstehe ich nicht, dass diese Frau sich nicht schon früher gemeldet hat, wenn sie den Namen und sogar das Geburtsdatum wusste. Das muss doch geklärt werden.«

Utes Gesicht entspannte sich. »Ich kenne Bernd seit sieben Jahren«, sagte sie jetzt gedankenvoll. »Er war einunddreißig, als wir uns kennenlernten, und kein dummer Junge mehr, sondern ein Mann, der schon seine Erfahrungen gemacht hatte. Darüber hat er auch gesprochen. Er hat es nicht leicht gehabt im Leben. Er musste sich alles selbst erkämpfen, aber er ist alles andere als skrupellos.« Sie war jetzt ruhiger geworden. »Nein, ich kann nicht glauben, dass er in dieser Zeit eine Affäre mit einer anderen Frau gehabt hat, und schon gar nicht, dass er sich um eine Verantwortung gedrückt hat. Sie haben recht, Herr Dr. Norden, ich werde ganz vernünftig mit ihm darüber sprechen, wenn er zurück ist. Es war nur der erste Schock, der mich bald umgeworfen hat.«

Dr. Norden war beruhigt, und nun schaute er nochmals nach Tino. Diesmal blinzelte der Junge ein bisschen.

»Tino, Dr. Norden ist da«, sagte Ute. »Er will mal in deinen Hals schauen.«

»Tut schon nicht mehr weh«, murmelte Tino schläfrig. »Bin bloß müde, und Durst habe ich.«

»Du bekommst auch etwas zu trinken, Tino«, sagte Dr. Norden, »aber mach deinen Mund mal auf. Es ist immer besser, wenn man vorbeugen kann, bevor es schlimm wird.«

»Papi wäre bestimmt sauer, wenn du richtig krank bist, wenn er zurückkommt«, sagte Ute. »Wir wollten dann doch ein paar Tage wegfahren.«

Tino merkte nichts davon, dass seine Mami eben noch fast einem Nervenzusammenbruch nahe gewesen war, so beruhigend wirkte sich Dr. Nordens Anwesenheit auf sie aus.

Tino machte dann auch den Mund ganz weit auf und sagte gedehnt ­Aaahh.

»Leicht gerötet, aber nicht schlimm«, erklärte Dr. Norden. »Tino soll heute besser noch im Bett bleiben. Masern oder Röteln sind nicht zu befürchten. Mit Antibiotika brauchen wir da nicht gleich zu kommen. Haben Sie noch Brausetabletten da?«

»Immer«, erwiderte Ute. »Da meckert er wenigstens nicht, aber wenn was nicht gut schmeckt, nützt alles Zureden nicht.«

»Wie bei den meisten Kindern. Sollte das Fieber nochmals ansteigen, geben Sie am Abend ein Zäpfchen. Ihnen lasse ich zwei Kapseln da. Ein leichtes Beruhigungsmittel auf Naturbasis. Da brauchen Sie nichts zu befürchten, aber Sie sollen auch nicht die ganze Nacht wachliegen und grübeln. Meiner Ansicht nach handelt es sich da bestimmt um einen Irrtum.«

Er konnte gut zureden, aber er fragte sich, was es nach sich ziehen würde, wenn es doch stimmte. Warum musste dieses Schreiben auch ausgerechnet kommen, da Bernd Schmitt einige Tage abwesend war. Da hatte wohl wieder mal der Teufel seine Hand im Spiel!

*

Weit entfernt von München, in einem Vorort von Bremen, lief eine junge Frau aufgeregt in einem sehr geschmackvoll eingerichteten Wohnraum hin und her.

Plötzlich jedoch blieb sie abrupt vor einem Mann stehen, der lässig in einem Sessel lehnte und aus schmalen Augen zu ihr emporblickte.

»Kannst du oder willst du mich nicht verstehen, Torsten?«, fragte sie gereizt. »Ich bin es doch Melanie schuldig, dass ich mich um die Kinder kümmere.«

»Was bist du ihr schuldig?«, fragte er kühl. »Es war doch wohl immer umgekehrt.«

»Weil ich einen reichen Vater hatte und ihrer im Krieg umgekommen ist?«, fragte Henrike Sontheim heftig.

»Ich möchte dich bitten, das alles einmal ganz nüchtern zu sehen, Ricky«, sagte Torsten Sörensen. »Wir wollen heiraten, und ich habe nicht die Absicht, zwei fremde Kinder aufzuziehen. Du musst dich schon entscheiden, was dir wichtiger ist.«

»Du bist herzlos«, stieß sie hervor.

»Du wirst mich jetzt mal ganz ruhig anhören, Ricky. Melanie war kein dummes unbedarftes Gör, als sie die Kinder in die Welt setzte. Sie war vierunddreißig und hatte schon einige Erfahrung mit Männern. Gut, sie war eine emanzipierte Frau und letztlich auch in der Lage, ein Kind allein aufzuziehen. Dass es gleich zwei wurden, hat sie wohl doch nicht einkalkuliert, worauf du dich bemüßigt gefühlt hast, Kinderschwester zu spielen, als weiterhin Medizin zu studieren. Ich kenne ihre Sprüche. Sie braucht keinen Vater für ihr Kind, sie sucht sich nur einen Mann aus, der ihren Vorstellungen entspricht.«

»Du hast sie sehr gut gekannt«, sagte Henrike anzüglich, »aber verstanden hast du sie nicht.«

»Du hast immer etwas in sie hineingeheimnist, und jetzt glaube ich fast, du wolltest genauso leben wie sie. Du bist elf Jahre jünger und leidest anscheinend an verdrängten Mutterkomplexen. Warum, weiß ich nicht. Wir könnten längst verheiratet sein.«

»Nicht ohne die Kinder«, schleuderte sie ihm ins Gesicht. Sie war schön, wenn sie wütend war, und Torsten wurde jetzt wütend, weil er nicht den ersten Platz in ihrem Leben einzunehmen schien.

»Jetzt will ich dir mal was sagen, Ricky. Ich mache dieses Spiel nicht mit. Ich habe das Vormundschaftsgericht informiert, dass ein Mann namens Bernd Schmitt der Vater der Kinder ist, und nun wird er zu entscheiden haben, was mit den Kindern geschieht.«

Sie starrte ihn an. Ihr Gesicht war ganz weiß und starr, und ihre grauen Augen flammten.

»Solch einen Vertrauensbruch hast du begangen? Das konntest du tun?«, sagte sie tonlos. »Geh, verlass dieses Haus, und ich will dich nie wieder hier sehen, nie wieder! Du stöberst in Melanies Sachen herum, die dich überhaupt nichts angehen. Jetzt habe ich dich durchschaut. Vielleicht bist du gar der Vater und hast dich nur an mich herangemacht, weil ich eben mehr Geld habe, als Melanie je hatte.«

In ihrer Wut wusste sie nicht mehr, was sie redete, aber sie hatte ihn an einer sehr empfindlichen Stelle getroffen, wenn er das auch nie zugegeben hätte.

»Du wirst mich eines Tages dafür um Entschuldigung bitten«, sagte er mit mühsamer Beherrschung. »Du wirst ja sehen, was nun geschieht.«

Henrike war plötzlich eiskalt. »Ich habe gesagt, du sollst gehen, und du wirst nicht erleben, dass ich dich um Entschuldigung bitte.«

Torsten Sörensen ging, aber an der Tür blieb er noch einmal stehen.

»Du bist Melanie sehr ähnlich«, zischte er. »Hoffentlich rast du auch nicht mal gegen einen Baum!«

*

Henrike sank auf das Sofa und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. O Gott, dachte sie, und ich wollte ihn heiraten. Wie konnte ich nur so blind und taub sein. Aber dann nahm sie sich rasch zusammen und eilte zum oberen Stockwerk.

In einem großen hellen Zimmer saßen die Zwillinge ganz vertieft in ein Memory-Spiel, zumindest schien es so.

»Na, wie läuft es?«, fragte Henrike mit gekünstelter Ruhe. »Wer gewinnt diesmal?«

»Wir stehen gleich«, erwiderte Bernd. »Hast du mit Sörensen gestritten?«

»Wie kommst du darauf?«, fragte sie tonlos.

»Es war ziemlich laut.«

»Er kann uns nicht leiden«, sagte Katja. »Müssen wir nun doch in ein Heim?«

Henrike unterdrückte ein heftiges Schluchzen. »Nein, niemals«, erwiderte sie. »Ich muss jetzt nur schnell mal telefonieren, dann spiele ich mit euch.«

»Melli hat immer gesagt, du bist der beste Mensch auf der Welt, Ricky. Das bist du ganz sicher«, sagte Bernd.

Sie hatten ihre Mutter Melli genannt. Nicht, weil sie es so wollte, sondern weil Ricky sie so nannte. Sie waren reizende und intelligente Kinder. Es hatte ihnen an nichts gemangelt, und es sollte ihnen auch in Zukunft an nichts fehlen. So empfand es Henrike als eine absolute Gemeinheit von Torsten, dass er ihr in den Rücken gefallen war. An so etwas hatte sie überhaupt nicht gedacht.

Es hatte keine Schwierigkeiten bereitet, dass sie nach Melanies plötzlichem Tod die Pflege der Kinder übernehmen konnte. Sie lebte in gesicherten Verhältnissen, sie hatte ein geräumiges Haus, und die Kinder waren mit ihr vertraut. Ihr war es zwar nicht entgangen, dass Torsten mit den Kindern überhaupt nichts anzufangen wusste, aber sie hatte gemeint, dass er sich schon daran gewöhnen würde.

Nun jedoch wurde ihr auch bewusst, dass sie nicht erst heute ihre Meinung über ihn in mancher Hinsicht revidieren musste.

Sie rief ihren Anwalt an, der auch Melanies Anwalt gewesen war. Dr. Ortmann versprach ihr, am Abend zu kommen.

Es fiel Henrike nicht leicht, sich auf das Spiel mit den Kindern zu konzentrieren. Immer wieder versank sie in Nachdenken, und da fragte Bernd: »Hast du dich mit Sörensen wegen uns gestritten, Ricky?«

»Ich habe ihm meine Meinung gesagt. Er wird nicht mehr kommen«, erklärte sie.

»Du wirst ihn doch nicht heiraten?«, fragte Katja.

»Nein, ich werde ihn nicht heiraten.«

»Weil er uns nicht leiden kann und weil du uns lieb hast?«, fragte Bernd.

Da wurde sie von beiden stürmisch umarmt. »Wir suchen dir einen viel netteren Mann«, versicherte Bernd.

»Onkel Arnold ist leider schon ein bisschen alt«, flüsterte Katja.

Onkel Arnold, das war Dr. Ortmann, aber den mochten die Kinder, und er brachte ihnen auch etwas mit.

»Ein ganz tolles Spiel«, sagte er. »Beschäftigt euch damit, ich muss etwas mit Henrike besprechen.«

Murren gab es bei den beiden nicht. Wenn Erwachsene miteinander was zu reden hatten, war das nichts für Kinder. Das hatte ihnen schon Melanie beigebracht.

Dr. Ortmann war erst mal völlig konsterniert, als Henrike ihm sagte, worum es ging.

»Was ist Sörensen da eingefallen? Was hat er sich dabei gedacht?«

»Wohl doch das, dass mir die Kinder weggenommen werden«, erklärte Henrike. »Aber das nehme ich nicht hin. Der Mann, dieser Bernd Schmitt, hat überhaupt keine Ahnung, dass es die Zwillinge gibt. Melanie hat es mir ausdrücklich gesagt, und sie wollte auch nicht, dass er es erfährt.«

»Und wie hat es Sörensen erfahren?«, fragte Dr. Ortmann.

»Durch einen dummen Zufall. Er hat mir geholfen, Melanies Sachen zu ordnen. Es waren ja einige wichtige Papiere darunter. Und außerdem auch eine Bleistiftzeichnung von diesem Mann. Sie hatte darauf das Geburtsdatum vermerkt. Warum, weiß ich auch nicht, und dazu den Tag, an dem sie ihn kennenlernte. In einer melancholischen Stimmung hat sie mal mit mir darüber gesprochen.«

»Du solltest mir jetzt alles sagen, was du weißt, Henrike«, bat er. »Du weißt doch, dass du dich auf mich verlassen kannst. Dein Vater war mein bester Freund.«

»Und er hätte es gern gesehen, wenn du Melanie geheiratet hättest«, sagte Henrike.

»Da führte kein Weg hin. Sie war viel zu eigenwillig. Es gab ein paar heiße Affären in ihrem Leben, auch darüber wollen wir nicht hinwegsehen. Sie war so ursprünglich, sie ließ sich nicht in ein Schema pressen, und brauchte keine Anerkennung. Du weißt es ja, dass sie selbst ihre großartigen Illustrationen unter dem nichtssagenden Pseudonym Meta Niemand herausbrachte.«

»Und sie fuhr lieber gegen einen Baum, um nicht ein Kind mit seinem Hund zu überfahren«, sagte Henrike leise. Ihre Stimme zitterte. »Sollen ihre Kinder dafür büßen?«

»Reg dich jetzt nicht auf. Das kommt schon in Ordnung. Im Grunde kannst du froh sein, dass dir beizeiten die Augen über Sörensen aufgegangen sind. Ich hatte diesbezüglich immer Bedenken.«

»Warum hast du es nicht gesagt?«

»Das kann leicht ins Auge gehen, Henrike.«

»Ich weine ihm keine Träne nach. Vielleicht bin ich Melanie wirklich ähnlich. Meiner Ansicht nach hat sie diesen Bernd Schmitt geliebt. Er muss ein paar Jahre jünger gewesen sein als sie.«

»Wo lernte sie ihn kennen? Hat sie dir das auch gesagt?«

»Auf Sylt. Direkt gesagt hat sie es nicht, aber da sie das Datum dieses Kennenlernens auch vermerkt hatte, muss ich es annehmen, denn da war sie acht Wochen in ihrem Haus auf Sylt, das sie dann überraschenderweise so plötzlich verkaufte.«

»Finanziell sind die Kinder jedenfalls gesichert«, stellte Dr. Ortmann fest.

»Solange sie bei mir bleiben dürfen, will ich nichts von diesem Geld haben. Es soll angelegt werden für die Kinder. Aber könnte es nicht sein, dass dieser Bernd Schmitt Anspruch auf die Zwillinge erhebt, wenn er erfährt, dass sie recht vermögend sind?«

»Ich werde das in die Hand nehmen, Henrike.«

Ihre Augenbrauen hoben sich leicht. »Es kann doch niemand etwas dagegen einwenden, wenn ich mit den Kindern verreise«, sagte sie.

»Tu das, wenn es dich beruhigt, aber mich musst du wissen lassen, wo ihr euch aufhaltet. Vielleicht löst sich alles schnellstens in Wohlgefallen auf. So schnell bekommt ein unehelicher Vater, der sich nie um die Kinder gekümmert hat, nicht das Sorgerecht. Wohin willst du fahren?«

»Nicht weit. Nach Langeoog, aber das wirst du für dich behalten. Die Adresse kennst du ja.«

»Und du willst die Kinder behalten?«

»Um jeden Preis.« Sie lächelte flüchtig. »Melanie hat gewusst, wie wenig Verlass auf die Männer ist, ich weiß es jetzt auch. Die Kinder lieben mich. Für sie bin ich der beste Mensch auf der Welt, das hat Bernd vorhin gesagt.«

»Du bist auch ein seltenes Juwel«, sagte Dr. Ortmann. »Würdest du mir besagtes Bild überlassen?«

Henrike zögerte. »Ich habe nicht gedacht, dass es einmal Beweismaterial werden würde«, sagte sie verhalten.

»Sörensen verfügt über beste Verbindungen, und wenn du ihm jetzt den Laufpass gegeben hast, wird er erst recht versuchen, dir Steine in den Weg zu werfen.«

Henrike holte die Zeichnung. Sie befand sich in einer Sichtmappe und war unbeschädigt.

»Recht sympathisch«, stellte Dr. Ortmann fest.

»Melanie hat sich nicht mit Kreti und Pleti eingelassen. Sie war auch nicht leichtlebig, aber sie brauchte ab und zu einen Mann. Sie war da sehr offen mir gegenüber. Sie sagte, wenn es bei ihr gefunkt hat, gab es keine Hemmungen, aber dann war es auch schnell wieder vorbei. Als Hausmütterchen war sie ja auch nicht denkbar.«

»Und sie hätte niemals einen Mann zur Kasse gebeten. Sie hatte Charakter«, sagte Dr. Ortmann.

*

Als Bernd Schmitt von seiner Reise zurückkam, sprang ihm Tino schon wieder munter entgegen.

»Du bist ja wieder gesund«, freute sich Bernd, aber dann war er erschrocken, wie blass und angegriffen Ute aussah.

»Hat es jetzt dich erwischt?«, fragte er besorgt, und noch betroffener war er, als sie sich nur widerstrebend von ihm küssen ließ.

So vernünftig Ute auch sein wollte, sie hatte sich doch damit gequält, dass wahr sein könnte, was in dem Brief stand.

Es war schon spät abends, und Tino wurde nach dem Essen müde. Da der Papi nun ein paar Tage zu Hause bleiben würde, konnte er ruhig schlafen, und auf den Gutenachtkuss brauchte er auch nicht zu verzichten.

Bernd wandte sich dann seiner Frau zu. »Was ist los mit dir, Ute?«, fragte er stockend.

»Lies das erst, wir wollen dann ganz vernünftig darüber sprechen«, sagte sie hastig und legte ihm den Brief hin.

Sie beobachtete ihn, sah sein Mienenspiel, diesen völlig konsternierten Ausdruck.

»Das ist doch ein dicker Hund!«, rief er spontan aus. »Wer hat sich das ausgedacht? Du wirst das doch nicht glauben, Ute?«

»Es ist ein amtliches Schreiben«, sagte sie leise.

»Es ist ein Irrtum. Da hat so ein Computer mal wieder den Falschen herausgepickt, möchte ich meinen.«

»Es ist aber dein Geburtsdatum, Bernd«, sagte sie.

»Mit einem seltenen Namen bin ich ja nicht gerade gesegnet«, erklärte er. »Ich schwöre dir, dass ich einer Melanie Sontheim nie begegnet bin. Aber wenn mir da jemand etwas einbrocken will, hat er sich getäuscht. Ich gehe den Dingen schon auf den Grund. Wir wollten doch Tante Hermine besuchen, da fahren wir erst mal nach Bremen. Nein, wir werden fliegen, und dann nehme ich mir einen Leihwagen.«

»Wir?«, fragte Ute.

»Natürlich. Du wirst dabeisein, wenn ich das kläre. Ich habe nichts zu verbergen. Ich lasse mir doch nicht einfach Zwillinge unterjubeln. Und ich schwöre dir, ich werde alle Bernd Schmitts finden, die am 4. Februar 1945 geboren sind. Es stimmt mich nur traurig, dass du mir das zutraust.«

»Du warst immer viel unterwegs«, sagte Ute trotzig.

»Und man hat vergessen hinzuzufügen, wo dieser Bernd Schmitt geboren ist. Bremen? Macht dich das nicht stutzig, Ute?«

»Wieso?«

»Da sitzt doch dieser Torsten Sörensen, der damals so hinter dir her war.«

»Jetzt mach es aber halblang, Bernd. Woher sollte der denn von dieser Sache wissen?«, widersprach Ute.

»Die Wege der Vorsehung sind unerforschlich«, sagte Bernd dumpf. »Ich konnte den Burschen nicht ausstehen in seiner maßlosen Überheblichkeit. Jedenfalls ist das eine Intrige, und bevor das noch Kreise zieht, werde ich nachforschen. Ich buche für morgen einen Flug. Packe ein paar Sachen zusammen.«

Ute war sprachlos, aber so war Bernd nun mal, und sie war erleichtert. Für sie war es ein Beweis, dass er sich keiner Schuld bewusst war, selbst wenn er nun in seinem Zorn Torsten Sörensen da hineinziehen wollte. Sie konnte ja nicht ahnen, dass er da schon die richtige Eingebung hatte.

Der Flug war gebucht. Sie mussten früh aufstehen.

»Dass du auf Sörensen kommst«, murmelte Ute vor dem Einschlafen. »Wieso eigentlich?«

»Er sitzt doch in so einem Ministerium, und da ist ihm vielleicht diese Sache unter die Finger gekommen. Ich kann nur kombinieren, Ute. Jedenfalls habe ich damit nichts zu tun.«

Wie alles zusammenhing, konnte er freilich nicht ahnen. Tino, obgleich er aus tiefem Schlummer geweckt werden musste, war begeistert, dass sie nach Bremen fliegen würden.

Es ging alles ruckzuck. Bernd ließ seinen Wagen in München stehen, holte die Tickets, und schon saßen sie im Flugzeug. Für Tino war es der erste Flug, und er fand es herrlich. Seinetwegen hätte der Flug länger dauern können, aber Bernd brannte darauf, so schnell wie möglich diese Angelegenheit zu klären, und wieder konnte er nicht ahnen, was ihn da noch alles erwartete.

Mit dem Taxi fuhren sie zum Vormundschaftsgericht. Das begriff Tino freilich nicht, aber er war noch zu sehr Kind, um dem eine Bedeutung beizumessen.

Ute fiel aus allen Wolken, als sie erfuhr, dass tatsächlich Torsten Sörensen diese Nachforschungen eingeleitet hatte. Und aufgrund seiner Angaben hatte man auch nach keinem anderen Bernd Schmitt geforscht.

Bernd kochte vor Zorn, aber er war dann doch der Meinung, dass man zuerst diesen Anwalt Dr. Ortmann aufsuchen solle, der bereits notwendige Schritte in die Wege geleitet hatte, um Henrike Sontheims Ansprüche auf die Zwillinge anzumelden.

»Machen wir nicht Urlaub, Papi?«, erkundigte sich Tino schüchtern.

»Zuerst muss einiges geklärt werden«, sagte Bernd.

»Du kannst den Anwalt allein aufsuchen, Bernd«, erklärte Ute. Seit sie wusste, dass Torsten Sörensen doch eine Rolle spielte, war sie restlos verwirrt.

»Er muss diese Melanie Sontheim gut gekannt haben«, sagte Bernd. »Vielleicht ist er der Vater und will sich drücken. Aber ich komme dahinter, Ute, ich schwöre es dir. Ich bringe euch jetzt zu einem Hotel, dort könnt ihr euch ausruhen.«

»Ein schöner Urlaub ist das aber nicht, Papi«, sagte Tino.

»Der kommt schon noch«, wurde er von Bernd getröstet. »Wir fahren dann doch zu Tante Hermine.«

Als Bernd dann von Dr. Ortmann empfangen wurde, sollte er doch in arge Bedrängnis geraten.

Dr. Ortmann musterte den Jüngeren forschend, nachdem Bernd sich erregt darüber ausgelassen hatte, in was er da hineingezogen worden sei.

»Eigentlich kann gar kein Zweifel bestehen«, sagte Dr. Ortmann ruhig und legte ihm die Bleistiftzeichnung vor. Bernd erstarrte.

»Ich muss einen Doppelgänger haben, der sich meines Namens bedient hat«, sagte er fassungslos. »Ich kann nur immer wieder sagen, dass ich einer Melanie Sontheim nie begegnet bin.«

»Vielleicht einer Meta Niemand?«, fragte Dr. Ortmann.

Bernd sah geradezu töricht aus. »Wieso das? Was soll das? Ich kenne auch keine Meta Niemand.«

»Und Sie waren auch nicht vor sechs Jahren auf Sylt? Genau gesagt an diesem Datum?« Er deutete auf das, was Melanie da notiert hatte.

»Ich war nie auf Sylt, und wo ich zu dieser Zeit war, kann ich glücklicherweise beweisen«, sagte Bernd tonlos. »Da habe ich nämlich gerade meine jetzige Stellung angetreten. Das heißt, damals hatte ich noch keine leitende Stellung. Aber da ich am 1. August in meine Firma eingetreten bin, in der ich jetzt Teilhaber bin, konnte ich schlecht gleich Urlaub auf Sylt machen.«

Jetzt war Dr. Ortmann leicht verwirrt. »Und das können Sie beweisen?«, fragte er.

»Aber sicher. Ein Anruf genügt. Mein Kompagnon wird es bestätigen. Wann sind diese Zwillinge geboren, wenn ich fragen darf?«

»Am 2. Juni 1977«, erwiderte Dr. Ortmann. »Zwillinge im Sternzeichen der Zwillinge. Es wird auch für mich zu einer rätselhaften Angelegenheit, Herr Schmitt.«

»Und für mich erst«, stöhnte Bernd. »Aber es muss des Rätsels Lösung geben. Überlegen wir einmal ganz logisch. Diese Melanie Sontheim war mit Sörensen bekannt. Stimmt das?«

»Ja, und er wollte Henrike Sontheim, Melanies Cousine, heiraten. Sie zerstritten sich wegen der Kinder. Henrike will sie auf jeden Fall behalten, also bräuchten Sie nicht zu befürchten, für die Kinder sorgen zu müssen, Herr Schmitt.«

»Ich bin nicht der Vater«, sagte Bernd jetzt ganz ruhig. »Es ist alles sehr tragisch, was Sie mir da sagen, aber ich habe eine Frau und einen Sohn, die ich beide liebe, und es hat kein Verhältnis mit dieser Melanie gegeben. Das alles ist eine Intrige von Sörensen. Er war mal hinter meiner Frau her, als wir noch nicht verheiratet waren. Ich habe mit ihm eine böse Auseinandersetzung gehabt, weil er Ute belästigt hat, und jetzt will er sich an mir rächen, weil ihm zufällig der Name Bernd Schmitt unter die Augen gekommen ist. Ich bin gewohnt, schnell und logisch zu denken. Ich bin Computerfachmann, aber ich werde herausbekommen, wie viel Bernd Schmitts es gibt.«

»Sehen wir es mal anders, Herr Schmitt«, sagte Dr. Ortmann. »Henrike Sontheim will die Zwillinge behalten. Sie ist jetzt sogar unbekannten Aufenthaltes mit ihnen, um Eventualitäten vorzubeugen. Sie hat mit Torsten Sörensen gebrochen, weil er die Kinder abschieben wollte. Und Sie können beweisen, dass Sie Melanie nicht kannten. Also ist für Sie diese Angelegenheit somit erledigt.«

»Nein, das ist sie nicht«, sagte Bernd und deutete auf das Bild. »Ich habe einen Doppelgänger und werde herausbringen, wer das ist. Man setzt nicht Kinder in die Welt und kümmert sich dann nicht um sie. Ich habe da andere Ehrbegriffe.«

»Melanie wollte nicht, dass der Vater damit belästigt wird«, sagte Dr. Ortmann. »Sie war eine außergewöhnliche Frau, und die Zukunft der Kinder ist gesichert. Ich glaube Ihnen, und will auch einräumen, dass Sörensen durch diese Ähnlichkeit irritiert wurde und deshalb diese rechtliche Angelegenheit in die Wege leitete. Sie mögen ihn nicht, ich mag ihn auch nicht, und ich bin froh, dass Henrike nicht seine Frau werden wird. Und für Henrike Sontheim ist es nur wichtig, dass ihr Bernd und Katja nicht genommen werden. Aber da Melanie dem Jungen den Namen Bernd gab, muss es einen Bernd in ihrem Leben gegeben haben. Vielleicht sind Sie ihr doch einmal zufällig begegnet und entsprachen dem Bild, das sie sich von einem Traummann machte.«

Bernd starrte ihn an. »So empfinde ich mich nicht. Ich bin durchaus nüchtern eingestellt, und für mich zählt nur meine Frau Ute und mein Sohn Tino. Und wie kommt diese Frau auf mein Geburtsdatum, das tatsächlich stimmt? Nein, da ist etwas faul und wird mir keine Ruhe lassen, bis das geklärt ist. Sehen Sie, Herr Dr. Ortmann, ich bin in einer Zeit geboren, in der alles drunter und drüber ging. Ich weiß davon nur von den Erzählungen meiner Tante. Mein Vater kam in den letzten Kriegstagen in Berlin ums Leben, meine Mutter brachte mich auf der Flucht zur Welt, in der Nähe von Hannover.«

Er versank in Schweigen. Dr. Ortmann hatte sich erhoben. »Sie sollten sich einmal ein Foto von Melanie anschauen«, sagte er.

Bernd schrak zusammen. »Ja, gern.«

Dann betrachtete er dieses Foto und schüttelte immer wieder den Kopf. »Nein, ich habe diese Frau nie gesehen«, sagte er. »Ein solches Gesicht vergisst man doch nicht.«

Und diese Worte waren für Dr. Ortmann ausschlaggebend, dass er Bernd Glauben schenkte.

»Wenn ich irgendwie behilflich sein kann, Sie können sich auf mich verlassen«, sagte er.

»Wo kann ich Sörensen finden?«, fragte Bernd.

Dr. Ortmann gab ihm die Adresse und die Telefonnummer. »Er wird aber tagsüber nicht zu erreichen sein«, sagte er.

»Ich muss mich jetzt auch erst um meine Frau und meinen Sohn kümmern. Ich danke Ihnen für Ihr Entgegenkommen. Sie werden wieder von mir hören, Herr Dr. Ortmann.«

»Ich wünsche Ihnen guten Erfolg«, sagte der Anwalt.

Und dann, als Bernd gegangen war, betrachtete er lange, immer wieder unter Kopfschütteln, Melanies Zeichnung.

*

Ute hatte indessen mit Tino einen Stadtbummel gemacht und ihm, entgegen ihrer sonstigen Erziehungsmethoden, alles gekauft, was er gern haben wollte. Nun, da er so früh aus dem Schlaf gerissen worden war, war er sofort eingeschlafen, als sie ins Hotel zurückgekommen waren.

Es war ein Hotel mit allem Komfort. Sie brauchten nicht mehr zu sparen, wie am Anfang ihrer Ehe. Sie hatte sich einen Mokka bringen lassen und machte es sich bequem.

Sie wurde nicht mehr von Zweifeln und Ängsten geplagt, da Bernd so zielstrebig, wie sie ihn kannte von Anfang an, den Unklarheiten zu Leibe rücken wollte. Er war niemals ein Zögerer gewesen, deswegen hatte er ihr auch von Anfang an gefallen.

Sie war als Auslandskorrespondentin in dem großen Werk beschäftigt gewesen, in das er dann als Werbefachmann eintrat. Aber sein Wirkungskreis war ihm bald zu eng geworden. Er wollte selbstständig sein. Er war zu kreativ, um sich auf sein Gebiet festzulegen. Und obgleich sie da auch zuerst Zweifel gehegt hatte, bekam sie bald den Beweis, wie energisch er seine Ziele verfolgte und bedacht er dennoch war, sich nicht auf ein zu großes Risiko einzulassen.

Ebenso war es dann auch gewesen, als er das Haus kaufte. Das könnten sie doch nicht schaffen, hatte sie gemeint. Ein paar Jahre kurztreten, dann ist es geschafft, hatte Bernd gesagt. Wenn wir erst in ein paar Jahren anfangen, sind die Grundstückspreise so gestiegen, dass wir uns schwerer tun. Ja, er hatte Weitblick, er hatte recht behalten. Schon längst waren sie von der großen Schuldenlast befreit und hatten sich nebenbei auch schon Rücklagen schaffen können.

Ja, sie hatte in den ersten Jahren fleißig mitgearbeitet und mitgespart, und sie nahm auch jetzt noch Bernd viele Dinge ab, die sonst eine zusätzliche Arbeitskraft erfordert hätten. Sie besorgte ihren Haushalt dazu allein, ohne dass Tino etwas zu entbehren brauchte.

Nun aber wanderten ihre Gedanken zu Torsten Sörensen, und ihr Gesicht überschattete sich. Was konnte diesen Mann bewegen, Bernd nach all den Jahren Knüppel zwischen die Beine werfen zu wollen?

Konnte es tatsächlich sein, dass er es nicht verwunden hatte, dass sie dem damals ärmeren Bernd den Vorzug gab? Aber sie hatte Torsten nie besonders gemocht. Sie war ein paarmal mit ihm ausgegangen, als sie Bernd noch nicht kannte. Torsten studierte damals noch in München. Er hatte Geld, ein flottes Auto, sah gut aus, und die Mädchen waren hinter ihm her. Aber er war ihr nachgestiegen und war sogar sehr zudringlich geworden, als sie dann Bernd schon kannte.

Man kann so was doch aber nicht aus der Luft greifen, dachte sie gerade, und da trat Bernd ein.

Ute sprang auf und umarmte ihn. »Jetzt hast du sicher Hunger«, sagte sie.

»Und viel zu erzählen«, erwiderte er. »Wo ist Tino?«

»Er schläft. Ich habe ihn sehr verwöhnt, ausnahmsweise mal, aber er konnte nicht damit fertig werden, dass der Papi mit uns in den Urlaub fährt und dann verschwindet.«

»Gut, dass er schläft, Liebes. Wir lassen uns das Essen raufbringen.«

»Die Speisenkarte liegt neben dem Telefon, falls du selbst bestellen willst, Schatz«, sagte sie.

»Bestell du, ich möchte duschen. Steaks mit Salaten. Eine Suppe vorher.«

»Und rote Grütze als Dessert«, lächelte Ute. »Die gibt es hier auch.«

»Wahrscheinlich nicht so gut wie die von Tante Hermine, aber wir können es ja probieren«, erwiderte Bernd.

Lange brauchten sie nicht zu warten. Bernd war gerade mit dem Duschen fertig. Auf dem Servierwagen, den der Zimmerkellner hereinschob, war alles appetitlich angerichtet, wie sie sich gleich überzeugen konnten, und während sie aßen, erzählte er.

Die Sache mit der Zeichnung hob er sich auf, bis sie fertig waren, aber er verschwieg sie nicht, und da wurden Utes Augen groß.

»Das ist allerdings wirklich ein dicker Hund«, sagte sie mit seinen eigenen Worten. »Du hattest doch keine Geschwister, Bernd?«

»Soviel ich weiß, nicht, aber Geschwister bekommen doch nicht den gleichen Namen«, sagte er.

Ute blickte nachdenklich vor sich hin. »Tante Hermine war manchmal so komisch, wenn ich sie ausfragen wollte«, sagte sie leise.

»Nun, diesmal werden wir sie ins Gebet nehmen. Einen Leihwagen habe ich schon beschafft. Morgen fahren wir zu ihr, aber vorher will ich noch mit Sörensen sprechen.«

»Willst du das nicht lieber mir überlassen?«, fragte Ute.

»Du hast Nerven, wieso dir?«

»Ich bringe vielleicht mehr aus ihm heraus«, sagte sie. »So durch die Hintertür, nicht gleich mit der Faust aufs Auge. Er braucht doch gar nicht zu wissen, dass du auch hier bist.«

»Was hast du dir da ausgedacht, Ute?«, fragte Bernd verwirrt.

»Wenn er eine Intrige inszeniert hat, komme ich ihm mit weiblicher Schläue. Du hast doch Vertrauen zu mir, Bernd?«

»Wenn du jetzt mir vertraust?«

»Du kannst nicht lügen«, sagte sie. »Aber du willst immer gleich mit dem Kopf durch die Wand, und Sörensen ist so einer, dem man nur mit Raffinesse beikommen kann.«

»Und du kannst raffiniert sein?«

»Wenn es sein muss, ja. Und es geht um uns, Schatz!« Sie dachte nach. »Ich weiß schon, wie ich es anfange. Du hast doch seine Telefonnummer?«

»Ja, aber Dr. Ortmann hat gesagt, dass er tagsüber nicht zu erreichen ist.«

»Probieren kann man es doch mal«, sagte sie. »Du kannst auch gleich mithören, was ich sage, wenn ich ihn erreiche.«

Und sie erreichte ihn. Dr. Ortmann hatte nicht wissen können, dass Torsten Sörensen ein paar Tage Urlaub genommen hatte, nachdem er in Erfahrung brachte, dass Henrike mit den Zwillingen weggefahren war.

Bernd ließ seine Frau nicht aus den Augen, als sie säuselte: »Torsten? Wie gut, dass ich dich erreiche. Erinnerst du dich noch an mich? Ute Reichwald, jetzt Schmitt.«

Pause, dann kicherte sie. »Ja, das ist eine Überraschung, aber ich bin gerade in Bremen, und mein Mann ist auf Geschäftsreise. Da ist mir ein Brief in die Hände gefallen, deshalb möchte ich mich mit dir unterhalten.« Pause, und sie blinzelte Bernd zu.

»Du wunderst dich? Nun, ich habe erfahren, dass du diese Angelegenheit in die Wege geleitet hast. Ich möchte gern Näheres wissen. Ja, natürlich können wir uns treffen. Im Hotel. Ich warte in der Halle. Gut, in einer Stunde.«

»Na, wie habe ich das gemacht?«, fragte sie schelmisch, als sie den Hörer aufgelegt hatte.

»Und wenn er sich jetzt erkundigt, ob du allein hier wohnst?«, fragte Bernd.

»Diskretion soll doch üblich sein«, erklärte sie. »Ich werde diesbezüglich sofort Schritte unternehmen, und du kümmerst dich um unseren Sohn. Ich muss mich auch noch ein bisschen flotter herrichten. Wie viel darf ich dafür spendieren?«

»Was du willst«, sagte er. »Aber lass dich ja nicht verführen.«

»Wofür hältst du mich?«, lächelte sie. »Wessen Schwierigkeiten will ich denn aus dem Wege räumen? Denk nur nicht, dass ich dich so leicht aufgegeben hätte, auch wenn das alles gestimmt hätte.« Sie küsste ihn. »Ich liebe dich nämlich, und wir werden in ein paar Monaten noch ein Kind haben.«

Er war starr vor Staunen. »Und das sagst du mir so nebenbei?«, ächzte er.

»Es wird noch mehr als sieben Monate dauern, mein lieber Mann, aber bis dahin muss alles geklärt sein.«

»So lange will ich nicht warten«, seufzte er.

»Musst du aber, sofern es nicht eine Frühgeburt wird.«

»Ich meine doch diese andere Sache. Aber du kannst wirklich ganz raffiniert sein, Utemädchen. Dass ich das jetzt erst merke.«

»Bis jetzt brauchte ich das ja nicht zu sein, da war alles in Ordnung. Aber es bringt Schwung in unsere Ehe, finde ich.«

»Du meine Güte, war es dir zu wenig Schwung?«

»Es war ein so schönes Gleichmaß«, sagte sie nachdenklich. »Eigentlich wurden wir nie auf die Probe gestellt. Im siebenten Jahr unserer Bekanntschaft musste doch eigentlich was passieren.«

»Aber verheiratet sind wir erst fünf Jahre«, stellte er fest.

»Es sollen wenigstens fünfzig werden«, erwiderte sie rasch und entschwand.

Für Tino war alles schrecklich aufregend. Erst war der Papi weg, nun die Mami. Aber der Papi ging dann mit ihm Eis essen, und das lenkte ihn ab.

Ute hatte sich indessen ganz schnell eine flotte Frisur fönen lassen. Im Hotel war man ja auf eilige Gäste eingestellt, und sie war dann auch rechtzeitig in der Hotelhalle. Misstrauisch schien Torsten nicht zu sein, denn Ute hatte auch erfahren, dass sich niemand nach ihnen erkundigt hätte.

Torsten kam auf sie zugesteuert, Selbstbewusstsein ausstrahlend wie damals.

»Du siehst ja blendend aus«, sagte er, nachdem er sie mit einem Handkuss begrüßt hatte.

»Hast du etwa eine gebrochene Frau erwartet?«, fragte sie. »Natürlich ist es nicht gerade beglückend, wenn man erfährt, dass der Ehemann Vater von unehelichen Zwillingen sein soll, aber umwerfen kann mich das nicht.«

»Ist es doch nicht so gelaufen, wie du erwartet hast?«, fragte Torsten hintergründig.

»Nun, immerhin hat Bernd eine tolle Position, und ich brauche mir in finanzieller Hinsicht keine Gedanken um die Zukunft zu machen, wie immer das auch ausgeht. Seltsam, dass wir uns durch diese undurchsichtige Geschichte wiedertreffen. Aber ich habe gedacht, jetzt packe ich den Stier bei den Hörnern. Allerdings war ich schon sehr überrascht, dass du dieses Ermittlungsverfahren in die Wege geleitet hast.«

»Aber nicht etwa, um dich in Konflikte zu bringen, Ute. Für mich war es auch ein Schock, als ich davon erfuhr.«

»Würdest du mir das ein bisschen genauer erzählen, Torsten?«, fragte sie mit einem schrägen Blick. »Du kanntest diese Melanie Sontheim schon länger?«

»Ich bin mit ihrer Cousine verlobt. Wir wollten heiraten, aber Henrike hatte sich in den Kopf gesetzt, für die Zwillinge zu sorgen, und das war mir dann offengestanden doch ein bisschen lästig. Du siehst, ich bin ganz offen, so leid es mir für dich auch tut, dass du einen Schock hinnehmen musstest.«

»Ach was, es war kein Schock. Ich habe Bernd so etwas nur nicht zugetraut. Schließlich kannten wir uns da schon. Kanntest du diese Melanie zu dieser Zeit auch schon?«

Damit brachte sie ihn ganz schön in Verlegenheit, und das hatte sie ja auch beabsichtigt.

»Ich kannte sie nur flüchtig«, sagte er. »Ich lernte sie erst näher kennen, als ich mich mit Henrike verlobte. Da waren die Zwillinge schon auf der Welt. Von dem Vater hat sie nie gesprochen. Sie war eine eigenartige Frau.«

»Woran ist sie gestorben?«, fragte Ute.

»Sie ist mit dem Auto verunglückt. Kurzschlussreaktion, als ihr ein Kind mit Hund vor den Wagen lief. Da habe ich mit Henrike den Nachlass geordnet. Du kannst dir meine Überraschung vorstellen, als ich bei ihr ein Bild von Bernd fand, gekennzeichnet mit seinem Geburtsdatum und dem Datum ihres Kennenlernens.«

»Und da wolltest du die Angelegenheit geklärt wissen«, sagte Ute lässig. »Ich bin dir dankbar dafür. Ich bin allerdings sehr gespannt, was Bernd dazu sagen wird, wenn er aus England zurück ist. Ich nehme an, er wird ein dummes Gesicht machen, wenn ich ihm erkläre, dass wir die Zwillinge zu uns nehmen werden.«

»Das würdest du tun, Ute?«, fragte Torsten fassungslos.

»Natürlich. Ich habe Kinder gern, und ich werde doch nicht einen Mann in die Wüste schicken, von dem ich alles haben kann«, erklärte sie mit einem frivolen Lächeln, das ihr sehr gut gelang.

»Du hast dich sehr verändert«, sagte Torsten, »aber du könntest doch auch noch eine viel bessere Partie machen, so, wie du ausschaust.«

Sie lehnte sich lässig zurück, und ihre Augen wurden schmal. So hatte sie das in manchen Filmen gesehen, in denen berechnende Frauen mitspielten.

»Mein lieber Torsten, wir haben auch einen Sohn«, sagte sie, »und Bernd würde nicht auf ihn verzichten. Außerdem habe ich schon erfahren, dass die Zwillinge finanziell abgesichert sind. Du bist doch auch kein Träumer. Mittlerweile bin ich auch fast dreißig, und ich werde nicht aufgeben, was wir gemeinsam geschaffen haben. Und außerdem denke ich sehr realistisch. Es könnte ja auch noch einen anderen Bernd Schmitt geben, der zufällig am gleichen Tag geboren ist. Es muss erst mal festgestellt werden, ob Bernd nicht einen Doppelgänger hat.«

»Du solltest dir das Bild anschauen. Er ist es, Ute. Mir ist es eiskalt über den Rücken gelaufen, das darfst du mir glauben.«

»Und wo kann ich dieses Bild sehen?«

»Das hat Henrike, aber sie ist verreist«, erwiderte er.

»Wohin?«

»Das weiß ich nicht.«

»Du weißt es nicht?«, fragte sie. »Du bist doch mit ihr verlobt.«

»Wir hatten Meinungsverschiedenheiten wegen der Zwillinge. Ich sehe nicht ein, dass Henrike diese Last auf sich nimmt.«

»Kinder sind keine Last. Sie sind ehrlicher als Männer«, sagte Ute kühl.

»Du scheinst doch schlechte Erfahrungen gemacht zu haben«, sagte er arrogant.

»Soeben. Bernd würde sich der Verantwortung nicht entziehen«, erklärte sie nun nicht nur kühl, sondern eisig. »Aber er kann der Vater der Kinder nicht sein.«

»Wieso denn nicht?«, fragte er. »Warum bist du denn plötzlich so sicher?«

»Das kannst du ihn ja selbst fragen«, sagte Ute. »Da kommt er. Ich muss mich um meinen Sohn kümmern.«

Nun war Torsten Sörensen der Wind aus den Segeln genommen, und er war augenblicklich um alle Fassung gebracht, als Bernd mit einem spöttischen Lächeln auf ihn zutrat. Es sah aus, als wollte Torsten die Flucht ergreifen.

»Fortsetzung unter Männern folgt«, sagte Bernd. »Nimm wieder Platz. Ich möchte sehr gern wissen, warum du mir das anhängen wolltest.«

»Das ist ein abgekartetes Spiel«, stieß Torsten hervor.

»Unter Eheleuten, die sich einig sind und keine Heimlichkeiten voreinander haben, ist alles erlaubt«, sagte Bernd.

»Nun gut, und Tatsachen sind nicht aus der Welt zu schaffen. Ich habe das Bild gesehen, das Melanie von dir gemalt hat.«

»Ich habe es auch gesehen«, sagte Bernd. »Es ist tatsächlich verblüffend ähnlich.«

»Du warst bei Henrike?«, fragte Torsten hastig. »Wo ist sie?«

»Das weiß ich nicht. Ich habe das Bild bei Dr. Ortmann gesehen. Aber ich kannte diese Frau nicht, und ich kann beweisen, wo ich war, als sie mit dem wirklichen Vater der Zwillinge zusammen war. Ich will dir zugutehalten, dass du auch das Opfer einer verblüffenden Ähnlichkeit wurdest, was aber keine Entschuldigung dafür ist, dass du Henrike Sontheim in den Rücken gefallen bist, da sie die Kinder ihrer Cousine doch gar nicht hergeben will. War es für dich nicht auch eine Gelegenheit, dich an mir zu rächen, weil ich Ute bekommen habe?«

»Ute interessiert mich nicht«, erklärte Torsten abfällig. »Sie hat eine blendende Schau abgezogen, das muss ich ihr zugestehen, aber ich habe ein anderes Idealbild von einer Frau.«

»Gefunden hast du sie anscheinend noch nicht«, sagte Bernd sarkastisch. »Den idealen Mann stellen sich charaktervolle Frauen wohl auch anders vor.«

Er war nicht mehr wütend wie damals. Er fühlte sich dem anderen überlegen, und das war er auch.

Aber so schnell gab Torsten nicht auf. »Dann such doch mal deinen Doppelgänger«, stieß er hervor.

»Das werde ich auch, und ich werde ihn finden«, sagte Bernd kühl. »Darauf kannst du dich verlassen. Aber ich möchte es nicht ungesagt sein lassen, dass es bezeichnend für dich ist, wie du dich verhalten hast.«

»Ich denke, wir haben uns nichts mehr zu sagen«, schleuderte ihm Torsten zornig ins Gesicht.

»Das glaube ich auch. Henrike Sontheim hat ja schon Konsequenzen gezogen.«

»Aber das letzte Wort in dieser Angelegenheit ist noch nicht gesprochen.«

»Gewiss nicht. Ich bin sehr gründlich. Ich möchte jetzt nämlich wissen, wo der Mann ist, der mir so ähnlich sieht und warum er meinen Namen missbraucht.«

»Na, dann such ihn«, sagte Torsten Sörensen und ging.

*

»Ich möchte lieber wieder heim, Mami«, sagte Tino. »Es gefällt mir gar nicht in Bremen.«

»Wir fahren morgen zu Tante Hermine«, erwiderte sie.

»Und dann fliegen wir gleich mit dem Flugzeug wieder zurück?«

»Nicht gleich«, gab sie ihm zur Antwort. »Jetzt sei nicht unzufrieden. Du hast doch so viel bekommen, Tino.«

»Lieber will ich nichts haben und immer mit euch zusammen sein«, sagte er leise. »Nicht mal bloß mit dir und dann wieder mit Papi.«

»Jetzt hast du uns beide«, sagte Ute, als sie Bernd kommen hörte. »Und dann gehen wir essen, und du darfst alles bestellen, was du magst.«

»Pfannkuchen«, sagte Tino.

»Erkundige dich doch mal, ob wir die bekommen können«, sagte Ute zu Bernd.

»Sonst mag ich bloß Nudelsuppe«, erklärte Tino.

»Nicht auch Schnitzel und Salat?«, fragte Bernd.

Auch damit erklärte sich Tino einverstanden, und das setzte auch Henrike den Zwillingen an diesem Abend vor. Sie waren bei herrlichem Wetter den ganzen Tag am Strand gewesen und hatten nur Brötchen gegessen. Jetzt stürzten sie sich mit Heißhunger auf ihr Lieblingsessen.

Gesund schauten sie aus, und fröhlich waren sie. Henrike war es gelungen, abzuschalten und an nichts mehr zu denken. Auf der schönen Insel fühlte sie sich sicher. Hier fuhren keine Autos herum, hier konnte man nur zu bestimmten Zeiten kommen und gehen. Sie war immer gern hier gewesen. Das kleine Häuschen gehörte ihr. Es machte nicht viel Mühe, es in Ordnung zu halten. Es war praktisch eingerichtet. Aber es hatte Telefon, und das läutete, als sie gerade mit dem Essen fertig waren.

»Hoffentlich ist es nicht Sörensen«, sagte Bernd.

»Der weiß doch nicht, dass wir hier sind«, erwiderte Henrike. Es konnte nur Arnold Ortmann sein.

Er war es. Und was er Henrike zu berichten hatte, stimmte sie nachdenklich. Sie brauchte nichts zu sagen. Onkel Arnold wusste, dass die Kinder in der Nähe waren.

»Das lässt hoffen«, sagte sie nur zum Schluss. »Du bleibst am Drücker.«

»An was für einem Drücker?«, fragte Bernd, der immer ein bisschen schneller war als seine Schwester.

»Es geht um Geschäftliches. Deswegen muss Onkel Arnold mich manchmal anrufen. Schöne Grüße soll ich euch sagen.«

»Onkel Arnold ist wirklich nett«, sagte Katja. »Aber Sörensen mögen wir nicht, das dürfen wir doch jetzt sagen, Ricky?«

»Das hättet ihr ruhig schon früher sagen können«, erwiderte sie.

»Bleiben wir lange hier?«, fragte Bernd.

»Sicher noch einige Zeit«, gab Henrike zur Antwort.

»Meinetwegen immer«, sagte Katja.

»Im Winter würde es euch ganz schön langweilig«, meinte Henrike.

»Doch nicht, wenn du da bist«, erwiderten sie wie aus einem Munde.

»Im Winter gehen wir in die Berge«, sagte Henrike. »Da wird es euch auch gefallen.«

»Schön«, sagte Katja andächtig.

»Da ist bestimmt viel Schnee, und wir können einen Schneemann bauen«, sagte Bernd.

»Und Skifahren«, sagte Henrike. »Das lernt ihr schnell, und es macht Spaß.«

»Aber wir müssen nächstes Jahr in die Schule gehen«, meinte Katja. »Wo werden wir denn in die Schule gehen, Ricky?«

»Das werden wir uns noch überlegen.«

»Nicht in Bremen?«, fragte Bernd.

»Woanders ist es auch schön«, erklärte Henrike. »Jetzt geht ihr ins Bett.«

»Müde sind wir ja auch«, murmelte Katja. »Willst du noch ferngucken?«

»Vielleicht.«

»Ist ja gut, kannst doch auch machen, was du willst«, meinte Bernd. »Wir können auch mal allein bleiben.«

»Nein, das nicht, niemals«, entfuhr es Henrike. »Das dürft ihr nicht denken, dass ich euch allein lasse.«

»Aber Melli ist abends auch mal weggegangen, das hat uns auch nichts ausgemacht«, sagte Katja schüchtern.

»Weil auch Mütter andere Gesellschaft brauchen«, fügte Bernd wichtig hinzu. »Ist doch klar, Ricky.«

»Ich brauche keine andere Gesellschaft«, sagte Henrike leise. »Ich habe euch sehr lieb. Ich möchte euch nie missen.«

»Weil du eben der beste Mensch auf der Welt bist«, sagte Bernd. »Der allerbeste.«

»Wir haben dich ja so lieb, Ri­ckymäuschen«, wisperte Katja. Henrike hielt die Kinder in den Armen. Ich gebe sie nie her, dachte sie. Ich werde um sie kämpfen bis zum Umfallen. Aber die Gefahr kommt ja nicht von diesem Bernd Schmitt, sie kommt von Sörensen. Und plötzlich erwachte ein wilder Hass in ihr gegen diesen Mann.

*

Auch Ute hatte eine Mordswut auf Sörensen im Leib, aber Bernd dämpfte sie.

»Wir müssen die Ruhe bewahren, Liebes«, sagte er. »Wenn er auch aus miesen Motiven gehandelt hat, er war überzeugt, dass ich dieser Bernd Schmitt bin. Er sieht mir zu ähnlich. Und das könnte doch eine Blutsverwandschaft sein. Vielleicht hatte mein Vater einen Bruder und der auch einen Sohn, den er Bernd nannte.«

»Und der sollte am gleichen Tag geboren sein wie du?«

»Braucht er doch nicht. Vielleicht hat er sich meine Daten aus irgendwelchen Motiven zunutze gemacht.«

»Aber Tante Hermine müsste das doch wissen«, sagte Ute. »Sie ist die Schwester deines Vaters.«

»Vielleicht gab es da ein schwarzes Schaf. Denken wir jetzt nicht mehr lange darüber nach. Morgen sind wir bei ihr. Und wenn wir ihr diese Geschichte erzählen, wird sie sicher sagen, was sie womöglich bisher verschweigen wollte.«

»Mir ist augenblicklich alles egal, wenn ich nur weiß, dass bei uns alles stimmt«, flüsterte sie.

»Da wird immer alles stimmen«, sagte er zärtlich. »Aufregen darfst du dich nicht, du musst an Tinos Schwesterchen denken.«

»Und wenn es wieder ein Junge wird?«, fragte sie.

»Ist auch egal. Aber er möchte lieber ein Schwesterchen. Ich habe ihn gefragt.«

»Wäre ja auch schön. Aber stell dir mal vor, wir würden auch Zwillinge kriegen.«

»Na, wenn schon«, murmelte er müde.

»Nordens haben auch zum Schluss Zwillinge bekommen.«

»Jetzt wird es ihnen aber auch reichen«, sagte Bernd. »Komm bloß nicht auf den Gedanken, die Zwillinge adoptieren zu wollen, wenn ich auch nicht der Vater bin.«

»Du hast doch gesagt, dass diese Henrike sie behalten will.«

»Weiß man, ob es wirklich stimmt? Schätzchen, ich bin müde. Ich will schlafen.«

Sie ließ ihn schlafen, aber sie lag noch lange wach. Am Morgen starteten sie gleich nach dem Frühstück. Tino war enttäuscht, dass sie nicht mit dem Flugzeug flogen, aber Bernd erklärte ihm, dass Hannover ja nicht weit sei, und Tante Hermine wohnte weit vor den Toren der Stadt, schon auf dem Lande.

Dort hatte Bernds Mutter nach einer langen Flucht ihn zur Welt gebracht, das hatte ihm Tante Hermine erzählt. Jetzt hatte dies plötzlich viel mehr Bedeutung für ihn bekommen.

Tante Hermine war siebzig Jahre alt und wahrhaft in Ehren ergraut. Sie hatte ihren Mann im Krieg verloren, ohne je Mutterfreuden genossen zu haben und hatte sich redlich durchs Leben geschlagen, bis Bernd ihr dann manche finanzielle Hilfe geben konnte.

Sie war Lehrerin an der Dorfschule gewesen und dazu noch Organistin, und so manches Dorfkind verdankte ihr mehr Bildung, als es Stadtkindern beschieden war.

Ihr gütiges Gesicht lächelte, als die junge Familie kam, und doch wurden ihre Augen feucht, als sie so herzlich umarmt wurde. Zärtlich betrachtete sie Tino.

»Bist schon ein großer Junge geworden«, sagte sie staunend. »Da merkt man, wie die Jahre vergehen.«

»Hier ist es viel schöner als in Bremen«, sagte Tino, da horchte Tante Hermine auf.

»Ihr wart schon in Bremen? Hattest du dort zu tun, Bernd?«, fragte sie.

»Nicht so direkt, aber wir müssen darüber sprechen, Tante Hermine.«

Tino verschwand bald von selbst, denn im Garten tummelten sich junge Kätzchen.

»Es ist etwas ganz Eigenartiges passiert, Tante Hermine«, begann Bernd stockend. »Ich scheine einen Doppelgänger zu haben, und da wollte ich dich fragen, ob es nicht doch noch andere Verwandte von uns gibt.«

Ute wunderte sich, dass ein schreckensvoller Ausdruck in Tante Hermines Augen kam, den Bernd aber nicht bemerkte, da er neben der alten Dame saß.

»Einen Doppelgänger, wie kommst du darauf?«, fragte Hermine unsicher.

»Wir werden es dir erzählen«, sagte Ute entschlossen. »Du kannst es ruhig wissen.«

Und dann erzählten sie abwechselnd, und Tante Hermine schien mehr und mehr in sich zusammenzuschrumpfen. Das gab Ute zu denken.

Eine Weile trat Schweigen ein, und Hermine kämpfte mit den Tränen. »So hat uns die Vergangenheit doch eingeholt«, flüsterte sie.

»Wie meinst du das?«, fragte Bernd ruhig. »Ich bitte dich herzlich, mir alles zu sagen, was du weißt, auch wenn es einen dunklen Punkt, ein sogenanntes schwarzes Schaf in unserer Familie geben sollte.«

»So ist es ganz gewiss nicht«, sagte Hermine tonlos. »Wir sprechen am Abend darüber, wenn Tino schläft.«

So lange mussten sie sich also gedulden, aber sie waren auch der Ansicht, dass Tino nichts mitzubekommen brauchte, denn gerade das, was er nicht hören sollte, hörte er doch, und dann begannen die Fragen.

Aber nach dem Essen, das auch ganz nach seinem Geschmack war, denn es gab Pfannkuchen, die Tante Hermine einmalig gut zu backen verstand, und dazu selbstgemachtes Apfelmus.

So schön ruhig war es hier, und es duftete nach frisch gemähtem Gras und Jasmin. Tino schlief bald ein.

»Er ist ein braves Kind, wie es Bernd auch war«, sagte Tante Hermine. Und nun warteten Bernd und Ute auf das, was sie so gern erfahren wollten, doch Tante Hermine fiel es nicht leicht, einen Anfang zu finden.

»Ihr könnt euch ja nicht vorstellen, wie es damals zuging«, begann sie stockend. »Die Städte waren zerbombt, die Leute mussten evakuiert werden. Ich war hier noch einigermaßen gut davongekommen, aber für mich blieb auch kaum Platz, weil ich auch Flüchtlinge aufnehmen musste, und dabei wartete ich doch auf deine Eltern, Bernd. Ich hoffte so sehr, dass sie noch aus Berlin herauskommen würden. Aber dann kam Marlene allein mit einem Treck. Es war kurz vor Weihnachten, und sie war hochschwanger. Mein Haus war voll, aber ein paar Kilometer entfernt auf dem Gut, das von den anderen Schmitts bewirtschaftet wurde, war doch noch ein Platz frei.«

»Das waren Verwandte?«, fragte Bernd.

»Ganz entfernte. Der Henning, der Sohn, war in Gefangenschaft, aber seine Frau, die Helga, hat sich sehr um deine Mutter gekümmert. Sie hatte auch ihren Kummer, weil sie eine Fehlgeburt erlitten hatte, als die Nachricht gekommen war, dass Henning verwundet in Gefangenschaft geraten war. Ja, es waren schlimme Zeiten. Und es war ein eiskalter Tag, an dem Marlene niederkam.«

»Am 4. Februar 1945«, warf Ute leise ein. Hermine nickte. »Wir wussten schon, dass der Krieg verloren war, wir sahen das ganze Elend vor uns, das nun auf uns zukommen würde. Und da waren zwei kleine Kinder.« Sie schluchzte trocken auf.

»Zwei Kinder?«, fragte Bernd atemlos.

»Ja, Marlene brachte Zwillinge zur Welt, zwei Jungen, Bernd und Björn. Ihr wurdet notgetauft, weil keiner glaubte, dass ihr überleben würdet. Marlene hat es nicht überlebt, weil dann auch noch die Nachricht kam, dass die Russen schon in Berlin waren. Und da ist dein Vater umgekommen, euer Vater, muss ich sagen. Gott möge mir verzeihen, aber ich habe es Helga geschworen, dass ich schweigen werde. Es ging ja alles drunter und drüber, und viele Kinder gingen verloren, und ihr hattet ja keine Eltern mehr. Und dann wurden auf dem Gut die Besatzungssoldaten einquartiert, und Helga musste auch fort. Sie ging zu ihren Eltern, die nahe bei Holland wohnten, und sie nahm deinen Zwillingsbruder mit. Sie hat gesagt, dass sie ihn als ihr Kind ausgeben will, und so hättet ihr vielleicht beide eine Chance zum Überleben. Du bist bei mir geblieben, und es war wahrhaft nicht leicht, dich am Leben zu erhalten in dieser Lage. Zwei hätte ich nicht durchbringen können und Helga wohl auch nicht. Ich habe gebetet, dass ihr eines Tages doch noch zusammenkommen würdet, aber es dauerte zu lange, bis sich die Zeiten normalisierten. Und dann bekam ich die Nachricht, dass Henning nach Kanada ausgewandert war und Helga nachgeholt hatte. Das Kind nahm sie mit. Henning war der Meinung, dass es sein Sohn sei. Helga hatte sich andere Papiere verschafft für den Kleinen. Auch das war damals möglich, wenn man Beziehungen hatte.«

»Ich hatte also einen Zwillingsbruder«, sagte Bernd gedankenvoll. »Aber er sollte doch wohl Björn heißen, wie du sagtest.«

Hermine starrte vor sich hin. »Ich weiß nicht, auf welchen Namen sich Helga die Geburtsurkunde verschafft hat. Ich weiß gar nichts. Sie wollte den Jungen nicht mehr hergeben, das habe ich auch noch verstanden, aber dass nun, nach so vielen Jahren, so was nachkommen könnte, damit habe ich doch nicht rechnen können.«

»Wir machen dir keinen Vorwurf, liebe Tante Hermine«, sagte Ute begütigend, als die alte Dame bitterlich weinte. »Wenn dieser andere Bernd Schmitt in die Heimat zurückgekehrt ist, wird sich doch eine Spur finden lassen.«

»Helgas Eltern sind inzwischen gestorben, die Schmitts vom Gut auch. Es ist in anderen Händen. Roggendorf heißen sie, aber ich kenne sie nicht näher. Sollen alles gut in Schwung haben.«

»Weißt du, wo Henning Schmitt in Kanada Fuß gefasst hat?«, fragte Bernd.

»Nein, ich hab’ mich auch nicht darum gekümmert. Ich hab’ dann immer gedacht, wenn der Bernd etwas erfährt, womit ich dich gemeint habe, dann will er von der Tante Hermine nichts mehr wissen.«

»Das brauchst du nicht zu denken«, sagte Bernd. Er versank für ein paar Minuten in Schweigen. »Ob er weiß, dass er einen Zwillingsbruder hat?«

»Ich glaube nicht, dass Helga was verraten hat, und ob sie noch lebt, weiß ich auch nicht«, sagte Tante Hermine.

»Vielleicht hat der andere Bernd hier mal einen Urlaub verbracht, um die Heimat seiner Eltern, seiner angeblichen Eltern, kennenzulernen«, sagte Ute gedankenvoll. »Und da hat er Melanie Sontheim kennengelernt. Wir müssen uns wohl in Geduld fassen, Bernd, bis wir die Wahrheit herausgefunden haben.«

»Ich habe auch Verbindungen nach Kanada«, sagte Bernd. »Ich werde schon herausfinden, was aus Henning und Helga Schmitt geworden ist.«

»Immerhin scheint es klar zu sein, dass er der Vater der Zwillinge ist«, stellte Ute fest. »Er ist schließlich auch ein Zwilling, und das soll sich doch wiederholen. Meine Güte, wenn ich nun auch noch Zwillinge bekommen würde, dann hättet ihr wenigstens das gemeinsam.«

»Du hast Humor«, sagte Bernd rau.

»Den werde wir jetzt auch brauchen«, sagte Ute.

Tante Hermine blickte sie verwirrt an. »Du erwartest was Kleines?«, fragte sie stockend.

»Mit einiger Sicherheit«, erwiderte Ute.

»Und dann solche Aufregungen«, seufzte die alte Dame.

»Jetzt rege ich mich nicht mehr auf«, sagte Ute heiter.

Tante Hermine ließ sich beruhigen, und nun wurde noch viel von der Vergangenheit gesprochen, von den guten Zeiten, und von den schweren. Sie hatte ja schon zwei Kriege erlebt, wenngleich sie im ersten noch ein Kind gewesen war, aber auch daran konnte sie sich noch erinnern.

»Wollen wir nur hoffen, dass ihr das nicht mitmachen müsst«, sagte sie leise.

*

Am nächsten Tag machten Bernd, Ute und Tino einen Ausflug zum Gut der Schmitts, das jetzt den Roggendorfs gehörte. Es war ein ganz hübscher Marsch zu Fuß.

»Wenn ich so darüber nachdenke, welche irrsinnigen Strecken damals die Menschen auf der Flucht zu Fuß zurücklegen mussten, kann man sich nur wundern, dass nicht noch mehr gestorben sind«, sagte Ute gedankenvoll.

»Der Überlebenswille war wohl stärker«, sagte Bernd. »Und sie waren nicht so verwöhnt wie wir.«

Auf Gut Roggendorf wurden sie mit einigem Staunen empfangen, als Bernd erklärte, dass früher hier Verwandte von ihm gewohnt hatten.

»Aber Sie waren doch schon mal hier«, sagte Malte Roggendorf, der um ein paar Jahre älter sein mochte als Bernd. Er schien sichtlich verwirrt.

»Das war dann ja wohl mein Zwillingsbruder«, erklärte Bernd geistesgegenwärtig. »Wann war er hier?«

»Das ist schon ein paar Jahre her«, sagte Frau Roggendorf, »ich muss mal überlegen. Ja, so an die fünf bis sechs Jahre muss es her sein. Er hat nicht gesagt, dass es noch einen Erben gibt.«

»Einen Erben?«, fragte Bernd.

»Wegen des Gutes. Wir haben es rechtmäßig erworben und er hat den Kaufpreis bekommen. Guter Gott, stimmt da was nicht?«

»Doch, doch«, erwiderte Bernd hastig. »Es stimmt alles.« Er tauschte einen langen Blick mit Ute, und dann sagte er: »Sehen Sie, es ist schwer zu erklären, aber mein Bruder und ich wurden durch den Krieg auseinandergerissen, und ich habe jetzt erst erfahren, dass er noch lebt. Und nun forschen wir nach ihm.«

»Was es auch so alles gibt«, sagte Malte Roggendorf kopfschüttelnd. »Nach so vielen Jahren. Er war ein sehr netter Mann, hat sich bedankt bei uns, dass alles so in Ordnung ist, aber er musste zurück nach Kanada, weil er die Nachricht bekommen hatte, dass seine Mutter gestorben ist.«

»Das muss doch wohl auch Ihre Mutter gewesen sein?«, sagte Frau Roggendorf verwirrt.

»Nein, ich bin zu einer Pflegemutter gekommen. Es ist sehr schwierig zu erklären, es wäre interessant für mich zu erfahren, was Sie über meinen Bruder wissen.«

»Er hat Geld, ganz sicher. Er hat gesagt, dass sie in Montreal leben. Der Vater ist schon vor ein paar Jahren an einer alten Kriegsverletzung gestorben.«

»Er hat aber auch davon gesprochen, dass er gern hier leben würde«, sagte Frau Roggendorf. »Auf Sylt muss es ihm gut gefallen haben. Da hat er gerade einen Urlaub verbracht.«

Sie hatten mehr erfahren, als zu hoffen gewesen war. Sie wurden auch noch gastfreundlich bewirtet, bevor sie den Heimweg antraten, und Malte Roggendorf bat darum, ihnen doch Nachricht zu geben, wenn die Brüder einander gefunden hätten.

Sie konnten dann auch Tante Hermine viel erzählen. »Ich frage mich nur, warum er dich nicht besucht hat«, sagte Bernd nachdenklich, »da er doch in der Gegend war.«

»Wahrscheinlich herrschte über mich Schweigen«, meinte Hermine. »Bedenkt doch, dass Helga deinen Bruder als ihr Kind ausgegeben hat. Wie das mit dem Gut rechtlich abgewickelt wurde, weiß ich auch nicht. Dass Henning Anspruch darauf hatte, ist mir schon klar. Jedenfalls scheint es Björn leichter gehabt zu haben als du.«

»Ich bin zufrieden, Tante Hermine. Du hast sehr viel für mich getan. Ich beneide Björn nicht, jetzt schon gar nicht, da es ja wieder mal um die Zukunft von Zwillingen geht.«

Diese Zwillinge waren ahnungslos und genossen wunderschöne Tage mit ihrer geliebten Ricky, bis diese dann von Dr. Ortmann die Nachricht bekam, dass sich völlig neue Aspekte ergeben hätten, die sehr zu beachten wären. Und als Henrike die Einzelheiten darüber erfuhr, entschloss sie sich, mit den Zwillingen nach München zu fahren.

*

Bernd war mit seiner Familie zurückgeflogen. Tante Hermine hatte sich überreden lassen, sie zu begleiten. Von seinem Büro aus und mit all seinen Verbindungen war es für ihn einfacher, die Nachforschungen nach seinem Zwillingsbruder einzuleiten.

Mit Dr. Ortmann hatte er schon lange Telefonate geführt, und der Anwalt hatte ihm auch mitgeteilt, dass Henrike Sontheim ihn aufsuchen würde.

Diesem Besuch sah allerdings auch Ute mit Spannung entgegen. Dass sie die Zwillinge mitbringen würde, damit hatten sie jedoch nicht gerechnet.

Und da waren sie dann doch zuerst mal sprachlos, denn Bernd und Katja hatten mit Tino eine so unwahrscheinliche Ähnlichkeit, dass allen der Atem stockte.

Den Kindern wurde das zum Glück nicht bewusst. Tino fand es herrlich, dass er Spielgefährten bekam, und Tante Hermine tat alles, um die Kinder bestens zu versorgen, damit Bernd und Ute ungestört mit Henrike sprechen konnten.

Da Henrike von Dr. Ortmann weitgehendst informiert worden war, kamen bei ihr keine Zweifel mehr auf.

»Da sind wir aber allesamt in eine heikle Situation geraten«, sagte sie in ihrer herzerfrischenden natürlichen Art, die sie so gewinnend machte.

»Wenn die Kinder auch vorerst keinen Vater bekommen, der Ansprüche geltend macht, so haben sie jetzt doch einen Onkel, der gern bereit ist, Sie zu unterstützen, Frau Sontheim.«

»Machen wir es doch nicht so formell«, sagte Henrike. »Wir sitzen in einem Boot, und zumindest finanzielle Unterstützung brauche ich nicht. Ich will die Kinder behalten, deswegen habe ich mich ja auch mit Sörensen überworfen. Dieser hinterhältige Bursche soll mir bloß nicht mehr unter die Augen kommen.«

»Wir haben ihm schon den Marsch geblasen«, sagte Ute, auf Henrikes Ton eingehend. Sie waren sich sympathisch, und nun saßen sie tatsächlich in einem Boot.

Henrike erfuhr nun aus erster Hand, wie Torsten Sörensen zu dem Entschluss gekommen war, das Vormundschaftsgericht einzuschalten.

»Es ist jedenfalls begreiflich, dass er annehmen musste, ich sei jener Mann in Melanie Sontheims Leben gewesen«, sagte Bernd.

»Die Ähnlichkeit ist verblüffend«, stellte Henrike fest, »aber ein Entschuldigungsgrund für seine Hinterhältigkeit ist es nicht. Hätte er mit mir gesprochen, sich mit mir auseinandergesetzt, hätte ich ihm noch ein gewisses Verständnis entgegengebracht, aber das ist vergessen. Ich habe sein wahres Gesicht kennengelernt, und bin sehr froh, dass ich mich für die Kinder entschieden habe, und dabei bleibt es, auch wenn der richtige Vater auftaucht.«

Das war eine Frau, die wusste, was sie wollte. So wurde sie auch von Bernd und Ute begriffen und akzeptiert.

Indessen hatte Katja die Ähnlichkeit zwischen den beiden Buben doch festgestellt.

»Das ist toll«, sagte sie staunend, die Hände auf die Hüften stützend.

»Was ist toll?«, fragte Bernd.

»Du siehst genauso aus wie Tino, nur ein bisschen größer«, erklärte sie. »Guckt doch mal in den Spiegel, ich sag es Ricky.«

Zum Glück war Ricky nicht auf den Mund gefallen. »Ja, solche Ähnlichkeiten gibt es«, erklärte sie.

»Und Bernd heißt genauso wie Tinos Papi«, sagte Katja, die diesmal schneller war als ihr Bruder.

»Ich bin euer Onkel«, sagte Bernd.

Skeptisch wurde er gemustert. »Ein richtiger Onkel?«, fragte Bernd.

»Ein richtiger Onkel«, bestätigte Bernd.

»Wir hatten aber nie einen Vater«, sagte der kleine Bernd, »und wir brauchen auch keinen, weil wir Ricky haben.«

Katja legte ihr Köpfchen schief. »Ich finde Onkel Bernd aber nett«, sagte sie, »und seine Ute auch, und Tante Hermine ist fast wie eine Oma. Du brauchst gar nicht bockig zu sein, Bernd. Onkel Bernd kann Ricky doch nicht heiraten, weil er schon eine Frau hat.«

An Tino ging alles noch ein bisschen vorbei. Er hatte nur begriffen, dass sein Papi sich als Onkel bezeichnet hatte.

»Bist du wirklich ein richtiger Onkel, Papi?«, fragte er.

»Ich hoffe sehr, dass ich dazu tauge«, sagte er lächelnd.

»Und ich finde es sehr gut, dass ihr solchen Onkel habt, dann kann uns Sörensen nicht mehr in die Quere kommen«, sagte Henrike spontan.

»So ein Ekel«, knurrte Bernd.

»Recht hast du«, sagte der große Bernd. »Aber wir werden uns bestimmt verstehen. Wir würden uns freuen, wenn ihr ein paar Tage bei uns bleiben würdet.«

»Ricky auch?«, fragte Katja, während Tino das schon begeistert bejubelte.

»Ricky natürlich auch«, sagte Ute.

»So viele Betten haben wir aber nicht, Mami«, sagte Tino.

»Die besorgen wir.«

»Ich kann ja wieder heimfahren«, schlug Tante Hermine vor.

»Nein, du bleibst auch«, sagte Ute. »Da soll sich mal Dr. Norden um ihr offenes Bein kümmern.«

*

Und so erfuhr auch Dr. Norden bald, dass das Haus bei den Schmitts voll war, und da er die Vorgeschichte kannte, freute er sich, dass es keine größeren Probleme mehr gab.

Mit Tante Hermine musste er jedenfalls ein ernstes Wort reden, denn sie hatte sich um das offene Bein nie gekümmert, sondern sich nur mit Hausmittelchen über die Schmerzen hinweggeholfen.

Sie meinte, dass sie nun alt genug sei, um nicht mehr groß was für ihre Gesundheit zu tun, aber das wurde ihr schnell ausgeredet, und eigentlich fand sie es ja auch sehr schön, wie sich jetzt alles entwickelte. Aber während die anderen ganz realistisch die Tatsachen angingen, blieb in ihr die Sorge, dass Bernds Zwillingsbruder sich eben doch ganz anders entwickelt haben könnte, da sie ohnehin der Meinung war, dass Geld den Charakter verderbe.

Bernd hatte nun schon alles in die Wege geleitet, um seinen Zwilling zu finden. Und es vergingen nur zwei Tage, dass er über die Vergangenheit der Familie Henning Schmitt konkrete Daten bekam. Dass dies einen Haufen Geld kostete, sollte ihn nicht stören. Henrike hatte sich von vornherein bereit erklärt, die Kosten mitzutragen. Sie hätte sie auch allein übernommen, aber damit war Bernd doch nicht einverstanden gewesen, obgleich er nun ungefähr wusste, welches Vermögen hinter Henrike stand. Schließlich ging es um seinen Zwillingsbruder, der aller Wahrscheinlichkeit doch noch keine Ahnung hatte, dass er einen solchen besaß.

Henning Schmitt hatte in Kanada rasch seinen Weg gemacht. Er hatte keine Arbeit gescheut, als Holzfäller gearbeitet und Land erworben. Dann war er in die Papierindustrie eingestiegen, und hatte auch das Glück gehabt, Land zu erwerben, auf dem Uran gefunden wurde.

Als er seine Frau holte, hatte er ein kleines Häuschen, schon einige Jahre später gehörte ihm eine Fabrik und eine Villa in Montreal. Der einzige Sohn Bernd hatte in Amerika studiert und dort den Doktortitel erworben. Er galt als Experte in der holzverarbeitenden Industrie, und Bernd konnte auch lesen, dass er als Alleinerbe von Henning Schmitt als vielfacher Millionär galt.

»Ist er verheiratet?«, war Henrikes erste Frage, nachdem er sehr aufmerksamen Zuhörerinnen diesen Bericht vorgelesen hatte.

»Das steht nicht drin«, sagte Bernd. »Jedenfalls haben die Zwillinge einen sehr reichen Vater.«

»Das interessiert mich nicht«, sagte Henrike. »Ich will, dass mir das Sorgerecht zugesprochen wird und dass daran nicht mehr zu rütteln ist. Ihr versteht das hoffentlich.«

»Und du solltest verstehen, dass ich meinen Bruder kennenlernen möchte, Ricky«, sagte Bernd. »Wie er sich verhält, ist mir egal. Ich will nichts von ihm, aber da ich weiß, dass ich einen Zwillingsbruder habe, möchte ich ihn auch einmal sehen.«

»Doch, ja, das verstehe ich«, sagte Henrike leise. »Ich würde das auch wollen.«

Tante Hermine wischte sich wieder Tränen aus den Augen. »Sie hatten doch die gleichen Eltern«, flüsterte sie. »Und wenn die am Leben geblieben wären, hätten sie gute Eltern gehabt.«

»Ich werde nach Montreal fliegen«, erklärte Bernd.

Henrike sprang auf. »Nein, ich werde fliegen. Was meinst du, was es da geben würde, wenn ein zweiter Bernd Schmitt auftritt. Du könntest gewaltige Schwierigkeiten bekommen, Bernd. Außerdem darf sich Ute nicht aufregen. Ihr müsst jetzt auch an euer Baby denken. Ich kann das doch viel besser. Mich kennt er nicht. Ich spreche englisch und französisch, und außerdem wollte ich immer mal nach Kanada.«

»Mit den Zwillingen?«, fragte Ute.

Henrike wurde verlegen. »Das geht doch nicht«, sagte sie leise.

»Käme auch gar nicht infrage«, erklärte Ute. »Bernd und Katja bleiben bei uns. Sie haben sich doch eingewöhnt und werden es sicher verstehen, dass du mal dringende Angelegenheiten erledigen musst. Ja, ich finde, dass es so am besten wäre.«

»Fragt sich nur, ob die Zwillinge einverstanden sind«, meinte Bernd.

Aber sie zeigten sich sehr zugänglich. Sie fragten nur, ob Ricky bestimmt bald wiederkommen würde.

»Aber ganz bestimmt und so schnell wie möglich«, versicherte sie.

»Aber du triffst nicht Sörensen?«, fragte der kleine Bernd.

»Gott bewahre«, erwiderte Henrike.

»Onkel Arnold?«, fragte Katja.

»Ja, den treffe ich.«

»Dann sag ihm, dass es uns gut gefällt bei Onkel Bernd und Tante Ute.«

Nach einer langen, sehr ernsten Unterredung mit Dr. Ortmann trat Henrike dann die große Reise von London aus an.

Dr. Ortmann hatte ihr noch einmal eindringlich gesagt, dass es keine Beweise gab, dass der andere Bernd Schmitt der Vater der Zwillinge sei, falls er dies leugnen würde. Demzufolge solle sie diplomatisch vorgehen. Er wusste, wie impulsiv sie sein konnte, wie schnell ihr manchmal der Gaul durchging.

Henrike war eine selbstbewusste junge Frau, und es waren gewiss keine leidenschaftlichen Gefühle gewesen, die sie für Torsten Sörensen empfunden hatte. Er war das für sie gewesen, was man als einen adäquaten Partner bezeichnete. In gewisser Weise hatte sie tatsächlich sehr viel Ähnlichkeit mit Melanie.

Auf dem Flug nach Kanada hätte Henrike gut und gerne wenigstens fünf Bekanntschaften mit adäquaten Männern schließen können, aber sie war umhüllt von eisiger Abwehr. Nach der Landung in Montreal ließ sie sich sogleich von einem Taxi ins Hotel bringen, um sich auszuruhen und sich nochmals zu überlegen, wie sie es anfangen sollte, Bernd Schmitt, diesem Bernd, näherzukommen.

Wie bekannt er war, erfuhr sie rasch, aber ebenso, dass es außerordentlich schwierig sei, einen Termin mit ihm zu vereinbaren. Zurzeit sei er eine Woche in Vancouver, wo er auch zwei Vorträge über weltwirtschaftliche Probleme halten würde.

Kurz entschlossen flog Henrike nach Vancouver, und sie bewies ihre Überzeugungsstärke, indem es ihr gelang, sich Zutritt zu dem zweiten Vortrag zu verschaffen, nachdem sie nicht in Erfahrung bringen konnte, wo Bernd Schmitt hier wohnte.

Unruhevoll fieberte sie diesem Vortrag entgegen, denn einen ganzen Tag hatte sie noch Zeit bis zu diesem Abend.

Und sosehr sie sich auch darauf vorbereitet hatte, sie konnte es nicht verhindern, dass ihr Herz bis zum Halse schlug, als sie dann den Saal betrat und jenen Bernd Schmitt zum ersten Mal sah.

Im ersten Augenblick raubte ihr die Ähnlichkeit mit dem anderen Bernd tatsächlich den Atem, dann aber bemerkte sie, dass er älter aussah, dass schon viele grauen Fäden sein dunkles Haar durchzogen, dass er auch eine Brille brauchte, um sein Manuskript zu lesen.

Seine Stimme war angenehm dunkel, und was er vortrug, gefiel Henrike. Aber unentwegt überlegte sie, wie sie seine Bekanntschaft machen könnte. Und das ergab sich dann zu ihrer Überraschung fast von selbst.

Sie war nach vorn gegangen, als er seinen Vortrag beendet hatte. Er wurde umlagert und befragt, und sie spürte, dass ihm das nicht gefiel. Er blickte plötzlich auf und in ihre Richtung. Dann war es ihr, als würde auch ihm der Atem stocken.

Er nahm seine Brille ab und fuhr sich mit dem Taschentuch über die Augen. Sie hörte ihn deutlich sagen, dass er jetzt keine Zeit mehr hätte.

Aber er ging nicht, er kam auf sie zu, und sie stand wie festgewurzelt.

»Wer sind Sie?«, fragte er rau. »Ihr Gesicht kommt mir sehr bekannt vor.«

Henrike rang nach Atem. Ihr war plötzlich die Kehle eng, da begriff sie, dass es zwischen ihr und Melanie wohl doch eine deutliche Ähnlichkeit geben musste.

»Ich heiße Henrike Sontheim«, sagte sie beklommen.

»Kommen Sie«, sagte er und umfasste mit hartem Griff ihren Arm. »Wir können hier nicht miteinander reden.«

Er drängte sie hinaus, wehrte noch Zurufe ab, führte sie zu einem schnittigen Wagen, und dann saß sie auch schon neben ihm.

»Der Name Sontheim sagt mir nichts, aber Ihr Gesicht – es ist ein mir vertrautes Gesicht«, murmelte er.

Henrike wusste jetzt nicht, was sie sagen sollte. Sie zitterte.

»Sagen Sie doch etwas«, drängte er. »Wo kommen Sie her?«

»Aus München, aus Bremen«, stotterte sie. »Ihretwegen«, fügte sie dann aber ruhiger hinzu.

»Warum meinetwegen?«

»Wenn Sie den Namen Sontheim nicht kennen, dann vielleicht den Namen Meta Niemand?«

Er trat auf die Bremse. Er warf ihr einen Seitenblick zu. »Wir fahren zu mir«, sagte er heiser. »Ja, der Name Meta Niemand ist mir bekannt. Und ich suche sie seit sechs Jahren.«

Er ist es, es gibt keinen Zweifel, dachte Henrike, und dann erwachte plötzlich eine höllische Angst in ihr, dass ihr dieser Mann doch die Zwillinge nehmen könnte.

Er hielt vor einer prächtigen Villa an. Ein Butler erschien.

»Richten Sie ein Essen, Ben«, sagte Bernd Schmitt, »ich möchte dann nicht mehr gestört werden.«

Der Butler, so konsterniert er auch Henrike betrachtet hatte, verschwand mit einer Verbeugung.

»Wo ist Meta?«, fragte Bernd ganz direkt, als sie allein waren.

Henrike rang nach Fassung. Ihre schmalen Hände umklammerten einen hochlehnigen Sessel.

»Sie lebt nicht mehr«, erwiderte sie leise.

Sein blasses Gesicht erstarrte zu einer steinernen Maske. Er wandte sich ab. »Bitte, entschuldigen Sie mich einen Augenblick«, stieß er tonlos hervor.

Es vergingen Minuten, bis er zurückkam. Henrike gewann Zeit, sich zu fangen. Ihre Gedanken überstürzten sich. Er ist erschüttert, ging es ihr durch den Sinn. Er muss sie geliebt haben.

Sie hatte sich gesetzt, die Hände ineinander verschlungen, und als er sich ihr gegenübersetzte, blickte sie nicht auf.

»Erzählen Sie«, bat er tonlos.

»Es ist eine lange, rätselhafte Geschichte«, flüsterte sie. »Ich weiß nicht, wie ich beginnen soll.«

»Sie hat von mir erzählt?«, fragte er.

»Nicht viel. Melanie Sontheim war meine Cousine. Sie war Kunstmalerin und machte Illustrationen unter dem Namen Meta Niemand. Sie ist im Januar tödlich verunglückt.«

»Wie?«, fragte er.

»Ein Kind mit einem Hund liefen ihr vor den Wagen, sie wich aus und fuhr gegen einen Baum.«

»O Gott«, murmelte er, »aber sie liebte Kinder. Wenn sie etwas wirklich liebte, waren es Kinder. Ich habe sie beobachtet, wenn sie Kinder malte.«

»Wo?«, fragte Henrike.

»Auf Sylt, ja, ich lernte sie auf Sylt kennen.«

»Sie waren also dort«, sagte Henrike. »In ihrem Nachlass befand sich eine Bleistiftzeichnung von Ihnen. Da waren zwei Daten angegeben, auch der Name Bernd Schmitt.«

»Welche Daten?«, fragte er.

»Der 4. Februar 1945 und der 20. August 1976. Ich nehme jetzt an, dass das erste Datum Ihr Geburtstag ist.«

Er nickte. »Ich habe es ihr gesagt, weil sie es wissen wollte. Am 20. August fragte ich sie, ob sie meine Frau werden will. Sie sagte, dass sie sich so etwas reiflich überlegen müsse. Es läge ihr nichts an einer festen Bindung.« Er versank in Schweigen.

Nun blickte Henrike auf. »Und dann?«, fragte sie.

»Ich musste noch etwas in der alten Heimat meiner Eltern erledigen und bat sie, es sich zu überlegen, bis ich nach Sylt zurückkäme. Sie wollte noch einige Wochen dort verbringen, aber als ich zurückkam, war sie nicht mehr da. Ich habe versucht, ihren Aufenthaltsort zu erfahren, aber niemand konnte mir etwas sagen.«

»Und Sie waren indessen in der Nähe von Hannover«, sagte Henrike. »Auf dem jetzigen Gut Roggendorf.«

Er sprang auf. »Woher wissen Sie das?«, fragte er atemlos.

»Recherchen. Es ist ein Zufall, dass ich auf Ihren Namen kam, da es noch einen anderen Bernd Schmitt gibt, der Ihnen aber zufällig oder auch nicht zum Verwechseln ähnlich sieht.«

Sie hatte es so formuliert, um die Wirkung auf ihn beobachten zu können. Und da malte sich grenzenlose Verblüffung auf seinem schmalen Gesicht.

»Der mir zum Verwechseln ähnlich sieht?«, wiederholte er konsterniert.

»Ja. Dieser Bernd Schmitt lebt in München, ist glücklich verheiratet und hat einen dreijährigen Sohn.«

Er starrte sie an. Er stand jetzt dicht vor ihr. »Und Sie meinen, dass Meta oder Melanie dies in Erfahrung gebracht hat und deshalb aus meinem Leben verschwand?«, fragte er heiser.

Nun war Henrike verblüfft. »Nein, auf diesen Gedanken bin ich noch nicht gekommen, aber er ist nicht von der Hand zu weisen«, sagte sie nachdenklich. »Ja, das ist ein neuer Aspekt, aber wie sollte sie so rasch darauf gekommen sein? Nein, das passt nicht zusammen.«

»Ich kann Ihnen nicht folgen«, sagte Bernd Schmitt.

»Bitte, lassen Sie mir etwas Zeit. Ich muss nachdenken«, bat sie.

Da brachte der Butler Ben auch schon einen Servierwagen mit einem delikat angerichteten Imbiss.

Er verschwand wortlos. »Einen Drink?«, fragte Bernd.

»Nichts dagegen«, erwiderte sie. »Ich bin ein bisschen verwirrt.«

»Ich auch«, erklärte er. »Champagner, der muntert ein bisschen auf.«

Er reichte ihr ein Glas. Ganz leicht berührten seine Finger ihre Hand, und sie begann wieder zu zittern.

»Darf ich sagen, dass Sie viel Ähnlichkeit mit Meta haben?«, murmelte er.

»Bitte, sagen Sie Melanie. Meta Niemand war der Name, hinter dem sie sich versteckte. Ich habe Melanie sehr lieb gehabt.«

»Und Sie meinen, dass ich Melanie im Stich gelassen habe? Nein, sie ist wortlos aus meinem Leben verschwunden, eine Frau, die ich maßlos bewundert und verehrt habe, die ich für immer behalten wollte.« Er sah Henrike an. »Sie sind viel jünger«, stellte er nachdenklich fest.

»Zehn Jahre«, erwiderte Henrike, »aber ich weiß auch, was ich will, genau wie Melanie.«

»Sonst wären Sie ja wohl nicht hier, um zu erforschen, was für ein Kerl das gewesen sein mag, von dem Melanie eine Zeichnung hinterließ«, sagte er mit einem ganz kleinen Lächeln, das seine ernsten Augen aber nicht erreichte.

»Es gibt noch andere Gründe. Da wäre Ihr Doppelgänger«, erklärte Henrike nun schon mutiger. »Was wissen Sie über Ihre Vergangenheit?«

»Über meine Vergangenheit?«

»Über Ihre Eltern, Ihre Vorfahren.«

»Die hießen alle schlicht und einfach Schmitt. Da gibt es kein Geheimnis. Meine Eltern wanderten nach dem Krieg nach Kanada aus. Sie waren fleißig und hatten Erfolg. Alles belegbar.«

»Würde es Sie sehr aus dem Gleichgewicht bringen, wenn es doch anders gewesen wäre?«, fragte sie.

»Eine merkwürdige Frage. Was sollte anders gewesen sein?«

Eine seltsame Befangenheit ergriff Henrike jetzt. Was würde es für diesen Mann bedeuten, wenn er die Wahrheit erfuhr? Er war kein harter Mann, das hatte sie im Gefühl. Er trauerte Melanie nach. Sie hatte ihm viel bedeutet. Und da waren die Zwillinge, die sie nicht hergeben wollte.

»Nun reden Sie schon«, drängte er. »Da gibt es also einen Mann, der mir ähnlich sieht und auch Bernd Schmitt heißt. Und da Sie sehr gründlich sind, scheinen Sie etwas herausgefunden zu haben, das auf eine Verwandtschaft schließen könnte. Aber das hätte ich doch von meinen Eltern erfahren.«

»Und wenn man es Ihnen verheimlichen wollte?«, fragte sie. »Dieser Bernd Schmitt ist auch am 4. Februar 1945 geboren.«

»Und wo? Sie dürfen nicht kneifen. Ich lasse Sie nicht eher gehen, bevor ich nicht alles weiß, was Sie zu wissen glauben.«

»Er wurde auf einem kleinen Gut in der Nähe von Hannover geboren«, sagte Henrike. »Am 4. Februar kamen dort Zwillinge zur Welt, die auf den Namen Bernd und Björn getauft wurden. Ihre Mutter starb kurz nach der Geburt.«

»O nein, das kann doch nicht wahr sein!«, stöhnte er. »Das ist ein Märchen!«

»Sehe ich so aus, als könnte ich mir Märchen ausdenken? Was meinen Sie, was uns alle bewegt, seit wir dahintergekommen sind?«

»Wen alle?«

»Ich bin müde. Wir müssten die ganze Nacht reden«, sagte Henrike gequält. »Ich bin nach Montreal geflogen, dann nach Vancouver und habe wenig geschlafen. Ich habe auch heute den ganzen Tag kaum etwas gegessen vor Aufregung.«

»Dann essen Sie doch«, sagte er mit dunkler Stimme. »Und ich werde ein Gästezimmer für Sie richten lassen. Wenn Sie jetzt nicht mehr reden wollen, reden wir morgen weiter. Ich möchte alles wissen, was auch Sie wissen. Und ich zweifle nicht daran, dass Sie die Wahrheit sagen, wenn Sie das beruhigt.«

Henrike lehnte sich zurück. Ihre Augen brannten. »Im Grunde ist doch alles so schrecklich. Tante Hermine hat gesagt, dass die Vergangenheit uns eingeholt hat. Sie sagte es so oft. Aber vielleicht wollen Sie davon nichts wissen. Nicht wirklich.«

»Doch, ich will alles wissen, alles, auch über Melanie«, erwiderte er leise. »Ich kann nur hoffen, dass Sie mir auch alles sagen werden, Henrike Sontheim.«

Sie schloss die Augen. »Werden Sie mir auch alles sagen?«, fragte sie. Und dann überfiel sie plötzlich eine bleierne Müdigkeit.

Bernd betrachtete sie nachdenklich, dann läutete er. Ben erschien.

»Die junge Dame ist eingeschlafen, Ben. Sie wird ein paar Tage unser Gast sein. Richten Sie ein Gästezimmer. Nun schauen Sie nicht so einfältig. Sie kommt aus Deutschland und hat eine weite Reise hinter sich. Sie ist eine Lady. Sie wollen mir doch nichts unterstellen?«

Ben beeilte sich zu sagen, dass ihm so was niemals in den Sinn kommen würde, er sei ja sowieso verblüfft gewesen, dass der Sir mal eine Lady mitgebracht hatte.

Und er trug dann auch Henrike ins Gästezimmer. Zum Glück verstand er nicht viel Deutsch, denn Henrike murmelte im Schlaf: »Die Kinder gebe ich nicht her.«

*

Daheim in München saßen Bernd und Ute beisammen. »Hoffentlich läuft da nichts schief«, sagte Ute besorgt. »Henrike hat noch nichts von sich hören lassen.«

»Durch die Zeitverschiebung kommt sie sicher nicht zum Telefonieren«, sagte Bernd.

»Und wenn er nun inzwischen eine eifersüchtige Frau hat?«, meinte Ute.

»Da kannst du unbesorgt sein«, erwiderte Bernd lächelnd. »Dein Schwager hat keine Frau.«

»Es ist schon ein komisches Gefühl, wenn man plötzlich einen Schwager hat«, sagte sie.

»Fragt sich, ob er von uns was wissen will. Aber es ist ein hübsches Gefühl, Onkel zu sein. Ich hätte nichts dagegen, die Zwillinge zu behalten, wenn Ricky nicht so versessen darauf wäre.«

»Ich auch nicht. Du, ich muss jetzt Tante Hermine zu Dr. Norden bringen.«

»Das kann ich machen, du kannst sie dann abholen. Ich erledige nur das Wichtigste im Büro und bin nachmittags wieder zu Hause.«

Für sie war alles schon selbstverständlich geworden. Die Zwillinge gehörten ebenso zu ihnen wie auch Tante Hermine. Jetzt hofften sie nur noch, dass Henrike ihre selbstgewählte Aufgabe zu aller Zufriedenheit abwickeln könnte. Tante Hermine konnte es noch immer nicht fassen, dass es ihrem Bein schon viel besser ging, und Dr. Norden hatte wieder mal eine Patientin, die ihn als Wunderdoktor bezeichnete.

Als Ute mit den Kindern zur Praxis fahren wollte, um Tante Hermine dort abzuholen, hielt ein Wagen vor ihrem Haus. Dem entstieg Torsten Sörensen.

Die Zwillinge konnten gar nicht so schnell flüchten, als dass er sie nicht doch gesehen hätte.

»Was willst du hier?«, fragte Ute unwillig.

»Die Kinder sind also doch hier«, sagte er spöttisch. »Und wo ist Henrike?«

»Was geht dich das an?«, fauchte Ute.

»Man muss doch immer wieder staunen, wozu Frauen alles fähig sind«, sagte er. »Wozu erst das Theater wegen einer angeblichen Ähnlichkeit, Ute? An den Kindern liegt mir doch nichts, aber ich will mit Henrike klarkommen.«

»Du bildest dir aber allerhand ein«, sagte sie herablassend. »Aber hartnäckig bist du schon, das muss man dir lassen. Sie wäre ja auch eine blendende Partie. So was bekommt man so schnell nicht wieder. Nur du wirst sie nicht bekommen, Torsten Sörensen, und ich habe keine Zeit, mich hier aufhalten zu lassen. Ich kann aber auch Bernd anrufen, wenn du nicht freiwillig gehst.«

Dann knallte sie die Tür zu. Die Zwillinge hatten sich verkrochen. Tino schaute die Mami ängstlich an. »Ist er weg?«, fragte er. »Warum haben Bernd und Katja Angst?«

»Weil er kein guter Mensch ist, Tino«, erwiderte Ute.

»Und können wir Tante Hermine jetzt nicht abholen?«

»Natürlich holen wir sie ab. Er ist doch schon weggefahren.«

Davon wollten sich die Zwillinge allerdings erst überzeugen. Aber dann, als sie das Auto nicht mehr sehen konnten, kletterten sie rasch in Utes Wagen.

Obgleich von Sörensens Wagen nichts zu sehen war, nahm Ute die Kinder mit in die Praxis.

Die gute Loni konnte da auch nur staunen, so ähnlich waren sie einander, dass man sie für Geschwister halten konnte.

Tante Hermine wunderte sich, dass sie gleich von der ganzen Gesellschaft empfangen wurde.

»Weil der Sörensen gekommen ist«, sagte Bernd. »Der sucht unsere Ricky.«

»Er wird sie nicht finden, beruhigt euch«, sagte Ute. »Jetzt wartet ein paar Minuten, ich will Dr. Norden noch etwas fragen.«

Da fragte er allerdings erst sie, ob sie sich nicht ein bisschen viel zumute.

»Aber nein, ganz im Gegenteil. Tino hat Spielgefährten, und Tante Hermine nimmt mir viel Arbeit ab. Kann sie das überhaupt mit dem Bein?«

»Lassen Sie sie nur. Das geht schon«, sagte Dr. Norden. »Aber ich muss Ihnen sagen, dass ich Sie bewundere, wie Sie mit dieser Situation fertig werden.«

»Warum denn?«, fragte Ute. »Die Kinder gehören doch auch zu uns, selbst wenn der Vater nichts von ihnen wissen will. Aber Ricky weiß jetzt, dass wir zu ihr halten. Es kann doch niemand zweifeln, dass gleiches Blut in den Adern fließt, so ähnlich, wie sie sich sind.«

»Und wenn Sie von dem Zwilling Ihres Mannes enttäuscht werden?«

»Das werden wir auch verkraften. Für Tante Hermine wäre es wohl schlimmer. Für sie ist die Vergangenheit wieder voll gegenwärtig. Sie sagt es nicht, aber wir spüren es. Sie hat sich halt so lange mit Gewissensbissen geplagt. Wenn sie einverstanden ist, kann sie immer bei uns bleiben. Wir hätten ihr das wohl schon früher anbieten sollen.«

Ja, was war da alles ausgelöst worden, darüber konnte Dr. Norden sich auch Gedanken machen.

Bernd war wütend, als er erfuhr, dass Sörensen da gewesen war.

»Was bildet sich der Kerl eigentlich ein?«, empörte er sich.

»Vergiss nicht, wie vermögend Henrike ist«, sagte Ute. »Meinetwegen würde er sich nicht die Hacken abgelaufen haben.«

»Du nimmst wirklich alles mit Humor«, sagte Bernd staunend.

»Die einzige Möglichkeit«, gab sie lachend zurück. »Wenn man alles tierisch ernst nimmt, zieht man das Unglück an.«

»Und weise bist du auch schon«, sagte er bewundernd.

»Ich wäre nur durchgedreht, wenn du mich belogen hättest, Liebster.«

*

Henrike hatte so tief geschlafen, dass sie beim Erwachen nicht gleich begriff, wo sie sich befand.

Verwirrt richtete sie sich auf und blickte auf ihre Armbanduhr. Aber sie hatte die Zeit noch nicht umgestellt, und die konnte nicht stimmen. Jetzt wusste sie wieder, was sie am gestrigen Tage schon erlebt hatte. Obgleich es ihr sonst nicht an Selbstbewusstsein mangelte, fühlte sie sich jetzt doch beklommen.

Da aber sah sie eine große Karte, auf der in deutlicher Schrift stand: Bitte läuten, wenn Sie Wünsche haben!

Sie blickte sich in dem hübschen Raum um, der sehr geschmackvoll eingerichtet war, und sah zwei Türen. Eine führte in ein großes Bad, in dem wirklich alles vorhanden war, was man brauchte, sogar ein Bademantel.

Ob dieser Bernd Schmitt öfter Damenbesuch hat, fragte sich Henrike, aber was ging sie das eigentlich an? Hatte sie nicht insgeheim sogar gehofft, dass er eine Frau hätte, die mit den Zwillingen bestimmt nicht einverstanden sein würde? Seltsamerweise war ihr dieser Gedanke jetzt aber gar nicht angenehm.

Sie duschte ausgiebig und bedauerte es, dass sie die gleiche Kleidung anziehen musste, mit der sie gekommen war. Ihr Koffer war ja im Hotel.

Dann überwand sie die Verlegenheitsschwelle und läutete.

Der Butler Ben erschien. Er machte eine höfliche Verbeugung.

»Madame wünschen?«, fragte er.

»Könnte ich Kaffee haben?«, fragte sie verlegen. Es schien ihr, als unterdrücke er ein Lächeln. »Mr Schmitt würde sich sehr freuen, wenn Sie das Frühstück mit ihm nehmen würden. Darf ich bitten?«

Nun denn, dachte Henrike, es geht weiter. Wie, das würde man sehen.

*

Bernd trug heute Jeans und einen lässigen Pullover, er sah jünger aus und weniger seriös. Er wirkte beinahe schüchtern, aber das war beruhigend für Henrike, denn sie war auch nicht gerade auf forsch eingerichtet.

»Sie haben hoffentlich gut geschlafen«, sagte er.

»Sehr gut, ich musste mich erst zurechtfinden. Ich muss ja am Tisch eingeschlafen sein. Besten Dank für Ihre Gastfreundschaft, Mr Schmitt.«

»Tut mir leid, dass ich kein weibliches Personal habe«, sagte er stockend.

»Mir tut’s leid, dass ich in der zerknitterten Kleidung erscheinen muss.«

»Da kann ich Ihnen leider nicht aushelfen, aber wir könnten Ihr Gepäck holen.«

»Aber nein, ich will Ihre Zeit doch nicht länger in Anspruch nehmen.«

»Und wenn ich Sie bitte? So wichtige Dinge kann man doch nicht in ein paar Stunden besprechen. In welchem Hotel sind Sie abgestiegen?«

Sie sagte es. »Ich werde Ihr Gepäck bringen lassen. Man kennt mich.« Er lächelte flüchtig.

»Ich muss noch bezahlen«, sagte sie konsterniert.

»Das ist nicht nötig. Das Hotel gehört zufällig mir.«

Henrike blieb die Luft weg. Sie fragte sich, was ihm wohl noch alles gehören würde und dachte auch beiläufig, dass die Zwillingsbrüder vom Schicksal sehr unterschiedlich bedacht worden waren.

»Ein Anruf genügt«, sagte er und ging schon zum Telefon.

Schicksal nimm deinen Lauf, dachte Henrike, aber beim Anblick des doch wohlgedeckten Frühstückstisches verspürte sie Appetit.

Eins haben die beiden Bernds auf jeden Fall gemeinsam, ging es ihr durch den Sinn. Sie lassen sich durch die irreste Situation nicht aus dem Gleichgewicht bringen.

Er setzte sich wieder zu ihr. »Wird alles schnellstens erledigt«, erklärte er. »Nun greifen Sie schon zu. Sie müssen doch Hunger haben.«

»Das gebe ich zu«, sagte sie. Und sie ließ es sich schmecken. Sie merkte nicht, dass er sie ab und zu sehr nachdenklich betrachtete.

»Sie haben sehr viel Ähnlichkeit mit Melanie«, sagte er leise.

»Das wurde mir schon öfter gesagt, aber nicht immer im wohlwollenden Ton«, erwiderte sie. »Aber ich habe sie immer bewundert. Sie hat sich immer nur auf sich selbst verlassen.«

»Sie doch anscheinend auch. Sind Sie verheiratet?«

»Nein, und ich habe auch nicht die Absicht«, erwiderte sie beiläufig. »Aber ich will die Kinder behalten.« Das war ihr unbedacht herausgerutscht, und sie war jetzt auch erschrocken.

»Welche Kinder?«, fragte er staunend.

Gut, es soll so sein, dachte Henrike. Dann ist es gesagt. »Melanies Zwillinge, deren Vater Sie sind. Daran besteht für mich nicht der geringste Zweifel.«

Alle Farbe wich aus seinem Gesicht. »Das kann nicht wahr sein!«, stieß er hervor. »Davon weiß ich nichts!«

»Das habe ich angenommen«, sagte Henrike zögernd. »Deshalb bin ich hier, aber nicht, um Ihnen die Kinder aufzudrängen, sondern um das Recht zu erzwingen, sie behalten zu können.«

»Verzeihen Sie, ich muss das erst begreifen«, murmelte er. »Es ist ein Schock für mich. So vor eine Tatsache gestellt zu werden, so völlig ahnungslos – warum erfuhr ich das nicht früher?«

»Wahrscheinlich wollte es Melanie nicht. Wir können uns nun wohl in aller Ruhe und Sachlichkeit unterhalten, Mr Schmitt.«

»In aller Ruhe und Sachlichkeit«, wiederholte er tonlos, dann schüttelte er den Kopf. »Wir verhandeln doch nicht über ein Geschäft.«

»Um zwei Kinder, die mir sehr viel bedeuten«, sagte Henrike. »Die jemand Ihrem Zwillingsbruder anhängen wollte. Aber nach allem, was ich inzwischen erfahren habe, sollten Sie wenigstens wissen, dass Sie einen Zwillingsbruder haben, dessen Sie sich wahrhaftig nicht schämen müssten, der sogar mit Zustimmung seiner Frau bereit gewesen wäre, die Zwillinge zu adoptieren, wenn ich nicht ebenso bereit wäre, sie zu behalten.«

»Jetzt möchte ich alles genau erfahren«, sagte er. »So ohne Weiteres lasse ich mich nicht ins Abseits schieben. Man kann doch nicht für etwas bestraft werden, wenn man sich nicht schuldig fühlt.«

»Würden Sie mir dann bitte zuerst erzählen, wie Sie Melanie kennenlernten?«, fragte sie stockend.

Er nickte geistesabwesend. »Sie gestatten, dass ich ein Fotoalbum hole?«, fragte er. »Vielleicht setzen wir uns dann auf die Terrasse. Jetzt ist es warm genug.«

Aber da wurden schon Henrikes Koffer gebracht, und sie sagte: »Sie gestatten, dass ich mich umkleide?«

Sie spürte, dass er dafür direkt dankbar war, denn so gewann er Zeit, seine Fassung zurückzugewinnen, sie fragte sich, was sie jetzt wohl doch noch zu erwarten hatte.

Sie fühlte sich wohler in frischer und leichterer Kleidung und ahnte nicht, wie anmutig sie in dem leichten Baumwollkleid auf Bernd wirkte.

Er legte ein dickes Fotoalbum, das recht abgegriffen wirkte, auf den Tisch.

»Das Leben der Familie Schmitt, die auszog, um sich ein neues Leben aufzubauen und wohl die Vergangenheit ganz hinter sich lassen und vergessen wollte«, sagte er rau. »Und die nicht daran dachte, dass man von der Vergangenheit eingeholt werden könnte. So sagten Sie es doch.«

»Tante Hermine hat es gesagt«, flüsterte sie.

»Wer ist Tante Hermine?«

»Die Schwester Ihres richtigen Vaters. Sie hat Ihren Zwillingsbruder aufgezogen.«

»Und warum nicht auch mich?«, fragte er düster.

»Das erzähle ich Ihnen später.«

*

Sie betrachtete alte Fotos, die manchmal schon verblichen waren. Henning Schmitt als Kriegsgefangener, dann als Neubürger von Kanada. Ein mittelgroßer, kräftiger Mann stand dann vor einem Holzhaus.

»Unser erstes Heim«, stand darunter.

Dann sah Henrike das Foto einer hübschen blonden Frau, die ein Kind auf dem Arm hielt.

»Das war ich, zwei Jahre jung«, sagte Bernd. Er blickte auf. »Warum habe ich den gleichen Namen bekommen?«

Henrike überlegte. »Vielleicht dachte Ihre Mutter wirklich, dass Sie Bernd sind. Es könnte auch möglich sein, dass sie gewisse Spuren damit verwischen wollte.«

»Verwischen? Wie meinen Sie das?«

»Sie gab Sie als ihr eigenes Kind aus.«

»Wollen wir nicht abwechselnd Tatsachen austauschen?«, fragte er. »Ich wusste es nie anders, als dass Henning Schmitt mein richtiger Vater wäre.«

Henrike erzählte, unter welchen Umständen Marlene Schmitt ihre Zwillinge zur Welt gebracht hatte.

»Es herrschte eine furchtbare Not, und Tante Hermine wusste nicht, wie sie die Zwillinge allein durchbringen sollte. Niemand wusste damals wohl, wie es weitergehen würde, als das Gut beschlagnahmt wurde. Henning und Helga Schmitt waren entfernte Verwandte. Helga hatte eine Fehlgeburt gehabt und konnte wohl keine Kinder mehr bekommen. Oder haben Sie Geschwister?«

»Nein«, erwiderte er kurz.

»Sie nahm den einen Zwilling mit und ging zu ihren Eltern, und dann erfuhr Tante Hermine nur, dass sie zu ihrem Mann nach Kanada gegangen war. Jetzt sind Sie wieder an der Reihe, Mr Schmitt.«

»Sagen Sie doch nicht immer Mr Schmitt. Sagen Sie Bernd!«

»So nenn’ ich doch schon den anderen«, platzte Henrike heraus. »Aber jetzt weiß ich wirklich nicht, wer nun eigentlich Bernd und wer Björn ist. Vielleicht hat Tante Hermine sich auch geirrt.«

»In meinen Papieren steht Bernd Henning Schmitt«, sagte er. »Das verwirrt doch noch mehr.«

»Helga Schmitt hat diese Papiere beschafft«, sagte Henrike, »aber sie hat ihr Geheimnis gewahrt.«

Er blickte zu Boden. »Sie war eine sehr gute Mutter«, sagte er leise.

»Dann soll Sie es in Ihrer Erinnerung auch bleiben. Gut, ich werde Sie Henning nennen. Henning und Henrike werden doch einen Weg finden zu einer Einigung.«

»Das könnte Melanie gesagt haben«, murmelte er.

»Aber ich bin doch ein bisschen anders als Melanie. Ich will Klarheit«, sagte Henrike. »Also weiter. Ihre Eltern kamen bald zu Wohlstand.«

»Vater war sehr tüchtig. Damals war es ja auch anders als heute. Heute kommen meistens solche, die meinen, dass sie das Gold nur abzubauen brauchen. Vater hat hart gearbeitet und hat es geschafft. Er hatte auch einen guten Riecher. Es sei immer gut, auf zwei Beinen zu stehen, war seine Devise, letztlich stand er dann auf einem Dutzend. Aber als er der große, sehr geschätzte Schmitt war, ließen seine Kräfte nach. Ich hatte in Amerika studiert und musste dann einsteigen. Und da begann er von der alten Heimat zu erzählen. Er wollte wissen, was aus dem Gut geworden ist. Mama war das gar nicht so recht. Ja, ich erinnere mich, dass sie immer wieder sagte, dass wir doch genug hätten. Aber als Vater gestorben war, wollte ich seinen letzten Wunsch erfüllen. Ich flog hinüber. Auf dem Flug lernte ich einen alten Herrn kennen, der mir von Sylt vorschwärmte. Er hatte seine Kinder in Kanada besucht, aber ihn zog es in die Heimat zurück, nach Sylt. Ich besuchte ihn dort, und da lernte ich Meta kennen, Melanie, wenn Sie das lieber hören wollen. Ich war fasziniert von dieser schillernden Persönlichkeit. Sie erschien mir so einmalig, wie nie eine Frau zuvor. Für junge Mädchen hatte ich eigentlich nie viel übrig. Auf dem College und der Universität hatte ich keine guten Erfahrungen gemacht. Sie waren alle so oberflächlich, aber Melanie war so – ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll.«

»Atemberaubend?«, fragte Henrike.

»So ehrlich und natürlich. Sie war ein Mensch, mit dem man reden konnte, so ursprünglich, wie Sie auch, Henrike.«

Henrike stieg das Blut in die Wangen. »Bleiben wir beim Thema«, sagte sie. »Sie hatten erfahren, dass das Gut in andere Hände übergegangen war, und dass der Erlös den Erben von Henning Schmitt zustand«, sagte sie.

»Darauf kam es mir doch nicht an. Ich hatte mit den neuen Besitzern gesprochen, aber ich hatte kein Verlangen, dort zu bleiben. Ich wollte Melanie überreden, mit mir zu kommen. Es fällt mir schwer, sie Melanie zu nennen, verstehen Sie das bitte. Für mich war sie Meta Niemand, und als ich nach Sylt zurückkam, war sie nicht mehr da. Niemand war sie für mich, wie der Name, den sie mir genannt hatte, denn ich wusste nicht, wo ich sie finden könnte. Und niemand konnte es mir sagen. Und dann erreichte mich auch noch die Nachricht, dass meine Mutter plötzlich gestorben sei. Das war unbegreiflich für mich, denn ich wusste nichts von einer Krankheit. Aber sie muss schon länger herzleidend gewesen sein, und sie wollte ja auch nicht, dass ich die alte Heimat besuche. Jetzt, nachdem ich all dies erfahren habe, möchte ich meinen, dass es sie aufgeregt hat, ich könnte die ganze Wahrheit herausbringen. Ja, es erscheint in solchem Licht. Ich flog zurück. Mutter wurde begraben, und ich versuchte lange, Meta zu finden, es war vergeblich.«

»Sie wollte wohl auch nicht gefunden werden«, sagte Henrike verhalten. »Sie wollte ein Kind von einem Mann, der ihr gefiel, aber sie wollte sich nicht fest binden. Und dann waren es Zwillinge. Bernd und Katja. Sie sind fünf Jahre alt.«

»Haben Sie ein Foto, Henrike?«

»Nein«, erwiderte sie, obgleich sie mehrere dabei hatte. Für sie begann jetzt der Kampf um die Kinder, denn sie spürte es, dass es zu einem Kampf kommen würde.

Es trat ein langes Schweigen ein, dann erhob sich Bernd.

»Sie können nicht von mir erwarten, dass ich auf die Kinder verzichte«, sagte er heiser, mit abgewandtem Gesicht.

»Dann müssen es die Gerichte entscheiden«, erklärte sie. »Ich bin die Patin, ich habe das Sorgerecht bekommen und werde darum kämpfen.«

Er atmete schwer. »Jetzt kennen Sie mich doch«, sagte er. »Können wir uns nicht einigen?«

Sie legte ihren Kopf zurück. »Ist es Ihnen nicht wichtiger, Ihren Zwillingsbruder kennenzulernen?«, fragte sie. »Er hat sich alles erkämpfen müssen. Tante Hermine konnte ihm nicht so viel geben, wie Sie bekommen haben. Wir sind Freunde geworden. Er hat eine liebenswerte Frau, die sich in dieser ganzen Sache phantastisch benommen hat.«

Er überlegte schnell. »Können wir nicht auch Freunde werden, Henrike?«, fragte er. »Von dieser Sache muss ich doch auch noch erfahren. Wie kam es dazu, dass man meinem Bruder die Kinder unterschieben wollte?«

»Durch meinen damaligen Verlobten«, erwiderte Henrike. »Er wollte mich, aber die Kinder nicht. Und zufällig zeigte er früher mal großes Interesse für Ute, die dann Bernd Schmitt den Vorzug gab. Leider war Melanie so sentimental, dieses Bild von Ihnen zu zeichnen, und ein paar Daten darunterzuschreiben. Warum haben Sie ihr eigentlich Ihr Geburtsdatum verraten?«

»Weil sie es wissen wollte. Anscheinend befasste sie sich auch intensiv mit Astrologie.«

»Sie war Skorpion«, sagte Henrike leise. »Die Zwillinge sind im Zeichen des Zwillings geboren.«

»Und Sie?«, fragte er.

»Waage, aber ich unterwerfe mich nicht solchen Berechnungen.«

Seine Lider senkten sich. »Jedenfalls sagte Melanie, dass es auf die Dauer zwischen uns doch nicht gut gehen würde. Aber jetzt erfahre ich da von zwei Kindern. Begreifen Sie, was das für mich bedeutet?«

»Mein Gott, Sie können doch heiraten und noch mehr Kinder in die Welt setzen«, sagte Henrike spontan.

»Mit irgendeiner Frau? So einfach ist das doch wirklich nicht. Was ist mit Ihrem Verlobten?«

»Ich habe ihm den Laufpass gegeben. Ist es nicht ein starkes Stück, einfach zum Vormundschaftsgericht zu gehen und anzugeben, dass er den Vater der Zwillinge kenne? Er hätte damit eine Ehe kaputt machen können, wenn Ute nicht so wäre, wie sie ist.«

»Er hat also die ideale Frau gefunden«, sagte Bernd gedankenvoll. »Und Sie mögen Ute.«

»Wir haben auch viel gemeinsam und sind gleichaltrig, sofern zwei Jahre Unterschied nicht so sehr ins Gewicht fallen. Sie haben einen goldigen Sohn, dessen Ähnlichkeit mit den Zwillingen für mich allerdings auch der Beweis ist, dass sie blutsverwandt sind.«

Bernd sah sie nachdenklich an. »Sie werden es hoffentlich verstehen, dass ich alle kennenlernen möchte«, sagte er nun ganz ruhig. »Ich schlage vor, dass wir gemeinsam nach München fliegen.«

Plötzlich schossen Tränen in ihre Augen. »Warum denn? Sie können mir die Kinder doch nicht wegnehmen. Ich liebe sie, und sie lieben mich. Sie werden es sehr gut haben bei mir. Mein Anwalt kann Ihnen auch meine Vermögenslage klarlegen.«

»Ihnen könnte ich doch nicht wehtun, Henrike«, sagte er leise. »Wir können uns einigen, aber verstehen Sie bitte, dass mir diese Kinder nicht gleichgültig sind. Und ich werde nie vergessen, zu wie viel Dank ich Ihnen verpflichtet bin.« Er nahm ihre Hand und zog sie rasch an seine Lippen.

»Ich muss noch einiges erledigen, und Sie ruhen sich aus«, sagte er. »Aber Ben wird dafür sorgen, dass Sie nicht entfliehen. Es wäre auch unsinnig, denn Sie würde ich überall finden. Das unterscheidet Sie auch von Melanie.«

*

Die tiefe Bedeutung dieser Worte sollte ihr erst viel später bewusst werden. In ihrem Innern herrschte ein völliges Durcheinander.

Ihr fiel ein, dass sie Bernd und Ute versprochen hatte, anzurufen, aber dann dachte sie an die Zeitverschiebung. In München war es jetzt tiefe Nacht.

Vielleicht bin ich deshalb ganz aus dem Tritt, ging es ihr durch den Sinn. Aber ich werde ja bald wieder zu Hause sein, und dann, ja, dann werden mir die Kinder schon helfen, dass wir zusammenbleiben können.

Ben fragte schon wieder nach ihren Wünschen. Ungerufen hatte er einen Longdrink und Gebäck gebracht.

»Vielleicht möchten Sie das Haus sehen, Madame«, sagte er höflich.

»Leben Sie immer hier, Ben?«, fragte Henrike.

»Nein, ich begleite Mr Schmitt überallhin«, erwiderte er.

»Ich will nicht indiskret sein, aber Sie sind schon lange bei ihm?«

»Seit zehn Jahren. Mrs Schmitt hat mich engagiert, als Mr Schmitt krank wurde. Sie war eine sehr tüchtige Frau, wenn ich das sagen darf. Sie wollte, dass der junge Herr immer seine Ordnung hat. Darf ich bemerken, dass Sie sehr gut englisch sprechen, Madame?«

»Und Sie ebenso gut französisch, Ben«, sagte Henrike.

»Das muss man hier, wenn man vorankommen will.«

»Was wissen Sie von Deutschland, Ben?«, fragte Henrike.

»Dass eine Grenze durch dieses Land geht, in dem man die gleiche Sprache spricht. Ich war noch nicht auf der Welt, als dieser schreckliche Krieg war, Madame. Ich habe nur darüber gelesen. In Kanada werden schon immer zwei Sprachen gesprochen, und man ist sich auch nicht immer einig. Aber Mr Schmitt kommt mit allen gut aus. Man kann das, wenn man tolerant ist. Man kann hier sehr gut leben. Es würde mich sehr freuen, wenn Sie uns öfter besuchen würden, Madame.«

»Würden Sie nicht auch gern mal Europa kennenlernen, Ben?«

»Sehr gern«, erwiderte er. »Wenn der Herr gut versorgt ist, werde ich gern mal eine Reise dorthin machen.«

Bernd kam schon wieder zurück. Henrike wurde ganz verlegen. »Ich habe mich ein bisschen mit Ben unterhalten«, sagte sie hastig.

»Er stand ganz zu Ihrer Verfügung, Henrike«, erwiderte er.

»Wird er Sie nach München begleiten?«

»Diesmal nicht, später sicher einmal. Diesmal werde ich Sie begleiten. Der Flug ist gebucht. Morgen Abend starten wir.«

»Ich fliege nicht gern in die Nacht hinein«, sagte sie trotzig.

»Irgendwo ist immer Nacht auf solch einem Flug«, sagte er ruhig. »Jetzt möchte ich Ihnen gern noch zeigen, was Henning Schmitt für sich und seine Nachkommen geschaffen hat. Ein Flugzeug steht bereit, Henrike.«

Er griff nach ihrem Arm, und sie hatte nicht mehr die Kraft, sich aufzulehnen. Aber als er sie dann zu dem Hubschrauber gefahren hatte, machte sie sich steif.

»Wollen Sie demonstrieren, was Sie besitzen?«, fragte sie aufbegehrend. »Warum sind Sie nicht verheiratet, warum haben Sie keine Kinder?«

»Ich habe doch welche«, erwiderte er. »Und ich weiß dies von Ihnen. Aber ich weiß auch, was Sie empfinden, und ich habe es schon gesagt, dass ich Ihnen nicht wehtun will.«

»Dann sagen Sie doch, was Sie wollen? Ich kann Sie nicht verstehen!«

»Es ist nicht so einfach, einen Menschen zu verstehen, Henrike. Ich habe Melanie auch nicht verstanden, wie mir nun bewusst gemacht wurde. Und ich kann Ihre Motive auch nicht verstehen. Warum heiraten Sie nicht? Warum setzen Sie nicht eigene Kinder in die Welt? Das frage ich mich genauso.«

Nun saßen sie schon im Hubschrauber, und der hob auch gleich ab.

»Gegen Sie kommt man nicht so leicht an«, sagte Henrike nun mit einem tiefen Seufzer. »Es ist für mich nur beruhigend, dass der andere Bernd auch Haare auf den Zähnen hat.«

»Das gefällt mir«, sagte Bernd, den Henrike nun doch nur noch Henning nennen wollte. Er hatte ihre Hand ergriffen, und mit der anderen deutete er zum Fenster hinaus.

»Da drunten, diesen Wald hatte mein Vater für ein Butterbrot gekauft. Niemand wollte ihn damals haben. Heute wird minderwertiges Land für sehr viel mehr Geld angeboten, und die Aussteiger da drüben in Europa erhoffen sich goldene Berge.

Doch die Zeiten sind vorbei, sofern sie nicht auch bereit sind, hart zu arbeiten. Und da, sehen Sie diese Siedlung, die hat Henning Schmitt für verdiente Mitarbeiter bauen lassen. Für sie war er der Boss, aber auch ein guter Freund, und sie haben dazu beigetragen, dass er mehr und immer mehr tun konnte. Ich hatte mehr Glück als mein Bruder, Henrike. Ich konnte einen Mann Vater nennen, den ich immer bewundert habe und der mir Vorbild war.«

»Wäre er Ihnen auch so ein Vater gewesen, wenn er gewusst hätte, dass Sie gar nicht sein Sohn sind?«, fragte Henrike.

»Ich weiß nicht, was er dann gedacht und gefühlt hätte«, sagte er leise. »Aber ich will mir auch nichts zerstören lassen, was mir so viel bedeutet hat. Mama hat mir alle Liebe geschenkt, und gerade Sie sollten es verstehen, da Sie auch fremden Kindern Liebe schenken.«

»Ich würde niemals zulassen, dass sie auseinandergerissen werden«, sagte Henrike.

»Wir leben nicht mehr in Nachkriegszeiten«, erklärte er, »aber wir sollten daran denken, dass auch die nächsten Generationen in einer Welt leben müssten, in der es nicht mehr diesen Wohlstand gibt, und auch daran, dass in notleidenden Ländern so manche Eltern sich von ihren Kindern trennen müssen, wenn diese nicht verhungern sollen.«

»Ja, es ist gut, darüber nachzudenken«, sagte sie leise.

»Mama hat ein Kinderheim eingerichtet«, fuhr er fort. »Es gibt auch hier Eltern, die ihre Kinder allein lassen. Kinder, deren Eltern sterben und die arm zurückbleiben. Aber ich wollte Ihnen nur sagen, dass meine Eltern keine Egoisten waren, und dass ich sie als meine Eltern betrachte.«

Henrike dachte weiter. Warum hat Helga Schmitt nicht an das andere Kind gedacht, nicht an Tante Hermine, ging es ihr durch den Sinn, doch jetzt wollte sie nicht davon sprechen. Sie spürte, dass Henning alles sehr nahe ging.

»Pendeln Sie immer zwischen Vancouver und Montreal hin und her?«, fragte sie.

»Wenn es sein muss, ja. Aber für mich ist es gleich, wo ich bin. Ben begleitet mich, und sonst wartet ja niemand auf mich, jetzt nicht mehr«, erwiderte er leise. »Wer wartet jetzt auf Sie, Henrike?«

»Die Kinder, Bernd und Ute, und auch Tante Hermine. Ich müsste in München anrufen.«

»Wir fliegen morgen. Es ist besser, wenn sie nicht informiert werden«, sagte er.

*

»Jetzt mache ich mir doch langsam Sorgen«, sagte Ute am Abend dieses Tages. »Es wird doch nichts passiert sein, Bernd?«

»Mach dich nicht verrückt. Ricky ist eine gestandene Frau. Vielleicht hat sie diesen vielbeschäftigten Bernd Schmitt bisher vergeblich zu treffen versucht. Mich zu erwischen, ist doch auch manchmal nicht leicht, und ich habe keinen Riesenkonzern zu leiten. Bist du so neugierig auf deinen Schwager?«

»Du meinst doch nicht etwa, dass er kommt?«, fragte sie erstaunt.

»Ich meine gar nichts. Ich lasse mich überraschen. Die Stimme des Blutes hat bei mir noch nicht gesprochen.«

Ute kannte ihren Mann. Sie merkte, dass er sich selbst täuschen wollte, dass er voller Unruhe war.

»Schau mich nicht so fragend an«, sagte er. »Es ist doch nur Unruhe in unser Leben gekommen.«

»Wäre es dir lieber, du hättest nichts von Björn erfahren?«

»Björn – Bernd, das irritiert mich, Ute. Sollen wir uns beide mit dem gleichen Vornamen anreden? Was ist das für ein Gefühl, wenn man fast vierzig Jahre alt geworden ist, ohne etwas von einem Bruder zu wissen, von einem Zwillingsbruder, kannst du das nachfühlen?«

»Ich versuche es, liebster Bernd.«

»Wir sind in ganz unterschiedlichen Verhältnissen aufgewachsen, und man sagt ja, dass die Umwelt den Charakter formt.«

»Es könnte ja sein, dass ihn der Gedanke, Vater von Zwillingen zu sein, so sehr schreckt, dass Ricky ganz beruhigt heimkehren kann und du nur freundliche Grüße von ihm bekommst. Wir werden bald mehr wissen«, sagte Ute. »Ich mache mir mehr Gedanken, wie Ricky allein mit den Zwillingen zurechtkommen will. Es könnte ihr doch mal der Mann begegnen, den sie so liebt, dass sie alles für ihn aufgeben könnte. Sie ist doch ein so liebenswerter Mensch.«

»Jedenfalls fühlen sich die Kinder bei uns so wohl, dass sie Ricky nicht zu sehr vermissen«, sagte er.

Aber nun begannen sie doch schon zu fragen, wann denn Ricky wiederkommen würde.

»Ihr darf doch nichts passieren«, sagte Katja ängstlich.

»Sie kommt bald zurück«, sagte Ute beruhigend.

»Sie hätte mal anrufen können«, sagte Bernd.

»Kanada ist so weit weg«, erwiderte Bernd.

»Wenn wir aber wüssten, wann sie kommt, könnten wir sie doch abholen«, meinte der kleine Bernd.

Na, das wäre wohl eine gewaltige Überraschung geworden! Bernd in doppelter Ausgabe, ob das die Kinder begreifen würden? Das ging Henrike durch den Sinn, als sie im Flugzeug saßen.

Bis Montreal flog Ben mit, dann stiegen Bernd-Henning und Henrike in den Jumbo-Jet um, als VIP-Passagiere. Bernd-Henning wollte möglichst ungestört mit Henrike sein, aber zum Reden waren sie dann beide nicht mehr aufgelegt. Zuerst hatte Henrike die Augen nur deshalb geschlossen, weil sie noch einmal alles überdenken wollte, und die Unruhe blieb, wie sich nun alles entwickeln würde, aber dann überkam sie doch die Müdigkeit. Ohne dass sie es merkte, sank ihr Kopf an Bernd-Hennings Schulter. Er rührte sich nicht. Ihn bewegten ganz seltsame Gedanken, die nichts mehr mit Melanie zu tun hatten.

An den Namen Melanie konnte er sich sowieso nicht gewöhnen. Für ihn war sie Meta gewesen, und die kurzen Tage des Beisammenseins lagen weit zurück. Er hätte jetzt nicht einmal sagen können, ob seine Gefühle wirklich so tief gewesen waren, dass sie ewig hätten Gültigkeit haben können. Er wusste, dass Melanie nicht solcher Gefühle fähig gewesen war. Jetzt wusste er es, dass sie ihr Leben nicht auf die Dauer mit einem Mann teilen wollte.

Als Mutter konnte er sie sich schon gar nicht vorstellen, aber nach Henrikes Worten war sie ja eine liebevolle Mutter gewesen, und sie hatte ihr eigenes Leben für das Leben eines fremden Kindes eingesetzt.

Aber es kamen ihm auch noch andere Gedanken. Wenn Melanie nicht gestorben wäre, hätte er wohl nie von den Kindern erfahren und auch Henrike niemals kennengelernt, die verschüttete Gefühle in ihm weckte und eine brennende Sehnsucht, sie nie mehr zu verlieren.

Jetzt bewegte sie sich leicht, aber sie erwachte nicht. Sie schien zu träumen, und ganz behutsam schob er seinen Arm unter ihren Nacken.

Als dann Henrike erwachte, war auch er eingeschlafen, und nun wagte sie nicht, sich zu rühren. Heiß strömte das Blut durch ihre Adern, als sie sich bewusst wurde, wie eng sie an ihn geschmiegt war. Ihr Herz begann zu hämmern, und als er die Augen aufschlug, versuchte sie, sich hastig aus seinem Arm zu lösen. Aber er hielt sie fest.

»Ich werde dich festhalten«, flüsterte er, »für immer, Henrike.«

Und sie konnte nichts sagen, so betäubt war sie von dieser dunklen zärtlichen Stimme.

Sie sprachen nicht mehr viel. Es war so, als würde jeder in den anderen hineinlauschen.

München empfing sie mit strömendem Regen. Das passte jetzt zu Henrikes Stimmung.

»Ich möchte sie doch vorbereiten«, sagte sie stockend. »Es ist besser wegen der Kinder.«

»Gut, ich bin einverstanden. Wir fahren zu einem Hotel, und von dort aus rufe ich meinen Bruder an. Wenn er kommt, kannst du zu den Kindern fahren.«

Er blieb beim Du, sie hatte es noch nicht über die Lippen gebracht. Sie fürchtete, die Gefühle, die sie bewegten, allzu deutlich zu verraten. Sie konnte sich ja so schwer verstellen. Aber sie konnte sich nicht wehren, ihm nicht widersprechen.

»Wenn Melanie das wüsste«, flüsterte sie, als sie im Taxi saßen, mit einem kleinen Versuch, dass dieser Name Distanz schaffen würde. Aber Bernd-Henning sagte: »Lassen wir jetzt Melanie beiseite. Ich liebe dich.«

»Weil ich Melanie ähnlich bin?«, fragte sie bebend.

Er schüttelte leicht den Kopf, griff nach ihrer Hand und legte sie auf die Stelle, unter der sein Herz schlug.

Als sie das große Hotel betraten, bekam es Henrike wieder zu spüren, dass da ein Mann an ihrer Seite war, der nicht viel zu reden brauchte, damit ihm die Türen offenstanden. Er legte eine Karte auf die Rezeption, und schon dienerte man.

Wenig später befanden sie sich in einem luxuriösen Appartement. Henrike packte der Übermut.

»Gehört dir dieses Hotel etwa auch?«, fragte sie.

»Nein, aber wir haben enge Kontakte, Chérie. Ich bin zum ersten Mal in München.«

»Dann hast du aber schon viel versäumt.«

»Bisher nichts. Ich hätte dich hier wohl nicht getroffen, wenn ich vorher hier gewesen wäre.« Das sagte er so ernst, dass ein Beben durch ihren Körper lief, und dann zog er sie auch schon ganz fest in seine Arme und küsste sie.

»Es läuft alles ein bisschen anders, als ich dachte«, stammelte sie, als er sie endlich freigab, atemlos.

»Du hast mich gesucht und gefunden, und nun wirst du mich nicht wieder los«, gab er zur Antwort. »Und nun sprich bitte nicht gleich wieder über Melanie. Das ist lange her und es war ganz anders. Und jetzt rufst du bitte meinen Bruder an.«

*

Henrike hatte Glück gehabt. Bernd hatte sich selbst gemeldet, und wenngleich er vor Staunen kaum etwas sagen konnte, als sie hastig ihr Anliegen vorbrachte, erklärte er dann doch, dass er sofort kommen würde.

»Sag den anderen noch nichts, ich starte dann gleich«, bat sie ihn.

Ute war mit den Kindern im Spielzimmer. Dort hatten sie das Läuten des Telefons nicht gehört.

»Ich habe gerade einen Anruf bekommen«, erklärte Bernd. »Eine dringende Besprechung. Ich muss noch mal in die Stadt.«

»Bei dem scheußlichen Wetter«, sagte Ute missbilligend. »Pass bloß auf.«

Sie dachte sich nichts weiter. Sie war es ja gewohnt, dass er ab und zu auch am Wochenende wichtige Geschäfte abwickeln musste.

Obgleich Bernd alle Schleichwege durch die Stadt kannte und auch nicht viel Verkehr war, dauerte es ihm doch zu lange, bis er das Hotel erreichte. Und als er dort eintrat und nach Mr Schmitt fragte, starrte man ihn betroffen an. Aber es gehörte zu den Gepflogenheiten des Hauses, dass man keine Neugier zeigte, die allerdings bei solcher Ähnlichkeit verzeihlich war.

Bernds Herz schlug bis zum Halse, als er mit dem Lift zum Dachgeschoss emporfuhr. Und dann standen sich die Zwillingsbrüder gegenüber. Sie schauten sich an, sie waren beide blass und erregt, und dann umarmten sie sich tiefbewegt.

Henrike konnte die Tränen der Rührung nur mühsam zurückhalten.

»Ich fahre jetzt und bereite die Familie vor«, flüsterte sie. »Ihr werdet euch allerhand zu sagen haben.«

*

Von der ahnungslosen kleinen Gesellschaft wurde Henrike jubelnd begrüßt.

»Gott sei Dank, dass du heil zurück bist«, sagte Ute aufatmend. »Leider wurde Bernd gerade weggerufen.«

»Ja, ich weiß, er lernt seinen Bruder kennen.«

»Papi hat doch gar keinen Bruder«, warf Tino ein.

»Doch, er hat einen Bruder«, sagte Henrike.

Da mischte sich auch Tante Hermine ein. »Du hast ihn gefunden und mit ihm gesprochen?«, fragte sie aufgeregt.

»Wo hast du ihn gefunden, Ricky?«, fragte Tino verwirrt.

»In Kanada, und nun wird er bald herkommen, und ihr werdet ihn auch kennenlernen. Ich bin sehr gespannt, ob ihr ihn und den Papi unterscheiden könnt.«

»Wieso denn nicht?«, fragte Bernd.

»Weil sie sich sehr ähnlich sehen.«

»So ähnlich wie Bernd und Tino?«, fragte Katja.

»Noch ähnlicher. Sie sind nämlich auch gleich groß und haben sogar am gleichen Tag Geburtstag. Sie sind Zwillinge wie ihr.«

Da standen sie mit weit aufgerissenen Augen und offenen Mündern.

Tino drückte sich an Utes Seite. »Und warum war er noch nie hier, Mami?«, fragte er.

Wie sollte man es ihnen begreiflich machen, auf welche Weise Menschen, Familien auseinandergerissen werden konnten? Wie sollten sie begreifen, dass es einen so schrecklichen Krieg gegeben hatte, der den Menschen kaum noch eine Hoffnung auf eine Zukunft gab? Es waren drei Kinder, die nichts entbehrt hatten. Aber zwei davon hatten ihre Mutter plötzlich verloren und einen Vater nicht kennengelernt. Und Bernd fragte: »Ist die Mutter auch gestorben?«

»Ja, sie ist gestorben«, sagte Tante Hermine.

»Und einen Vater hatten sie auch nicht?«, fragte Bernd weiter.

»Der ist schon vorher gestorben«, sagte Ute.

»Unser Vater ja auch«, sagte Katja.

Henrike gab es einen Stich. Es hatte eine Zeit gegeben, da sie gewünscht hatte, dass der Vater der Kinder nicht mehr leben würde, aber jetzt war alles ganz anders. Sie tauschte mit Ute einen langen Blick, und Ute bewegte verneinend den Kopf. Sag noch nichts, sollte das bedeuten, und es war Henrike sehr recht, dass Ute auch dieser Meinung war.

Tino hatte jetzt andere Gedanken. »Warum habe ich nicht auch einen Zwilling, Mami?«, fragte er. Das lockerte die Stimmung auf, denn Bernd sagte: »Ute ist noch jung. Melli war schon älter, und weil sie so lange auf ein Kind gewartet hatte, hat sie dann gleich zwei auf einmal bekommen.«

»Das hat Melli gesagt«, fügte Katja hinzu. »Aber vom Vater hat sie nie etwas gesagt, warum eigentlich nicht, Ricky?«

Henrike geriet nun doch in arge Bedrängnis, aber Bernd stellte schon wieder Überlegungen an. »War da vielleicht auch Krieg?«, fragte er.

»Nein, das nicht«, sagte Henrike leise, »aber euer Vater wusste nicht, dass es euch gibt.«

Bernd starrte sie an. »Melli hat es ihm nicht gesagt? Das sieht ihr ähnlich. Wenn sie etwas nicht sagen wollte, hat sie immer erklärt, dass wir noch zu klein sind und das erst verstehen, wenn wir selber erwachsen sind. Aber jetzt kann sie es nicht mehr erklären, jetzt ist sie im Himmel«, stellte er tiefsinnig fest.

»Ricky wird es uns schon erklären, wenn wir groß sind«, sagte Katja. »Ich verstehe das sowieso noch nicht.«

Indessen hatten Bernd und Henning die Fassung zurückgewonnen und sich auf diese beiden Vornamen geeinigt, weil Henning sich an Björn doch nicht so recht gewöhnen konnte.

»Es kann ja auch sein, dass ich Björn war«, sagte Bernd. »Wenn wir uns damals auch schon wie ein Ei dem anderen glichen, könnte sich Tante Hermine auch getäuscht haben. Nehmen wir also wenigstens das mit Humor, Henning.«

»All die vielen Jahre, und ihr habt es schwer gehabt«, sagte Henning gedankenvoll.

»Wie du siehst, geht es uns auch nicht schlecht«, meinte Bernd. »Und dass Tante Hermine diesen Tag noch erlebt, wird für sie die größte Freude sein. So muss ich sogar diesem Sörensen für sein Ränkespiel dankbar sein. Ohne ihn wären wir nie zusammengekommen.«

»Ich hätte nie etwas von meinen Kindern erfahren, und Henrike nicht kennengelernt«, sagte Henning gedankenvoll.

»Du bist von Ricky sehr beeindruckt«, sagte Bernd sinnend.

»Mehr als das, ich werde sie heiraten.«

»Hast du sie schon gefragt?«

»Ich werde sie heiraten, komme, was da wolle«, erklärte Henning. »Und ich hoffe, in dir einen Verbündeten zu haben.«

»Es geht nicht nur um Ricky, es geht auch um die Kinder, Henning«, sagte Bernd. »Vater werden ist nicht schwer, Vater sein dagegen sehr.«

»Das sagst du, der doch auch Vater ist?«

»Aber von der ersten Stunde an«, erwiderte Bernd. »Das ist der Unterschied. Und Melanie war nicht so eine Mutter wie Ute. Die Kinder haben sie Melli genannt, und wir sind zu der Erkenntnis gekommen, dass eigentlich Ricky ihre ganze Zuneigung besitzt.«

»Dann werde ich mir ihre Zuneigung über Ricky erobern müssen«, sagte Henning. »Und Rickys Ja mit Zustimmung der Kinder. Ich hoffe, es wird nicht allzu lange dauern.«

»Und dann geht ihr nach Kanada«, sagte Bernd leise.

»Für euch ist da auch viel Platz, Bernd, und für dich viel Spielraum. Ich hätte gern alles mit dir geteilt, das darfst du mir glauben. Aber sollten wir jemanden einen Vorwurf machen, dass wir auseinandergerissen wurden?«

Ein Lächeln legte sich um Bernds Mund. »Wir können von Glück sagen, dass sich einer des anderen nicht schämen muss. Jetzt fahren wir.«

»Sollten wir nicht vorher lieber anrufen, wie da die Stimmung ist?«, fragte Henning zögernd.

»Ich kenne meine Frau, und ich kenne Ricky auch schon ganz gut. Tante Hermine wird sehr aufgeregt sein und Tränen vergießen und dann überglücklich sein. Und vorher werden wir noch ein paar tolle Spiele für die Kinder besorgen. Für Mitbringsel sind sie immer zu haben.« Er zwinkerte vergnügt.

»Danke für den Hinweis, Bernd«, sagte Henning.

Als sie das Hotel verließen, folgten ihnen staunende Blicke, und Bernd sagte verschmitzt: »Ich möchte wissen, was die jetzt denken.«

»Was sollen sie schon denken. Es ist doch nicht zu leugnen, dass wir Zwillinge sind.«

*

Für die Kinder war ihr Auftritt ein überwältigendes Ereignis. Dann aber stürmte Tino seinem Papi entgegen.

»Ich kenne ja wenigstens deinen Anzug«, sagte er aufgeregt.

»Herzlich willkommen, Henning Schmitt«, sagte Ute. Ihre Augen waren feucht. »Lieber Schwager«, flüsterte sie gerührt.

Tante Hermine war keiner Worte fähig. Ihre Hände, die Henning ergriff, waren eiskalt und zitterten. Und dann rollten große Tränen über ihre Wangen.

»Es ist schön, dass wir wieder beisammen sind, nach all den vielen Jahren«, sagte er leise, aber sein Blick hing schon an den Kindern, die sich an Ricky drängten, und hüllte dann sie mit einem zärtlichen Blick ein.

»Er sieht wirklich genauso aus wie Onkel Bernd«, flüsterte Katja. »Direkt unheimlich«, raunte Bernd. »Wieso heiße ich eigentlich auch Bernd, Ricky?« Blitzschnell war ihm das plötzlich in den Sinn gekommen.

»Was meinst du, wie viele Männer Bernd heißen«, sagte sie hastig. »Nun schaut euch Henning mal genauer an.«

»Mag er Kinder?«, fragte Katja.

»Und wie sehr«, erwiderte Henrike.

»Er ist nicht wie Sörensen«, stellte Bernd fest.

Insgeheim konnte Ricky schon ein bisschen aufatmen, wenn auch die Kinder noch ein wenig skeptisch und vorsichtig auf Henning zugingen.

In seinem Mienenspiel zeigte sich zumindest für Henrike, was in ihm vorging. Ein Zucken lief über sein Gesicht, und seine Stimme wollte ihm nicht gehorchen, als er sagte: »Das ist also der kleine Bernd, und das ist Katja. Ricky hat mir schon von euch erzählt.«

»Ricky hat gesagt, dass Krieg war und ihr auseinandergekommen seid«, erklärte Bernd stockend. »Ich bin froh, dass Katja immer bei mir war. Wir sind nämlich auch Zwillinge.«

»Aber Bernd ist ein Junge und ich ein Mädchen«, sagte Katja.

»Und so leicht zu unterscheiden, obgleich ihr euch auch sehr ähnlich seht«, sagte Henning.

»Tino auch, du musst mal genau hingucken«, sagte Katja.

»Es ist komisch«, meinte Bernd nachdenklich. »Aber wenn Bernd unser Onkel ist, bist auch du unser Onkel.«

»So ist es«, sagte Ute rasch.

»Nun haben wir gleich zwei Onkels«, meinte Katja. »Ist toll.«

Und alle waren froh, dass Kinder von fünf Jahren eben doch nicht weiterdenken oder kombinieren konnten.

»Der Sörensen war da«, erinnerte sich Bernd plötzlich. »Der wird dumm gucken, wenn wir jetzt zwei Onkels haben.«

Katja kicherte. »Und der weiß bestimmt nicht, wer Onkel Bernd und wer Onkel Henning ist.«

»Was wollte er?«, fragte Henrike, denn Ute war noch nicht dazu gekommen, ihr davon zu erzählen.

»Dich wollte er sprechen, aber ich habe ihn heimgegeigt.«

»Er kann bleiben, wo der Pfeffer wächst«, sagte Bernd. »Wir können ja mit Onkel Henning nach Kanada fahren, da findet er Ricky nicht.«

Mit solcher Erklärung hatte niemand gerechnet, aber Henning fasste sich zuerst. »Eine sehr gute Idee, Bernd«, sagte er.

»Kanada ist aber sehr weit«, sagte Katja leise. »Und wir sind gern hier.«

»Wir werden noch darüber reden. Vielleicht kommen Onkel Bernd, Ute und Tino auch mit«, sagte Henning.

»Alle?«, staunte Bernd, während Ute ihrem Mann auch schon fragende Blicke zuwarf. »Und was sagt deine Frau, Onkel Henning?«

»Ich habe keine Frau.«

»Und nicht mal ein Kind?«, fragte Katja.

Da warf Henning Henrike einen um Hilfe heischenden Blick zu.

»Bis jetzt noch nicht«, erwiderte sie. »Aber einen richtigen Butler hat er, und ein wunderschönes Haus.«

»Ich zeige euch auf dem Globus, wo Kanada liegt«, sagte Henning. Den hatte er nämlich schon entdeckt.

Da scharten sich die drei Kinder um ihn und sahen ihn erwartungsvoll an.

»Hier ist München und da ist Kanada«, erklärte Henning.

»Und wo ist Bremen und Langeoog?«, fragte Bernd.

Auch dahin deutete Hennings Finger. Bernd seufzte zufrieden.

»Kanada ist jedenfalls viel weiter als Langeoog«, stellte er fest. »Und so weit warst du fort, Ricky?«

»Mit dem Flugzeug ist es gar nicht so weit«, erwiderte sie. »Und mir hat es sehr gut gefallen.« Und dabei warf sie Henning einen schelmischen Blick zu, der ihn sogleich tief aufatmen ließ.

»Aber wenn wir alle dahin fahren, muss Tante Hermine auch mit«, sagte Bernd.

»Du lieber Gott«, murmelte Tante Hermine.

»Ich schlage vor, dass wir jetzt erst mal ins Jagdschlössl zum Essen fahren«, warf Ute ein. »Auf so viele Hungrige bin ich heute nicht eingerichtet.«

*

Freilich mussten sie noch über so manches reden, was die Kinder nicht zu hören brauchten. Doch an diesem Abend konnten sie sich vorerst als Hauptpersonen fühlen.

In der Wahl ihrer Lieblingsspeisen stimmten sie völlig überein. Rahmschnitzel mit Spätzle und dazu Kopfsalat wurde ihnen serviert. Die Erwachsenen hatten sich übereinstimmend für Rehrücken entschieden. Da wurde dann allerdings so eine Riesenplatte gebracht, dass der kleine Bernd noch mal kräftig zulangte.

»Er hat immer Hunger«, stellte Katja fest, »deshalb ist er auch schon ein bisschen größer als ich.«

Sie bewies dann aber auch eine scharfe Beobachtungsgabe. »Eigentlich kann man die Onkel gar nicht verwechseln«, erklärte sie nachdenklich. »Onkel Henning hat nämlich einen Strich an der Wange.«

»Aber bloß einen ganz kleinen«, meinte Bernd. »Hast du dich da gekratzt, Onkel Henning?«

»Das habe ich schon von kleinauf. Es ist eine Narbe. Da hab’ ich mich als Baby mal mächtig gekratzt.«

Tante Hermine zuckte zusammen und ließ fast ihr Glas fallen.

»Weißt du das noch genau?«, fragte Katja. »Ich weiß nichts mehr, wie ich klein war.«

»Es wurde mir erzählt«, erwiderte Henning. Er sah Tante Hermine unsicher an. »Kannst du dich daran noch erinnern, Tante Hermine?«, fragte er.

Sie nickte, aber sie war ganz blass. Den Grund erfuhren sie erst zu Hause, als die Kinder dann schliefen. Spät genug war es ja schon geworden. Das waren sie gar nicht gewohnt.

»Die Schramme«, sagte Tante Hermine. »Ich dachte nicht, dass davon was bleiben würde. Dann bist du doch der Bernd und Bernd ist der Björn.«

»Ach, du liebe Güte«, sagte Bernd, »umtaufen lasse ich mich auf meine alten Tage nicht mehr. Ich bleibe Bernd.«

»Und ich lasse mich ganz gern Henning nennen. Henrike gefällt es.«

Nun war doch eine recht sentimentale Stimmung aufgekommen.

»Es ging ja alles drunter und drüber, als wir das Gut verlassen mussten«, erzählte Hermine gedankenverloren. »Ein paar Tage blieb Helga dann noch bei mir, und da ist eine kleine Katze in den Kinderwagen gesprungen und hat Bernd gekratzt. Ich habe mich so aufgeregt, und vielleicht ist auch so alles ein bisschen viel gewesen, dass ich zusammengeklappt bin. Für Helga ergab sich dann die Gelegenheit, mit einem Fuhrwerk zu ihren Eltern zu fahren. Da hat sie dann wohl tatsächlich den Bernd mitgenommen, vielleicht weil er ein bisschen kräftiger war als Björn.«

»Davon merkt man aber jetzt nichts mehr«, sagte Henning. »Bis auf die Schramme waren wir uns ja wohl auch damals zum Verwechseln ähnlich. Und jetzt spielt der Name keine Rolle mehr, denke ich. Du brauchst dir nicht nachträglich Vorwürfe zu machen, Tante Hermine. Ich denke nur, dass Mama sich um dich hätte kümmern müssen, als es ihnen schon gut ging, aber es ist jetzt müßig, darüber nachzudenken.«

»Sie fürchteten wohl, dass alles aufkommen könnte«, sagte Tante Hermine leise. »Wohl auch, dass du es nicht verstehen würdest.«

»Ich hätte jedenfalls gleich nach meinem Bruder geforscht«, sagte Henning. »Ich war doch ganz in der Nähe bei dir, Tante Hermine. Es soll niemandem mehr ein Vorwurf gemacht werden, und ich bin entschlossen, fortan mit Bernd alles zu teilen, was jetzt mir gehört.«

»Kommt doch gar nicht infrage«, sagte Bernd.

»Ich sehe das anders«, meinte Henning. »Wenn du dort aufgewachsen wärest, würdest du jetzt sicher nicht anders denken. Es ist für jeden genug da.«

»Du hast zwei Kinder, Henning«, sagte Ute.

»Und hoffentlich bekomme ich noch mehr, aber auch dann wird niemand darben. Wir werden darüber noch in aller Ruhe reden. Mir könnte es nur recht sein, wenn du das Gebiet Montreal übernehmen würdest und ich Vancouver. Der Name Schmitt hat einen guten Ruf, du würdest sofort respektiert. Und außerdem«, er lachte leise auf, »würde man sowieso nicht merken, dass man es mit einem anderen Schmitt zu tun hat.«

»Du nimmst alles mit Humor«, sagte Bernd. »So einfach geht das doch wirklich nicht.«

»Warum sollten wir es komplizieren, wenn Ute einverstanden ist«, meinte Henning.

»Und was sagt Henrike?«, fragte Ute ablenkend.

»Darüber werde ich noch mit Henning diskutieren müssen. Es gibt auch von Amts wegen einiges zu regeln, vergessen wir das nicht. Man wird die Kinder nicht ausreisen lassen, wenn nicht alles geklärt ist.«

»Ja, damit nehmen es die Behörden ganz genau«, sagte Ute.

»Dann werden wir uns auch darum baldigst kümmern«, erklärte Henning. »Jetzt muss ich aber ins Hotel zurück.«

»Blödsinn, du bleibst hier«, sagte Bernd.

»Ich räume sogar freiwillig meinen Platz im Ehebett und schlafe bei Ricky«, sagte Ute lächelnd.

»Und dir kann Bernd sogar mit frischer Wäsche aushelfen«, meinte Henrike neckend.

»Aber redet nicht die ganze Nacht. Morgen ist auch noch ein Tag«, sagte Ute.

Aber die beiden hatten ja noch so viel zu reden, während Ute und Ricky dann schon lange schliefen. Ute hatte nur gefragt: »Du magst ihn sehr, Ricky, das spürt man, und er dich auch.«

»Aber Melanie hat die Zwillinge geboren«, sagte Ricky leise. »Ich konnte nicht ahnen, wie sich das entwickelt.«

»Die Gegenwart zählt, Ricky, nur die Gegenwart, und ich muss sagen, dass ich nichts dagegen habe, nach Kanada zu gehen.«

»Ihr würdet es nicht bereuen«, flüsterte Ricky.

»Und du?«

»Ich denke an Melanie.«

»Sie ist tot«, sagte Ute.

»Einen solchen Menschen vergisst man nicht.«

*

Von Melanie wurde während der nächsten Tage kein Wort gesprochen. So wichtige Entscheidungen für die Zukunft standen ins Haus, dass kein Platz für Gedanken an die Vergangenheit war.

Tante Hermine dachte an ihr Häuschen und ihre Katzen und meinte, dass man alte Bäume nicht verpflanzen könne. Die Katzen wären jetzt auch untergebracht, meinte Ute dagegen, und sie könnte sich Kanada wenigstens mal anschauen.

»Ich bin zu alt«, war ihr Argument.

Dr. Norden, bei dem sie immer noch in Behandlung war, sagte ihr dann, dass er zwei alte Damen kenne, die bereits über achtzig wären und jedes Jahr nach Amerika fliegen würden, um Verwandte zu besuchen.

»Ich bin aber noch nie geflogen«, wandte Tante Hermine ein.

»Es gibt immer ein erstes Mal für alles«, meinte Dr. Norden lächelnd. So überrascht er von der unerwarteten Entwicklung war, fand er sich immer schnell bereit, alles ganz optimistisch zu sehen. Und auch Ute gab er die Zuversicht, dass für das werdende Kind zu dieser frühen Zeit noch nichts durch den weiten Flug zu befürchten sei.

An diesem Abend betrachtete Dr. Daniel Norden sein Zwillingspärchen besonders nachdenklich.

Christian und Désirée waren gerade vier Monate alt. »Bernd und Henning Schmitt waren noch kleiner, als sie auseinandergerissen wurden«, sagte er zu seiner Frau Fee. »Und nun haben sie nach so vielen Jahren einander gefunden.«

»Uns wird niemand auseinanderreißen, was auch immer geschieht«, sagte Fee. »Sich das vorzustellen ist schrecklich.«

»Es waren schreckliche Zeiten, Feelein, und ich möchte nicht wissen, wie viele Menschen es in aller Welt gibt, die nahe verwandt sind und nichts voneinander wissen. Man muss schon sehr dankbar sein, wenn einem solches erspart bleibt.«

»Sind sie sich wirklich so ähnlich?«, fragte Fee.

»Zum Verwechseln. Wenn mir einer allein begegnen würde, wüsste ich nicht zu sagen, wen ich vor mir habe.«

Für Torsten Sörensen sollte es ein schwerer Schlag werden, und eine Blamage, die er nicht so schnell verdauen sollte.

Henning und Henrike waren nach Bremen geflogen, um die Formalitäten zu klären und zu regeln.

»Du kannst dich überzeugen, dass die Kinder es auch hier gut gehabt hätten«, sagte Henrike, als sie Henning ihr Haus zeigte.

»Ich habe nie den leisesten Zweifel gehegt, dass dem nicht so sein könnte, aber ist es nicht besser, wenn sie nun Eltern bekommen?«, fragte er.

»Ich weiß noch immer nicht, wie wir es ihnen beibringen, dass du ihr Vater bist«, sagte sie.

»Lass uns erst drüben sein. Warum bist du nur so skeptisch, Ricky?«

»Für mich bleibt Melanie lebendig«, sagte sie leise. »Ich habe sie schließlich ein Leben lang gekannt.«

»Muss sie deswegen zwischen uns stehen?«, fragte er ernst. »Sie wollte mein Leben gar nicht teilen, und wenn sie mich geliebt hätte, wäre sie doch nicht fortgegangen.«

»Sie dachte vielleicht, dass sie nicht jung genug für dich wäre, jung genug, um ihr Leben noch zu ändern.«

»Oder ob ihr nicht bald ein anderer Mann besser gefallen würde«, warf er ein. »Schau mich nicht so vorwurfsvoll an. Sie hat es genauso zu mir gesagt. Und was mich betrifft, Ricky, ob es die wahre Liebe ist, kann man doch erst sagen, wenn man einen Menschen richtig kennt und mit ihm auch das Alltagsleben zum Erleben gestalten kann. Melanie hat mich für ein paar Tage an ihrem Leben teilnehmen lassen, aber es war ihr Leben, nicht unser Leben, Ricky. Für sie war ich eine Episode, das ist mir klar.«

»Aber sie hat von keinem anderen Mann ein Bild hinterlassen.«

»Vielleicht wollte sie es den Kindern später einmal zeigen, wenn die Fragen zu stellen begannen. Du liebst die Kinder, Ricky. Liebst du sie denn nur als Melanies Kinder, nicht auch als meine? Wenn ich dir sage, dass ich dich mehr liebe als die Kinder, dass ich es aber auch hinnehme, wenn du die Kinder mehr liebst als mich …«

Er kam nicht weiter. Sie warf ihre Arme um seinen Hals. »Aber nein, ich liebe dich, Henning«, flüsterte sie. »Es ist nur alles noch so unbegreiflich, so unwirklich.«

Er verschloss ihre Lippen mit einem langen Kuss. »Wir werden viel Zeit haben, alles zu begreifen, auch dieses grenzenlose Glück, dass wir uns gefunden haben.«

»Und was wird deine reizende Frau Ute dazu sagen, Bernd«, ertönte da eine zynische Stimme. Torsten Sörensen stand in der offenen Terrassentür, und noch kostete er seinen scheinbaren Triumph mit höhnischer Miene aus.

Ricky drehte sich blitzschnell um. Ihre Augen schossen Blitze, aber sie konnte sich beherrschen.

»An sich ist es ja üblich, dass man läutet«, sagte sie eisig. »Aber da du nun mal da bist, kann ich dir Bernd-Henning Schmitt vorstellen, den richtigen Vater der Zwillinge, den Zwillingsbruder von Bernd.«

»Und falls Sie Zweifel hegen, Herr Sörensen, können Sie Einsicht in meinen Pass nehmen. Aber Dank Ihrer selbstlosen Hilfsbereitschaft kann die Vaterschaft geklärt werden.«

»Reden Sie nicht solchen Stuss. Was soll das bedeuten? Wieso Hilfsbereitschaft?«, fauchte Sörensen.

»Sie haben doch das Vormundschaftsgericht eingeschaltet, und meine kluge zukünftige Frau hat keine Zeit und Mühe gescheut, um den richtigen Vater zu finden. So fühlen wir alle uns doch noch Ihnen zu Dank verpflichtet«, sagte Henning spöttisch.

»Ihr meint wohl, ihr könnt mich mit diesem Quatsch auf den Arm nehmen«, zischte Sörensen aggressiv. »Erst wird von einem Doppelgänger gefaselt, dann von einem Zwillingsbruder. Und du, Ricky, lässt dich von einem abgelegten Liebhaber von Melanie verschaukeln. Ich hätte dir mehr Charakter zugetraut.«

»Dir traue ich überhaupt keinen mehr zu«, sagte Henrike kalt. »Und jetzt verschwinde. Ute hat dich ja auch schon hinausgeworfen, aber jetzt hast du es mit einem Mann zu tun, der dir haushoch überlegen ist.«

»Einer von Melanies vielen Liebhabern«, höhnte Sörensen. »Sie hat es doch mit jedem getrieben, der ihr gerade gefiel.«

Henning ging auf ihn zu. Seine Miene war drohend. »Hinaus«, sagte er hart. »Noch ein Wort …« Aber das blieb Sörensen im Halse stecken, als Henning ihn mit hartem Griff hinausbeförderte. Sörensen verschwand.

»Er ist eigentlich ein ziemlich guter Sportler«, stammelte Ricky. »Ich hatte Angst, Henning.«

»Und nun wirst du keine mehr haben«, sagte er ruhig und schloss die Terrassentür. Zärtlich nahm er sie in die Arme. »Liebende sollten sich eben nie bei offenen Türen und Fenstern küssen«, raunte er ihr ins Ohr.

»Was er über Melanie gesagt hat, stimmt nicht«, schluchzte sie auf.

»Es geht uns nichts an«, sagte Henning ruhig. »Sie hat ihr Leben gelebt und musste früh sterben. Und ich bin froh, dass die Zwillinge dich davor bewahrt haben, an diesem Burschen hängen zu bleiben. Allein dafür werde ich sie lieben.«

»Bitte nicht nur deshalb, Henning. Sie sind dir doch so ähnlich«, flüsterte Henrike.

*

Die nächsten Tage gab es so viele Laufereien zwischen den Behörden, dass sie erst am Wochenende Zeit fanden, Melanies Grab zu besuchen. Es war mit einer schwarzen Marmorplatte gedeckt, auf der nur ihr Name stand, Immergrün war darum gepflanzt.

»Sie wollte nicht, dass hier Blumen verdorren«, sagte Ricky leise. »Sie hat Blumen geliebt, wie Kinder.«

»Und dich«, sagte Henning.

»Sie war wie eine große Schwester für mich und meine beste Freundin.«

»Und sie weiß nicht, was ich ihr alles zu verdanken habe, wofür ich Dank sagen möchte, Ricky. Ich möchte, dass wir noch in München heiraten und dann als komplette Familie nach Kanada fliegen.«

»Steht es denn schon fest, dass Bernd und Ute mitkommen?«

»Sie werden schon eifrig packen. Ich konnte meinen Zwilling überzeugen, dass wir lange genug getrennt waren.«

»Viel zu lange«, sagte sie, »aber es sollte wohl so sein.«

Den Abend verbrachten sie mit Dr. Ortmann, der ihnen so sehr geholfen hatte, alle Schwierigkeiten aus dem Wege zu räumen, und auch er ließ sich überreden, mit ihnen nach Kanada zu fliegen, wenn auch nur für ein paar Wochen.

»Ich muss mich hier ja auch noch darum kümmern, dass Henrikes Angelegenheiten geklärt werden«, erklärte er. »Für das Haus hätte ich allerdings schon einen Käufer.«

»Ich möchte schon manches mitnehmen«, sagte Ricky.

»Es wird alles verpackt und rübergebracht, mein Liebes«, sagte Henning. »Wenn du es wünschst, lasse ich dir genauso ein Haus bauen, damit du immer ein Stück Heimat hast.«

Sie sah ihn an. »Meine Heimat ist jetzt bei dir«, sagte sie. »Und wenn wir noch ein Haus bauen lassen, dann für die Kinder, und ich bezahle es.«

»Lassen wir uns nicht auf so ein Gerangel ein«, sagte er lächelnd. »Es wird sich alles finden.«

Und diesmal kamen sie mit ganz festen Vorstellungen nach München zurück, die sie nun den Kindern mitteilen wollten. Henning übernahm es.

»Also, jetzt passt mal auf, ihr beiden«, begann er. »Ihr habt doch nichts dagegen, wenn wir alle nach Kanada gehen.«

»Nur, wenn Ricky auch mitkommt«, sagte Bernd sofort.

»Natürlich kommt sie mit, und damit sie ja nicht auf den Gedanken kommt, anderen Sinnes zu werden, will ich sie heiraten.«

»Den Sörensen mag sie doch sowieso nicht mehr«, sagte Katja, während es diesmal Bernd war, der ihn mit verklärten Augen anblickte.

»Und dann sind wir eure Eltern und ihr unsere Kinder«, sagte nun Henrike, weil Henning den Faden verloren hatte.

»So richtig Mami und Papi, wie Ute und Bernd für Tino?«, fragte Bernd atemlos.

»Genau so«, sagte Henning.

»Dass wir auch Schmitt heißen?«, fragte Katja.

»Ihr werdet dann auch Schmitt heißen«, sagte Henning.

Katja ließ ihren Blick zwischen Henning und Bernd hin und her wandern.

»Bernd sieht dir ja sowieso ähnlich«, stellte sie fest. »Genauso wie Tino und Bernd.«

»Dann gibt es zwei Bernd Schmitts«, sagte der Junge.

Henning und Henrike tauschten einen langen Blick innigen Einverständnisses. Wie lange hatte es zwei Bernd Schmitts gegeben, und was war dadurch entstanden!

Und jetzt nahmen sie die Kinder in die Arme. »Märchen sind lange nicht so schön«, wisperte Katja. »Melli hat ja gesagt, dass du der beste Mensch auf der Welt bist, Ricky, aber sie täte sich mächtig freuen, dass wir richtige Eltern bekommen, meinst nicht?«

»Ja, sie würde sich sehr freuen«, sagte Ricky innig. »Und wir werden Melli nicht vergessen.«

Bernd wandte sich ab. »Bist du mächtig böse, wenn ich sage, dass jetzt alles viel, viel schöner ist?«, fragte er leise. »Es wäre doch blöd, wenn wir in die Schule kommen und die anderen Kinder fragen, warum wir keine Eltern haben.«

*

Das Leben, die Wirklichkeit, die Liebe waren eben doch stärker als alles andere. Und in diesem Glauben gaben sich schon zehn Tage später Henning und Henrike das Jawort auf dem Standesamt.

Die kirchliche Trauung sollte in Vancouver nachgeholt werden. Schwer fiel ihnen nur der Abschied von Dr. Norden, der Tante Hermine, Ute und die Kinder noch einmal gründlich untersuchte, ob sie auch der langen Flugreise gewachsen sein würden. Er hatte nichts auszusetzen. »Aber hören möchte ich schon, wie es dem Nachwuchs geht, auch dem noch zu erwartenden«, sagte er. »Und dass du mir ja kein Fieber kriegst, Tino.«

»Bestimmt nicht, Papi fliegt doch mit«, erwiderte der Kleine.

Zufällig flogen sie mit der gleichen Besatzung, mit der Henning und Henrike gekommen waren, und die staunten nicht schlecht, als es einen Mr Schmitt in zweimaliger Ausfertigung gab und dazu noch einen ganzen Familienclan.

Tante Hermine konnte sich behaglich zurücklehnen und fand es herrlich, so umsorgt zu werden.

»Wann fliegen wir denn endlich?«, fragte sie.

»Wir sind schon lange in der Luft, Tante Hermine«, lachte Henning. »Brauchst nur zum Fenster hinauszuschauen.«

Sie traute sich nicht so recht, aber dann war sie ganz aufgeregt. »Die Wolken sind ja unter uns«, rief sie aus.

»Und der Himmel über uns«, sagte Henrike.

»Da können wir Melli ja mal winken, vielleicht sieht sie uns«, sagte Katja.

Der kleine Bernd lehnte sich an Henning. »Wenn man tot ist, ist man tot«, sagte er leise. »Dann bleibt nur ein Grab, das hat neulich mal jemand im Radio gesagt. Das stimmt doch, Papi?«

»Man sollte es nicht so sagen, Bernd«, erwiderte Henning. »Und wenn man erwachsen ist, kann man alles besser verstehen.«

»Ich möchte noch lange nicht erwachsen sein. Wir möchten noch sehr lange eure Kinder bleiben, Papi«, flüsterte Bernd.

»Das seid ihr für immer«, erwiderte Henning weich.

»Und ihr passt auch auf, dass wir nie getrennt werden, gelt?«

»Das wird nie passieren.«

Katja und Tino schliefen schon. Sie merkten nicht, dass sie über den weiten Atlantik flogen, dass Tag und Nacht wechselten. Auch Bernd war dann eingeschlafen und die Erwachsenen auch, nur Tante Hermine nicht. Sie wurde von der Stewardess in den Fernsehraum geleitet, nachdem sie gesehen hatte, was an Bord alles geboten wurde, das wollte sie sich auch nicht entgehen lassen. Dass sie so etwas auf ihre alten Tage noch erleben würde, hatte sie sich nicht träumen lassen, und dass so viele Menschen in einem Flugzeug sitzen konnten, hatte sie nie glauben wollen.

Und dann sollte alles noch viel aufregender werden nach der Landung. Da stand Ben am Airport, beladen mit Blumen für die Damen und großen Teddybären für die Kinder. Und wie er strahlte, als Ricky ihm herzlich die Hände schüttelte, als die frei waren.

In der riesigen Limousine, mit der er gekommen war, hatten sie alle bequem Platz, und endlich fand auch der große Bernd wieder Worte.

»Es ist wohl doch das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, Henning«, sagte er rau.

»Jetzt ein Land mit begrenzten Möglichkeiten«, erwiderte Henning, »aber dir sollen alle offen stehen, Zwilling.«

Und das sollten Bernd und Ute schnell begreifen, während Tante Hermine noch lange meinte, nur zu träumen.

*

Dr. Ortmann kam vierzehn Tage später nachgereist. Er hatte noch die Verladung der Möbel überwachen müssen und auch sonst hatte er noch einiges zu erledigen gehabt. Wenn ihm sich, auch auf seine alten Tage, wie er sagte, schon noch eine Gelegenheit bot, Kanada kennenzulernen, wollte er diese auch nutzen.

Er wurde freudig empfangen und kam auch aus dem Staunen nicht mehr heraus, denn das hatte er doch nicht erwartet, dass Henning Schmitt über ein ganzes Imperium verfügte. Freilich waren hier ganz andere Dimensionen in diesem Riesenland mit nur 23 Millionen Einwohnern.

Doch auch hier zählte das Wort »Ohne Fleiß kein Preis«, und Tante Hermine hatte sich schon überzeugen können, wie schwer Henning Schmitt seinerzeit geschuftet hatte. Das konnte nun auch Dr. Ortmann.

Da gab es für Bernd wahrhaftig auch genug zu tun, und bis er mit allem vertraut war, sollten Ricky und Ute mit den Kindern auch noch zusammen unter einem Dach bleiben, da die Männer viel unterwegs waren.

Hier machte das Tino nicht so viel aus, denn er hatte ja Katja und Bernd, und außerdem wusste er nun, dass auch andere Väter oftmals reisen mussten.

Mit Hennings engsten Mitarbeitern waren sie schon bekannt gemacht, und die gewöhnten sich schnell daran, dass es zwei Schmitts gab, da an dem zweiten auch nichts auszusetzen war.

Die kirchliche Trauung sollte auch in größerem Kreis stattfinden, und es wurde ein wunderschönes Fest.

Ein ganzer Packen Fotos traf bei Dr. Norden ein und dazu ein langer Begleitbrief von Tante Hermine.

Henning hat mir einen Fotoapparat geschenkt, bei dem alles automatisch geht. Damit kann sogar ich fotografieren, schrieb sie. Es ist alles so schön, dass ich es gar nicht fassen kann, wie gut es die Zwillinge nun haben, Bernd und Henning meine ich, aber natürlich auch die Kleinen, und ich bin dankbar, dass ich es noch erleben kann. Meinem Bein geht es gut, und dafür möchte ich auch Ihnen nochmals herzlich danken.

Die anderen werden auch schreiben, aber noch haben sie kaum Zeit dazu. Es gibt sehr viele nette Menschen hier, aller Nationalitäten, und ich finde es sehr schön, dass sie gut miteinander auskommen. Auch für die Kinder ist das wunderbar. Sie lernen englisch und französisch so ganz nebenbei. Sie gehen auch schon gerne in den Kindergarten. Am allerschönsten für mich ist es jedoch, dass meine Buben nach all den vielen Jahren nun beisammen sind und bleiben und dass sie sich so gut verstehen. Aber es ist auch gut, dass es in der Heimat ein paar Menschen gibt, an die man sich so gern erinnert und die nicht vergessen werden.

Und die Nordens konnten sich an den Fotos freuen, an diesen frohen Gesichtern, an den wunderschönen Häusern, in dem sie nun fortan leben und zu Hause sein würden.

»Davon träumen wohl viele«, meinte Fee gedankenvoll.

»Und voller Illusionen wandern sie aus, um zu merken, dass es doch nicht das Honiglecken ist«, sagte Daniel. »Bei den Schmitts ist es ja anders. Da kann ich schon verstehen, dass man schnell heimisch wird.«

»Aber wir wandern nicht aus, gell, Papi?«, fragte Anneka.

»Nein, wir wandern nicht aus«, erwiderte er.

»Höchstens zur Insel der Hoffnung, zu Omi und Opi«, sagte Danny.

»Und was machen dann Papis Patienten hier?«, fragte Felix.

»Ach, übrigens, dass ich es nicht vergesse, Daniel«, sagte Fee. »In Schmitts Haus richtet ein Orthopäde seine Praxis ein.«

»Wie erfreulich. Hoffentlich taugt er mehr, als der Schnabel, damit ich meine Patienten nicht in die Stadt schicken muss, wenn es nötig ist.«

»In Schnabels Haus sind auch neue Leute«, erklärte Danny.

»Neue Leute?«, staunte Daniel.

»Ja, Schnabel hat sich still und unauffällig verzogen«, bestätigte Fee. »Er scheint allerhand Ärger bekommen zu haben.«

»Das wundert mich nicht, wenn einer so spritzt, dass gleich die Nadel stecken bleibt«, meinte Daniel.

»Frau Merkel hat gesagt, der war gar kein Doktor, der war ein Schratalan«, sagte Anneka.

Fee und Daniel sahen sich verdutzt an, dann lachten sie aber auf. »Scharlatan heißt das, Anneka«, berichtigten sie ihr Töchterchen.

»Aber Frau Merkel hat Schratalan gesagt«, behauptete Anneka. »Was ist das überhaupt?«

»Wenn jemand etwas behauptet, was er nicht ist«, erklärte Daniel.

»Dann ist das ein Betrüger«, sagte Danny.

»So kann man es auch nennen, aber wir können nicht behaupten, dass es auf Schnabel zutrifft, mein Junge. Also sag das nicht.«

»Ich werde mich hüten, Papi. Was geht mich der Schnabel an? Zu dem ist doch sowieso keiner mehr gegangen.«

*

Der Orthopäde Dr. Jörg Rosen stellte sich schon wenige Tage später bei Dr. Norden vor. Ein sympathischer Mann Mitte dreißig, zurückhaltend und anscheinend doch darauf bedacht, ein gutes Verhältnis zu den ortsbekannten Kollegen zu finden.

»Ich habe schon gehört, dass es ein Orthopäde hier nicht leicht haben wird, nachdem man keine guten Erfahrungen gemacht hat. Ich werde mich bemühen, die Vorurteile auszuräumen. Sie dürfen sich überzeugen, dass ich schon einige Jahre Berufspraxis habe, Herr Norden.«

Daniel Norden musterte ihn nachdenklich. Dann auch die Papiere, die ihm Dr. Rosen bereitwillig reichte.

»Ist es sehr indiskret, wenn ich frage, warum Sie nach München gekommen sind?«

»Ich wollte heiraten, meiner zukünftigen Frau zuliebe, aber sie hatte es sich inzwischen anders überlegt. Und dann wurde mir gesagt, dass es in diesem Viertel keinen Orthopäden gibt. Das Haus wurde mir angeboten, und es war nicht teuer. Die Vorbesitzer sind nach Kanada ausgewandert, es ging alles ziemlich schnell.«

»Ja, ich kenne die Familie Schmitt«, sagte Dr. Norden. »Ich war dort Hausarzt.«

»Mir wurde gesagt, dass Sie sehr beliebt sind, und ich dachte, dass Sie mir ehrlich sagen würden, ob ich hier überhaupt eine Chance habe.«

»Ein guter Arzt hat immer eine Chance«, sagte Dr. Norden mit einem flüchtigen Lächeln. »Es ist die Frage, wie Sie allein zurechtkommen.«

»Meine Schwester wird zu mir kommen. Sie arbeitet zur Zeit als Assistenzärztin in Berlin. Und eine Sprechstundenhilfe wird sich doch finden lassen. Es dauert ja noch vier Wochen oder auch noch länger, bis alles eingerichtet ist. Diese Durststrecke muss ich halt durchstehen.«

Dr. Norden überlegte rasch. »Da könnten Sie sich doch in der Behnisch-Klinik schon ein bisschen mit der süddeutschen Mentalität vertraut machen. Ich bin mit Dieter Behnisch befreundet. Er braucht dringend Unterstützung, da seine Frau mal Urlaub machen muss.«

»Aber ich bin kein Chirurg«, sagte Dr. Rosen.

»Immerhin haben Sie Medizin studiert und ein glänzendes Examen aufzuweisen. Knochenchirurgie ist Ihnen doch vertraut, und wenn Sie gut auskommen mit Dr. Behnisch, sind Ihnen für den Anfang schon ein paar Patienten sicher. Ich rufe gleich mal an, wenn es Ihnen recht ist.«

»Und wie willkommen mir das wäre. Das Herumsitzen behagt mir gar nicht«, sagte Dr. Rosen.

»Menschenskind, du bist eine Schau, Daniel!«, bekam Dr. Norden von seinem Freund Dieter Behnisch gleich zu hören. »Schick ihn her. Wenn er dir gefällt, gefällt er mir auch.«

Und so hatte Dr. Norden wieder einmal einem Kollegen helfen können. Wie oft er später noch mit ihm zu tun haben würde, konnte er an diesem Tag noch nicht ahnen.

Dr. Behnisch war schnell mit Jörg Rosen einig, und Jenny Behnisch konnte schon ein paar Tage später ihre Kur auf der Insel der Hoffnung antreten. Sie hatte eine Erkältung so sehr verschleppt, dass sie gar nicht mehr recht auf die Beine kommen konnte und erschreckend abgenommen hatte, dass es Dieter mit der Angst bekam.

Für Daniel war es eine große Beruhigung, dass Dieter ihm schon nach wenigen Tagen berichten konnte, dass Rosen tüchtig und zuverlässig wäre und zudem bereits über eine sehr gründliche Praxis verfüge.

So ging das Leben auch hier weiter wie im fernen Kanada. Da schien die Zeit allerdings Flügel zu haben. Ute war schon ganz hübsch rund geworden, viel runder, als sie es im fünften Monat bei Tino gewesen war. Beschwerden hatte sie allerdings nicht, und sie hatte sich noch nicht entschließen können, einen Arzt aufzusuchen. Ihr Haus war eingerichtet, und sie hatte auch kräftig Hand angelegt, obgleich sie hier über so viel Personal verfügen konnte, wie sie wollte.

Sie hatte es auch verwunden, dass sie nun doch recht weit von Ricky entfernt war, aber Tante Hermine war bei ihr, und Tino hatte nun auch schon Spielgefährten gefunden. Er sah es ein, dass sein Papi nicht ständig mit Onkel Henning beisammen hocken konnte, wenn ihm das auch lieber gewesen wäre. Aber da die Zwillinge Bernd und Katja nun schon zur Schule gehen mussten, war er doch gerne mit gleichaltrigen Spielgefährten zusammen. Da waren die verschiedensten Nationen versammelt, aber die Mütter hatten die gleichen Interessen, und Ute hatte hier viel schneller Kontakte gefunden als in München.

Freilich war es auch nicht von Nachteil, wenn man hier den Namen Schmitt trug, und wenn man sich auch keine Gedanken mehr zu machen brauchte, dass die kleine Bundesrepublik zum Spielball zwischen den Großmächten gemacht würde. Ute war auch für ihren Mann dankbar, dass sie die Chance ihres Lebens bekommen hatten.

Jeden Tag konnte sie mit Ricky telefonieren, ohne sich Gedanken machen zu müssen, dass die Telefonrechnung zu hoch werden würde. Und wenn sie jetzt auch nicht mehr fliegen wollte, um das Baby nicht zu gefährden, dann kamen Henning, Ricky und die Kinder zu ihnen, nur mal für einen Tag, mit dem Flugzeug.

Aber eines Tages sagte Ricky, dass sie das nun wohl auch einstellen müsse.

»Aber warum?«, fragte Ute ängstlich.

»Weil wir auch Nachwuchs bekommen«, erwiderte Ricky fröhlich, »und der Arzt meint, dass es für eine späte Erstgebärende doch nicht gut sei, sich zu viel zuzumuten. Aber du musst dich jetzt unbedingt untersuchen lassen, Ute. Dr. Rank hat mir hier einen Arzt empfohlen.«

»Ich habe überhaupt keine Beschwerden«, widersprach Ute, »und wenn ich bedenke, unter welchen Umständen unsere Männer zur Welt gekommen sind, sehe ich nicht ein, dass ich so viel Tamtam darum machen muss.«

Aber Ricky setzte ihren Willen durch. Sie brachte Ute zu Professor Collins. Zu Utes Beruhigung war er älteren Semesters, und er gab sich väterlich.

Als sie sagte, dass sie in München bei Dr. Norden gewesen sei, horchte er auf. »Ist das der Sohn von Dr. Friedrich Norden, der doch die Insel der Hoffnung gegründet hat?«, fragte er.

»Ich weiß nur, dass Dr. Daniel Norden und seinem Schwiegervater Dr. Cornelius dieses Sanatorium gehört«, sagte sie. »Ich war nie dort, aber es muss herrlich sein.«

»Johannes Cornelius«, sagte Professor Collins. »Warum vergeht die Zeit nur so schnell. Er hat eine bildschöne Tochter.«

»Ja, die ist mit Daniel Norden verheiratet«, sagte Ute. »Und sie haben fünf Kinder.«

»Fünf Kinder«, wiederholte er. »Sie war ein bezauberndes kleines Mädchen, als ich sie kennenlernte, süße Siebzehn, zum Verlieben.«

»Ich kann mir vorstellen, dass Dr. Norden verdammt eifersüchtig werden würde, wenn er das hörte«, entfuhr es Ute.

»Ich war damals doch schon Mitte dreißig«, meinte er lächelnd. »Aber jetzt waren Sie richtig schön entspannt. Sind Sie eigentlich auf Zwillinge vorbereitet?«

Ute richtete sich auf. »Ach, du lieber Himmel«, rief sie aus. »Manchmal habe ich es bloß so im Spaß gesagt. Aber wenn alles in Ordnung ist, werden wir das auch gelassen hinnehmen. Eigentlich sagt man doch, dass sich so etwas erst in der nächsten Generation wiederholt.«

»Das sind solche Weisheiten. Die Natur lässt sich nicht ins Handwerk pfuschen, und hier ist ja noch viel Platz für kleine Schmitts.«

»Sie haben auch Humor«, sagte Ute, aber nun war sie schon mit ihm vertraut.

»Ich werde Dr. Norden schreiben, dass mich Professor Collins betreut, der die Tochter von Dr. Cornelius bezaubernd fand, als sie süße Siebzehn war«, sagte sie schelmisch.

»Aber Sie können auch dazuschreiben, dass Collins mittlerweile drei süße Töchter von 12, 10 und 8 Jahren hat«, erwiderte der Professor lachend. »Und dass ich glücklich verheiratet bin. Meine Frau wird sich freuen, Sie kennenzulernen, Mrs Schmitt.«

Da gab es erst mal mit Ricky viel zu erzählen, und dann schrieb Ute an diesem Abend einen langen Brief an Dr. Norden und seine Frau, um ihnen mitzuteilen, dass sie bei Professor Collins in den besten Händen sei, und mit Zwillingen rechnen könne. Und noch vieles andere über ihr so glückliches Leben schrieb sie auch.

Und als Fee den Brief gelesen hatte, rief sie gleich ihren Vater an.

»Siehst du, Fee, so klein ist die Welt«, sagte Dr. Cornelius. »Aber schön ist es, wenn man in Erinnerung bleibt. Dieser Collins, ein rechter Treib­auf war das, kannst du dich nicht mehr an ihn erinnern?«

»Nein, Paps«, sagte Fee. »Für mich hat es halt immer nur einen Mann gegeben, obgleich ich manchmal eine rechte Wut auf ihn hatte, als ich siebzehn war. Wie geht es Jenny?«

»Prächtig. Man kann nicht immer schuften, man muss auch mal neue Kräfte schöpfen, Fee. Vielleicht sagst du das auch mal deinem Mann.«

»Sag du es ihm, Paps.«

»Von welchem Mann war da die Rede?«, ertönte Daniels Stimme, als Fee den Hörer auflegte.

»Ich weiß nicht, was du meinst«, sagte sie hintergründig.

»Der Mann, auf den du eine Wut hattest, als du siebzehn warst«, sagte er eifersüchtig.

»Auf wen schon, auf dich natürlich, da hast du mich doch kaum angeschaut, aber du kannst ja lesen, was Ute Schmitt schreibt. Es gibt noch einen Mann, der sich meiner erinnert, mein Schatz.«

Aber schnell konnten sie wieder gemeinsam lachen. »Die Zukunft scheint den Zwillingen zu gehören«, sagte Daniel. »Was machen unsere?«

»Keine Klagen. Mir ist es manchmal direkt unheimlich, wie brav sie sind.«

»Glückliche Eltern, zufriedene Kinder«, sagte er trocken.

*

So konnte man es im fernen Kanada auch sagen. Und die Monate vergingen.

Henning holte die Zwillinge von der Schule ab, das machte sonst Ben.

»Ist was los, Papi?«, fragte Bernd. »Kommt unser Baby etwa schon?«

»Das wäre doch ein bisschen zu früh«, sagte Henning. »Wir fliegen heute nach Montreal.«

»Mami darf aber nicht fliegen«, sagte Katja.

»Jetzt schon. Dr. Rank hat es erlaubt.«

»Aber unserem Baby passiert nichts«, fragte Katja beklommen.

Ihre Fürsorge für Ricky war so rührend, dass Henning erst in dieser Zeit so ganz die richtige Einstellung zu ihnen gefunden hatte.

»Du bist ein prima Daddy«, sagte Bernd plötzlich.

»Wieso?«, fragte Henning überrascht.

»Alle Kinder sagen das. Du bist ein ganz großer Mann, und es gibt bei uns überhaupt keine Kinder in der Klasse, die einen Vater haben, der so toll aussieht«, sagte Katja.

»Die Lehrerin hat heute über Vererbung geredet«, sagte Bernd. »Und wir wären das beste Beispiel, hat sie gesagt, weil wir euch so ähnlich sind. Ich dir und Katja Mami, obgleich wir Zwillinge sind. Es gibt nämlich sonst keinen Jungen in der Klasse, der seinem Vater so ähnlich sieht, und kein Mädchen, das seiner Mutter so ähnlich ist. Das mit den zweieiigen Zwillingen habe ich aber noch nicht richtig verstanden, Papi.«

»Ich auch nicht.«

»Wieso lernt ihr denn schon so etwas?«, fragte Henning.

»Das gehört dazu. Wir werden aufgeklärt«, sagte Katja.

*

»Findest du so etwas nicht ein bisschen zu früh, Ricky?«, fragte Henning, nachdem er sie von diesem Gespräch informiert hatte. Da saßen sie schon im Flugzeug.

»Ach was«, sagte sie. »Die Kinder kriegen doch auch mit, wie Babies zur Welt kommen. Jetzt horchen sie schon an meinem Bauch, wenn sich unser Baby rührt, und sie freuen sich. Das ist doch schön. Und nun werden sie erleben, wie Kinder ausschauen, wenn sie gerade auf die Welt gekommen sind. Ich kann es gar nicht mehr erwarten, Schatz. Hoffentlich kommen wir noch zur rechten Zeit.«

Tino kam ihnen schon entgegengelaufen, als sie die Klinik erreicht hatten. »Nicht mal ein Mädchen«, sagte er unwillig, »und sie schreien fürchterlich. Wenn das so weitergeht, komme ich zu euch.«

Es waren zwei Buben, aber sie waren schon ganz friedlich, als Ricky und Henning sie betrachten konnten.

»Wir haben beschlossen, sie Marc und Daniel zu nennen, damit es keine Verwirrung mehr mit den Namen gibt«, sagte Bernd.

»Wenn wir einen Sohn bekommen, wird er sowieso Henrik heißen«, sagte Henning.

Tino gab sich dann auch zufrieden, als Ricky ihm sagte, dass es Buben doch eigentlich leichter hätten im Leben.

»Wieso eigentlich?«, fragte er.

»Nun, als Männer könnt ihr euch die Frau aussuchen, die euch gefällt. Die Mädchen müssen schon warten, bis sie gefragt werden.«

»Wenn mir aber einer gefällt, dann kann ihn Bernd fragen, ob er mich heiraten will«, sagte Katja. »Oder ich bleibe immer bei euch.«

Das hat zum Glück noch lange Zeit, dachte Ricky. Gar so schnell enteilten die Jahre doch nicht, und jetzt waren sie zusammengewachsen zu einer großen Familie und dankbar für jeden Tag, da jeder von ihnen schon schwere Zeiten erlebt hatte. Sie wünschten nur, dass die Kinder froh und gesund heranwachsen würden. Die Nachricht von der Geburt der Zwillinge Marc und Daniel erreichte die Nordens bald, und Tante Hermine hatte sich inzwischen zu einer so perfekten Fotografin entwickelt, dass sie geradezu künstlerische Fotos beifügen konnte. Aber das allerschönste kam dann ein paar Monate später. Henning und Ricky hielten ihren Sohn Henrik in den Armen, und die Zwillinge knieten vor ihnen und blickten andächtig zu dem Baby auf. Ein Bild zum Freuen! Und von Professor Collins war ein Brief auf der Insel der Hoffnung eingetroffen, dass er sich im kommenden Jahr ein paar Wochen auf der Insel der Hoffnung erholen wollte.

»Vorgenommen haben wir uns ja auch schon viel«, sagte Anne Cornelius, »aber der Geist ist willig und die Arbeit muss getan werden.«

»Wie wäre es denn mit ein paar Wochen Kanada?«, fragte Johannes Cornelius.

»So schön wie bei uns kann es nirgends sein, Hannes«, sagte Anne. »Wir sind hier zu Hause und glücklich.«

Und die Schmitts waren es drüben. Und sogar Dr. Ortmann hatte sich überreden lassen, seinen Lebensabend bei ihnen zu verbringen, weil da die Menschen lebten, denen er zugetan war, die er vermisst hatte.

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