Читать книгу Bastard - Patricia Cornwell - Страница 11
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ОглавлениеWeil die Sicht in Küstennähe schlechter wird, ändern wir den Kurs in Richtung Philadelphia. Ich stelle die Gegensprechanlage wieder um, damit wir uns nach Marinos Befinden erkundigen können.
»Ist hinten bei dir alles in Ordnung?« Inzwischen habe ich mich ein wenig beruhigt und bin zu sehr mit dem langen schwarzen Mantel und dem erschrockenen Ausruf des Mannes beschäftigt, um Marino böse zu sein.
»Über New Jersey wäre es schneller«, verkündet seine Stimme. Er weiß, wo wir sind, denn der Bildschirm in der Passagierkabine zeigt eine Karte.
»Nebel, Eisregen und nahezu keine Sicht in Atlantic City. Und schneller ist es auch nicht«, entgegnet Lucy. »Wir werden die meiste Zeit auf ›Besatzung‹ schalten, damit ich mich mit der Flugwegverfolgung befassen kann.«
Marino wird wieder aus dem Gespräch ausgeschlossen, während wir uns von einem Tower zum nächsten lotsen lassen. Der Kartenausschnitt von Washington liegt aufgeschlagen auf meinem Schoß. Ich gebe ein neues GPS-Ziel ein, und zwar Oxford, Connecticut, für den Fall, dass wir auftanken müssen. Als wir die Wetterverhältnisse auf dem Radar beobachten, sehen wir, dass sich dichte grüne und gelbe Felder vom Atlantik her nähern. Lucy sagt, dass wir den Unwettern davonfliegen oder ihnen ausweichen können, solange wir uns im Landesinneren halten, der Wind uns gewogen ist und wir die Fluggeschwindigkeit erhöhen, die bereits beachtliche einhundertfünfzig Knoten beträgt.
»Wie fühlst du dich?« Ich halte weiter nach Mobilfunktürmen und anderen Flugzeugen Ausschau.
»Wenn wir erst einmal da sind, wird es mir bessergehen. Aber ich bin sicher, dass wir es schaffen, schneller zu sein als dieser Schlamassel.« Sie deutet auf den Bildschirm des Wetterradars. »Doch sobald ich auch nur die Spur eines Zweifels kriege, landen wir.«
Sie hätte mich nie abgeholt, wenn sie davon ausgegangen wäre, dass wir die Nacht auf irgendeinem Feld verbringen müssen. Also mache ich mir keine Sorgen. Vielleicht bin ich ja auch zu erschöpft, um mir über solche Dinge den Kopf zu zerbrechen.
»Das war eher eine allgemeine Frage. Wie fühlst du dich?«, spreche ich in das Mikrofon, das meine Lippen berührt. »Ich habe in den letzten Wochen oft an dich gedacht«, versuche ich weiter, ihr etwas zu entlocken.
»Ich weiß, wie schwierig es ist, unter diesen Umständen Kontakte zu pflegen«, erwidert sie. »Immer wenn wir glaubten, dass du zurückkommst, ist etwas passiert, bis wir die Hoffnung irgendwann aufgegeben haben.«
Das Ende meines Aufenthalts ist dreimal aufgrund von dringenden Angelegenheiten verschoben worden. Der Abschuss von zwei Helikoptern mit dreiundzwanzig Toten an einem einzigen Tag im Irak. Der Amoklauf in Fort Hood. Das Erdbeben in Haiti. Da das Rechtsmedizinische Institut der Streitkräfte zuständig war und jede Kraft gebraucht wurde, hat sich Briggs geweigert, mich aus dem Lehrgang zu entlassen. Und vor ein paar Stunden hat er mit seinem Vorschlag, ich solle doch in Dover bleiben, schon wieder versucht, meine Abreise hinauszuzögern. Anscheinend möchte er meine Rückkehr nach Hause verhindern.
»Ich habe schon befürchtet, dass wir in Dover eintreffen und herausfinden, dass du noch eine Woche, zwei Wochen oder einen Monat lang dort festsitzt«, fügt Lucy hinzu. »Aber du bist fertig.«
»Offenbar haben sie mich allmählich satt.«
»Wollen wir hoffen, dass du nicht gleich nach der Ankunft zurückmusst.«
»Ich habe die Abschlussprüfung bestanden. Es gibt nichts mehr zu tun. Außerdem muss ich ein Institut leiten.«
»Jemand sollte es leiten. So viel steht fest.«
Ich habe keine Lust, mir weitere Kritik an Jack Fielding anzuhören.
»Und ist sonst alles in Ordnung?«, frage ich.
»Die Garage ist fast fertig. Trotz Waschecke ist sie groß genug für drei Autos. Vorausgesetzt, ihr parkt hintereinander.« Sie gibt mir die neuesten Informationen zum Thema Bauarbeiten, was mich daran erinnert, wie sehr ich zu den Vorgängen in meinem eigenen Haus den Kontakt verloren habe. »Der Bodenbelag aus Kunststoff wurde schon verlegt, doch die Alarmanlage ist noch nicht fertig. Sie wollten sich nicht mit Kontakten in den Fensterscheiben abgeben, aber ich habe darauf bestanden. Leider hat eines der alten Originalfenster aus gewelltem Glas den Umbau nicht überstanden. Also zieht es momentan ein bisschen in deiner Garage. Wusstest du Bescheid?«
»Benton kümmert sich darum.«
»Nun, er war beschäftigt. Hast du die Frequenz für Millville? Ich glaube, es ist eins-zwei-drei-Komma-sechs-fünf.«
Ich konsultiere die Karte, bestätige die Frequenz und gebe sie in Comm 1 ein. »Wie fühlst du dich?«, versuche ich es erneut.
Ich möchte wissen, was mich – außer einem Toten in der Kühlkammer meines Instituts – zu Hause sonst noch erwartet. Doch Lucy verrät es mir nicht, und nun macht sie Benton zum Vorwurf, dass er beschäftigt ist. Solche Äußerungen meint sie nie wörtlich. Sie ist sehr angespannt und starrt abwechselnd auf die Instrumente, die Radarschirme und aus dem Fenster des Cockpits, als rechnete sie mit einem feindlichen Flugzeug, einem Blitzschlag oder einem Motorschaden. Ich habe den Eindruck, dass etwas nicht in Ordnung ist. Aber vielleicht liegt es ja auch an meiner Stimmung.
»Er hat einen wichtigen Fall«, ergänze ich. »Einen ausgesprochen unschönen.«
Wir wissen beide, welchen Fall ich meine. Sämtliche Nachrichtensendungen haben darüber berichtet. Johnny Donahue, Patient im McLean Hospital und Student in Harvard, hat letzte Woche gestanden, einen sechsjährigen Jungen mit einer Nagelpistole umgebracht zu haben. Benton hält das Geständnis für falsch, weshalb Polizei und Staatsanwaltschaft nicht sehr zufrieden mit ihm sind. Alle wünschen sich ein wahrheitsgemäßes Geständnis, weil sie die Vorstellung nicht ertragen, der Täter könne noch auf freiem Fuß sein. Ich frage mich, wie die heutige Begutachtung verlaufen ist, und denke an die Videoaufzeichnung, die zeigt, wie Bentons schwarzer Porsche 911 rückwärts aus unserer Einfahrt rangiert. Er war unterwegs ins McLean, um Johnny Donahues Fallakte zu holen, als ein junger Mann mit seinem Greyhound an unserem Haus vorbeiging. Das Kleine-Welt-Phänomen. Die soziale Vernetzung, die auf Erden miteinander verbindet.
»Lass uns eins-zwei-sieben-Komma-drei-fünf auf Comm 2 behalten, damit wir wissen, was sich in Philadelphia tut«, sagt Lucy. »Allerdings werde ich von ihrer Class B fernbleiben. Ich denke, das müsste zu schaffen sein, falls dieses Zeug von der Küste nicht noch näher kommt.«
Sie deutet auf die grünen und gelben Symbole auf dem Satelliten-Wetterradar, die zeigen, dass Niederschläge heranrücken, als wollten sie uns nach Nordwesten in die hell erleuchtete Skyline der Innenstadt von Philadelphia hineintreiben, bis wir gegen ein Hochhaus prallen.
»Mir geht es prima«, fügt sie hinzu. »Die Sache mit ihm tut mir leid. Ich merke dir an, dass du sauer bist.« Sie weist mit dem Daumen nach hinten auf Marino. »Was hat er denn angestellt, außer einfach nur so zu sein wie immer?«
»Hast du sein Telefonat mit Briggs mitgehört?«
»Das war in Wilmington. Ich war damit beschäftigt, den Treibstoff zu bezahlen.«
»Er hätte ihn nicht anrufen dürfen.«
»Das ist, als würdest du Jet Ranger verbieten zu sabbern, wenn ich die Tüte mit den Leckerbissen raushole. Vor Briggs den dicken Max zu markieren und sich in die Brust zu werfen ist bei Marino ein Pawlow’scher Reflex. Warum wundert dich das mehr als sonst?« Lucy fragt, als kennte sie die Antwort bereits und wollte weiter nachbohren, weil sie auf etwas Bestimmtes aus ist.
»Vielleicht weil daraus ein noch verzwickteres Problem als sonst entstanden ist.« Ich erzähle ihr, dass Briggs die Leiche nach Dover bringen wollte.
Dann erkläre ich ihr, der Leiter des Rechtsmedizinischen Instituts der Streitkräfte verfüge über Informationen, die er für sich behalte. Zumindest hätte ich den Verdacht, dass er mir etwas Wichtiges verschweigt. Vermutlich wegen Marino, ergänze ich. Weil er über meinen Kopf hinweg gehandelt und damit eine Lawine losgetreten hat.
»Ich glaube, das ist noch längst nicht alles«, meint Lucy. Im Funk wird ihre Flugnummer aufgerufen.
Sie drückt auf den Funkknopf und schaltet die Blattverstellung an. Während sie mit der Flugwegverfolgung spricht, gebe ich die nächste Frequenz ein. So wechseln wir von Flugraum zu Flugraum. Die Symbole auf dem Radarschirm sind inzwischen zum Großteil gelb und rücken uns von Südosten aus auf die Pelle. Sie weisen auf starke Regenfälle hin, die in dieser Höhe für gefährliche Bedingungen sorgen würden, wenn eiskalte Wassertropfen auf die Kanten der Rotorblätter treffen und dort festfrieren. Als ich auf der Frontscheibe aus Plexiglas nach Feuchtigkeit Ausschau halte, kann ich kein einziges Tröpfchen entdecken. Dabei frage ich mich, was Lucy mit noch längst nicht alles gemeint haben mag.
»Ist dir etwas in seiner Wohnung aufgefallen?«, hallt Lucys Stimme in meinem Ohr. Ich nehme an, dass sie von dem Toten und dem Video spricht, das die Kamera in seinem Kopfhörer aufgezeichnet hat.
»Du hast gesagt, das sei noch längst nicht alles«, beharre ich. »Verrate mir, was das heißen soll.«
»Das werde ich noch. Ich wollte es nur nicht in Gegenwart von Marino erwähnen. Er hat es nicht bemerkt und hätte es sowieso nicht erkannt. Ich habe ihn nicht darauf hingewiesen, weil ich zuerst mit dir reden wollte. Außerdem bin ich nicht sicher, ob er es überhaupt erfahren sollte.«
»Worauf hast du ihn nicht hingewiesen?«
»Vermutlich hatte Briggs keinen Hinweis nötig«, fährt Lucy fort. »Er hatte viel mehr Zeit als du, sich die Videos anzuschauen. Er und die Leute, denen er die Aufnahmen gezeigt hat, haben sicher das Metallobjekt neben der Tür entdeckt. Es sieht aus wie ein Insekt mit sechs Beinen, das jemand aus Drähten und verschiedenen Metallteilen zusammengeschweißt hat. Etwa so groß wie eine Waschmaschine und ein Trockner übereinandergestapelt. Die Kamera hat das Ding etwa eine Sekunde lang ins Bild gekriegt, als der Mann und der Hund sich auf den Weg nach Norton’s Woods gemacht haben. Du hast es ganz bestimmt nicht übersehen.«
»Ich hielt es für eine schlecht gemachte Metallskulptur.« Offenbar ist mir eine ihrer Schlussfolgerungen entgangen. Eine wichtige.
»Ein Roboter, und zwar nicht irgendeiner«, teilt Lucy mir mit. »Es handelt sich um einen Prototyp, der fürs Militär entwickelt wurde. Einen taktischen Transportroboter für den Kampfeinsatz, gedacht für die Truppen im Irak. Und dann hatte jemand einen anderen kreativen Vorschlag für seine Verwendung, der völlig in die Hose gegangen ist.«
Plötzlich fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Ein unbehagliches Gefühl steigt in mir auf, so dass es mir die Brust zuschnürt. Die Erkenntnis ruft eine Erinnerung wach.
»Dieses Modell hatte keine lange Lebensdauer«, spricht sie weiter, und inzwischen glaube ich zu wissen, was sie meint.
MORT. Mortuary Operational Removal Transport. Ein Gerät zur Bergung von Leichen auf dem Schlachtfeld. Gütiger Himmel.
»Es wurde nie in der Praxis eingesetzt und ist mittlerweile veraltet, nur noch ein Museumsstück. Man hat ihn durch Roboter mit Beinen ersetzt, die schwere Lasten auch über unebenes oder rutschiges Gelände tragen können«, erklärt sie. »Wie der Vierbeiner namens Big Dog, den man bei YouTube bewundern kann. Das verdammte Ding ist in der Lage, Hunderte von Kilo zu schleppen, und zwar den ganzen Tag lang und unter den unangenehmsten Bedingungen, die du dir nur vorstellen kannst. Es springt wie ein Hirsch und findet sein Gleichgewicht wieder, wenn es stolpert, ausrutscht oder getreten wird.«
»MORT.« Ich gebe mir einen Ruck und spreche das Wort aus. »Warum hat er einen Transportroboter wie MORT in seiner Wohnung? Anscheinend verstehe ich dich nicht richtig.«
»Hast du MORT mit eigenen Augen gesehen, als du auf dem Capitol Hill darüber debattiert hast? Und du verstehst mich ganz richtig.«
»Mit eigenen Augen nicht.« Ich kenne den Roboter nur aus Lehrvideos und hatte mehr als einmal Streit deswegen, insbesondere mit Briggs. »Wozu braucht er so ein Ding?«, erkundige ich mich noch einmal nach dem Roboter, der laut Lucy in der Wohnung des Toten steht.
»Ein unheimliches Teil. Wie eine riesige mechanische Ameise mit Benzinmotor«, fährt sie fort. »Es klingt wie eine Kettensäge, wenn es sich langsam auf seinen kurzen, dicken Beinen fortbewegt und zwei Paar Greifzangen ausstreckt wie Edward mit den Scherenhänden. Wenn so ein Roboter auf dich zukommt, haust du entweder so schnell wie möglich ab oder wirfst eine Granate nach ihm.«
»Aber warum in seiner Wohnung?« Ich erinnere mich an die Vorführungen, die mir Angst eingeflößt haben, und die hitzigen Diskussionen mit Kollegen wie Briggs beim AFME, im Walter Reed und im Russell Senate Office Building.
MORT. Das Sinnbild fehlgeleiteter Automatisierung, das heftige Konflikte in militärischen und medizinischen Kreisen auslöste. Das Grausige daran war nicht die Technologie an sich, sondern ihre mögliche Anwendung. Es war ein stickiger Sommermorgen in Washington. Die Hitze stieg von den Gehwegen auf, und es wimmelte von Pfadfindergruppen, die die Hauptstadt besichtigten, während Briggs und ich stritten. Wir schwitzten in unseren Uniformen und waren gereizt. Ich weiß noch, wie wir am Weißen Haus vorbei durch die Menschenmenge gingen. Dabei fragte ich mich, was wohl als Nächstes kommen würde. Welche Unmenschlichkeiten würde die Technik uns noch zumuten? Und das war vor einem knappen Jahrzehnt, verglichen mit heute, in der Steinzeit.
»Ich bin ziemlich sicher, ja sogar mehr als das, dass in der Wohnung dieses Typen so ein Ding steht«, verkündet Lucy. »Und so etwas kauft man nicht bei eBay.«
»Vielleicht ist es nur ein Modell«, mutmaße ich. »Nicht funktionstüchtig.«
»Auf gar keinen Fall. Als ich es näher herangeholt habe, konnte ich die Einzelteile genau sehen. Sie weisen Abnutzungserscheinungen auf, vermutlich von Demonstrationen in rauem Gelände. Es hat auch einige Kratzer abgekriegt. Ich konnte sogar die Fiberglaskabel erkennen. MORT war nämlich nicht drahtlos, eine seiner vielen Schwächen. Kein Vergleich mit den autonomen Robotern von heute, die mit Computern ausgestattet sind und durch am menschlichen Körper tragbare Sensoren gesteuert werden, so dass man keinen lästigen Koffer voll Elektronik mehr mit sich herumschleppen muss. So haben die Soldaten im Kampfeinsatz die Hände frei, wenn sie mit ihren Robotern unterwegs sind. Diese leichten Prozessoren, die man in eine Weste einarbeiten kann, um ein unbemanntes Fahrzeug oder einen bewaffneten Roboter zu lenken, sind die neueste Erfindung von SWORDS, dem Special Weapons Observation Remote Direct-Action System, der Abteilung, die für die Entwicklung ferngesteuerter Waffensysteme zuständig ist. Mir ist nicht sehr wohl bei dem Gedanken, und ich weiß ja, wie du darüber denkst.«
»Ich glaube, meine Haltung dazu kann ich gar nicht in Worte fassen«, erwiderte ich.
»Im Irak sind bis jetzt drei SWORDS-Einheiten stationiert, haben ihre Waffen allerdings noch nicht eingesetzt. Es kann nämlich niemand sagen, wie man einen Roboter dazu bringt, eine Situation richtig einzuschätzen. Künstliche emotionale Intelligenz. Eine ziemliche Herausforderung, aber gewiss nicht unmöglich.«
»Roboter sollte man nur für befriedende Maßnahmen, zur Überwachung und als Packesel verwenden.«
»Das findest du. Manche Leute sehen es anders.«
»Sie dürfen keine Entscheidungen über Leben und Tod fällen«, füge ich hinzu. »Das wäre, als würde der Autopilot bestimmen, ob wir durch die Wolken fliegen sollen, die da auf uns zukommen.«
»Der Autopilot könnte das, wenn mein Helikopter über Feuchtigkeits- und Temperatursensoren verfügen würde. Bau noch Kraftumformer ein, und er würde ganz allein und federleicht landen. Wenn genügend Sensoren vorhanden sind, werde ich überflüssig. Du steigst einfach ein und drückst auf einen Knopf wie die Jetsons, diese futuristische Zeichentrickfamilie. Klingt zwar verrückt, aber je verrückter, desto besser. Frag bei DARPA nach. Hast du eine Vorstellung davon, wie viel Geld die Forschungsbehörde des Verteidigungsministeriums in die Umgebung von Cambridge gepumpt hat?«
Lucy drückt den Hubkrafthebel herunter, so dass der Helikopter sinkt, und geht vom Gas, als sich wieder eine gespenstische Wolkenwand aus der Dunkelheit auf uns zuwälzt.
»Abgesehen von den Mitteln, die in dein CFC gesteckt wurden«, fügt sie hinzu.
Ihr Verhalten, ja sogar ihr Gesichtsausdruck hat sich verändert, und sie macht keinen Hehl mehr aus ihren Gefühlen. Ich kenne diese Stimmung nur zu gut. Ich habe sie zwar schon seit einer Weile nicht mehr so erlebt, bin aber damit vertraut wie mit den Symptomen einer Krankheit, die eine Weile geschlummert hat.
»Computer, Robotertechnik, synthetische Biologie, Nanotechnologie, je abgefahrener, desto besser«, spricht sie weiter. »Der verrückte Wissenschaftler ist ausgestorben. Inzwischen bin ich nicht mehr sicher, ob es so etwas wie Science-Fiction gibt. Erfinde die aberwitzigsten Gerätschaften, die du dir vorstellen kannst, und du wirst sehen, dass sie vermutlich schon irgendwo im Einsatz und Schnee von gestern sind.«
»Willst du damit andeuten, der Mann, der in Norton’s Woods ums Leben gekommen ist, hatte etwas mit DARPA zu tun?«
»Es muss irgendeine Art von Verbindung existieren. Ich weiß nicht, ob direkt oder indirekt«, antwortet Lucy. »MORT wird nicht mehr verwendet, weder vom Militär noch zu anderen Zwecken. Aber vor acht oder neun Jahren, als DARPA die Mittel für den Einsatz von Robotertechnik, Biotechnik und Information für militärische und geheimdienstliche Zwecke erhöht hat, war er der letzte Schrei. Außerdem ging es um Forensik und andere Anwendungen im Zusammenhang mit unseren Gefallenen und den Kampfhandlungen auf dem Schlachtfeld.«
DARPA hat die Erforschung und Entwicklung der Röntgengeräte finanziert, die wir in Dover und jetzt auch am CFC bei virtuellen Autopsien benutzen. Auch mein viermonatiger Lehrgang, der dann schließlich ein halbes Jahr lang gedauert hat, wurde von DARPA bezahlt.
»Ein erheblicher Prozentsatz der Forschungsmittel fließen an Labors in der Umgebung von Cambridge, nach Harvard und ans MIT«, fährt Lucy fort. »Erinnerst du dich, wie es war, als es plötzlich nur noch um den Krieg ging?«
Es wird zunehmend schwieriger, sich eine Zeit ins Gedächtnis zu rufen, in der das noch nicht der Fall war. Der Krieg ist in unserem Land zum wichtigsten Industriezweig geworden, so wie früher die Automobilindustrie, die Stahlbranche oder die Eisenbahn. Das ist die gefährliche Welt, in der wir leben. Ich glaube nicht, dass sie sich noch zum Besseren verändern wird.
»Die tolle Idee, Roboter wie MORT dazu einzusetzen, Gefallene auf dem Schlachtfeld zu bergen, damit Soldaten ihr Leben nicht für tote Kameraden aufs Spiel setzen müssen?«, hält Lucy mir vor Augen.
Das ist keine tolle Idee, sondern eine ausgesprochen bedauerliche. Und, wie ich damals dachte und bis heute denke, eine unglaublich idiotische. Briggs und ich waren in dieser Sache unterschiedlicher Meinung. Er wird es mir trotzdem nicht danken, dass ich ihn vor einem Tritt ins Fettnäpfchen bewahrt habe, das ihn vermutlich die Karriere gekostet hätte.
»An dem Projekt wurde eine Zeitlang mit aller Kraft geforscht, und dann hat man es ad acta gelegt«, ergänzt Lucy.
Und zwar, weil die Verwendung eines Roboters zu diesem Zweck voraussetzt, dass er die Fähigkeit besitzt, zu entscheiden, ob ein am Boden liegender Soldat, ein Mensch also, nur schwer verwundet oder nicht mehr am Leben ist.
»Das Verteidigungsministerium hat deswegen – zumindest intern – ziemlichen Ärger gekriegt, weil die Idee als eiskalt und inhuman galt«, sagt sie.
Und zwar zu Recht. Kein Mensch sollte in den Greifzangen eines Apparats sterben, der ihn vom Schlachtfeld, aus einem zerbeulten Fahrzeug oder den Trümmern eines eingestürzten Hauses zerrt.
»Worauf ich hinauswill, ist, dass die ersten Generationen dieses Roboters vom Pentagon unter Verschluss gehalten wurden. Entweder landeten sie auf einem geheimen Schrottplatz oder wurden wegen der Ersatzteile ausgeschlachtet«, erklärt Lucy. »Und trotzdem hat der Typ in deiner Kühlkammer einen in seiner Wohnung stehen. Wo hat er ihn her? Er muss Beziehungen haben. Auf seinem Couchtisch liegt Zeichenpapier. Vermutlich ist er Ingenieur oder etwas in dieser Richtung und an streng vertraulichen Projekten beteiligt, die eine hohe Geheimhaltungsstufe erfordern. Aber er ist Zivilist.«
»Was macht dich so sicher, dass er Zivilist ist?«
»Glaub mir, da würde ich jeden Eid drauf schwören. Er hat keine militärische Ausbildung und arbeitet eindeutig nicht beim militärischen Geheimdienst oder bei der Regierung. In diesem Fall würde er nämlich beim Spazierengehen nicht laute Musik hören und eine teure Pistole mit entfernter Seriennummer mit sich herumschleppen, was heißt, dass er sie vermutlich auf der Straße gekauft hat. Er hätte eine, die man nicht zu ihm zurückverfolgen kann. Eine, die man einmal benutzt und dann wegwirft …«
»Wir wissen nicht, zu wem sich die Pistole zurückverfolgen lässt«, betone ich.
»Soweit ich im Bilde bin, noch nicht, was ein Witz ist. Der Typ ist kein verdeckter Ermittler. Niemals. Ich glaube, er hat Angst«, verkündet Lucy, als handelte es sich um eine Tatsache. »Hatte. Jemand hat ihn überwacht, und nun ist er tot. Meiner Meinung nach ist das kein Zufall. Ich würde dir raten, extrem vorsichtig zu sein, wenn du mit Marino sprichst.«
»Manchmal ist er ein schrecklicher Trampel, aber er versucht nicht, mir zu schaden.«
»Sein Verständnis von Geheimhaltung beschränkt sich darauf, seine Fälle nicht mit seinen Kumpels beim Bowling zu erörtern und nicht mit Reportern zu sprechen. Sich Leuten wie Briggs anzuvertrauen, findet er hingegen völlig in Ordnung, weil er vor hohen Militärs viel zu viel Respekt hat.« Lucy ist so ernst, wie ich sie schon seit Ewigkeiten nicht mehr erlebt habe. »Er hätte sich an mich oder an Benton wenden müssen.«
»Hast du Benton dasselbe erzählt wie mir?«
»Ich überlasse es dir, ihm MORT zu erklären, weil er nicht verstehen wird, was das Problem ist. Er war nicht dabei, als du dich mit dem Pentagon herumgestritten hast. Du erläuterst ihm alles, und dann setzen wir uns alle zusammen und unterhalten uns. Das heißt, du, er und ich. Mehr Leute sollten im Moment nicht eingeweiht werden, weil du noch nicht weißt, wer wo steht. Zuerst musst du die verdammten Fakten klarkriegen und Freund und Feind unterscheiden können.«
»Wenn ich Marino in einem Fall wie diesem oder überhaupt einem Fall nicht vertrauen kann, wozu beschäftige ich ihn dann überhaupt?« Mein Tonfall ist scharf und gereizt, denn Marino einzustellen war ebenso Lucys Idee wie meine.
Sie hat mir zugeredet, ihm die Stelle als oberster Ermittler am CFC anzubieten, und ihn überzeugt, sie anzunehmen. Allerdings hat er sich nicht lange bitten lassen. Obwohl er es niemals zugeben würde, weicht er nur sehr ungern von meiner Seite, und als ihm klarwurde, dass ich nach Cambridge übersiedeln würde, hatte die New Yorker Polizei plötzlich ihren Reiz für ihn verloren. Er hatte kein Interesse mehr an Jaime Berger, der Staatsanwältin, deren Büro er zugeteilt war. Er geriet in einen erbitterten Streit mit seinem Vermieter in der Bronx. Er begann sich über die Steuern in New York zu beklagen, obwohl er sie bis dahin jahrelang klaglos gezahlt hatte. Er beschwerte sich, es sei eine Zumutung, nirgendwo Motorrad fahren oder einen Pick-up parken zu können, auch wenn er damals keines von beiden besaß. Er fand, es sei Zeit für einen Umzug.
»Es geht nicht um Vertrauen, sondern darum, seine eigenen Grenzen zu erkennen.« Es ist untypisch für Lucy, so viel Nachsicht zu zeigen. Für gewöhnlich tut sie ihre Mitmenschen einfach als böswillig oder unfähig ab und findet, dass sie die Strafe verdient haben, die sie über sie verhängt.
Nun schiebt sie den Hubkrafthebel leicht nach oben und justiert vorsichtig die Blattverstellung, damit wir schneller werden und um zu verhindern, dass wir zu weit steigen und in die Wolken geraten. Rings um uns herrscht stockfinstere Nacht. Streckenweise kann ich keine Lichter am Boden erkennen, ein Hinweis darauf, dass wir über Bäumen fliegen. Ich gebe die Frequenz von McGuire ein, damit wir den dortigen Luftraum überwachen und gleichzeitig das Traffic Collision Avoidance System im Auge behalten können, das der Vermeidung von Zusammenstößen in der Luft dient. Nirgendwo ist eine andere Maschine in Sicht. Durchaus möglich, dass wir heute Abend als Einzige unterwegs sind.
»Ich kann es mir nicht leisten, nachsichtig gegenüber den Beschränkungen anderer zu sein«, antworte ich meiner Nichte. »Was heißt, dass es vermutlich ein Fehler war, Marino einzustellen. Fielding war vielleicht ein noch größerer.«
»Nicht vielleicht und auch nicht zum ersten Mal. Jack hat dich in Watertown sitzenlassen und ist nach Chicago gezogen. Da hätte er meinetwegen auch bleiben können.«
»Der Gerechtigkeit halber muss man bedenken, dass uns in Watertown die Mittel gestrichen worden sind. Er wusste, dass das Institut wahrscheinlich schließen würde, und das ist ja dann auch geschehen.«
»Er ist nicht aus diesem Grund gegangen.«
Ich erwidere nichts, weil sie recht hat. Es ist tatsächlich nicht der Grund. Fielding wollte nach Chicago, weil seine Frau dort ein Stellenangebot hatte. Zwei Jahre später hat er mich gebeten, zurückkehren zu können. Er sagte, er vermisse es, für mich zu arbeiten. Ihm fehle seine Familie. Lucy, Marino, Benton und ich. Eine große, glückliche Familie.
»Es sind nicht nur die beiden. Du hast mit jedem dort ein Problem«, fügt Lucy hinzu.
»Also hätte ich niemanden einstellen sollen. Offenbar auch dich nicht.«
»Richtig. Ich bin nicht unbedingt teamfähig.« Lucy ist beim FBI und bei der ATF, der Behörde für Alkohol, Tabak und Feuerwaffen, rausgeflogen. Ich glaube, niemand kann ihr Vorschriften machen, nicht einmal ich.
»Nun, das ist ja ein hübscher Empfang«, meine ich.
»Das ist die Gefahr bei einer Einrichtung, die experimentellen Charakter und, ganz gleich, was alle auch behaupten, zivile und militärische Aufgaben hat. Die Verwaltung vor Ort und die Bundesbehörden wollen ein Wörtchen mitreden, und die Universitäten sind auch noch mit von der Partie«, verkündet Lucy. »Der Laden ist weder Fisch noch Fleisch. Deshalb wissen die Mitarbeiter nicht, wie sie sich verhalten sollen, und erkennen ihre Grenzen nicht, vorausgesetzt, dass sie sie überhaupt verstehen. Davor habe ich dich schon vor langer Zeit gewarnt.«
»Ich kann mich an keine Warnung erinnern. Nur an einen Hinweis.«
»Wir gehen auf die Frequenz von Lakehurst und geben durch, dass wir auf Sichtflug gehen, weil ich das Flugleitsystem verlasse«, beschließt sie. »Das schickt uns nämlich nur immer weiter nach Westen, wo uns die Seitenwinde um mehr als zwanzig Knoten bremsen und wir schließlich gezwungen sind, in Harrisburg oder Allentown zu landen und dort die Nacht zu verbringen.«