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PROLOG

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„HALLO? HAALLOOOO?“

Wie klingt eigentlich ein riesiges, leeres Fußballstadion? Kommt da ein Echo von den Tribünen?

Fragen, über die ich mir natürlich nie Gedanken gemacht hatte. Im Mai 2020 stand ich ganz allein auf dem Rasen des menschenleeren Hamburger Volksparkstadions und schrie die Tribünen an. Der Termin für den Neustart der Bundesliga stand fest, die Vorfreude stieg. Endlich wieder raus auf den Platz. Gleichzeitig war da dieses mulmige Gefühl. Wie wird das bloß laufen mit diesen „Geisterspielen“? Im Volksparkstadion versuchte ich ein Gefühl dafür zu bekommen.

Als ich einige Wochen später samstags im Auto nach Kiel saß, hatte ich fast drei Monate lang kein Fußballspiel gepfiffen. Meine beiden Coronatests in den Tagen zuvor waren negativ ausgefallen, nun stand meinem Comeback nichts mehr im Wege. Der sonst so belebte Vorplatz des Kieler Holsteinstadions war menschenleer. Ein Ordner mit Maske blickte auf das Kennzeichen meines Autos, glich es mit der Info auf seinem Zettel ab und ließ mich passieren. Ich fühlte mich wie in einem Sciencefictionfilm. Aber das hier war kein Film, sondern ein Punktspiel der zweiten Liga, Holstein Kiel gegen Arminia Bielefeld. Ein wichtiges Spiel für beide Teams.

Bloß nicht in der Stille des Stadions in Lethargie verfallen! Habe ich alle Regeln des gemeinsamen Hygienekonzepts des DFB und der DFL beachtet?, fragte ich mich, als ich mit Maske den Rasen zur ersten Platzbegehung betrat. Normalerweise würde sich das Stadion zu diesem Zeitpunkt langsam füllen, die Spannung steigen. Abklatschen zur Begrüßung und Smalltalk mit Trainern und Spielern – all das fiel nun aus. Der Blick auf die leeren Tribünen, wissend, dass es genau so bleibt und niemand mehr kommt, abgesehen von ein paar Journalisten. Ein seltsames Gefühl. Die Emotionen im Stadion fehlten, die bei mir einen positiven Druck auslösen. Aber ich gebe zu, dass die Situation auch Vorteile mit sich brachte. In der Schiedsrichterkabine gehen an einem normalen Bundesligaspieltag viele Menschen ein und aus (dazu später mehr), jetzt kamen nur die beiden Zeugwarte, um die Trikots ihrer Mannschaften zu präsentieren. Meine Assistenten und ich hatten die Kabine praktisch für uns. Eine ganz ungewohnte Ruhe. Ich ließ ein altes Ritual wiederaufleben. Früher hatte ich kurz vor dem Verlassen der Kabine immer den Spielball aufgenommen und ihn sechs, sieben Mal auf den Boden prallen lassen. Das war wie ein Startschuss und hatte mir Sicherheit gegeben. Irgendwann wurde jedoch das Protokoll geändert. Der Spielball lag nun nicht mehr in der Schiedsrichterkabine, sondern auf einer Stehle draußen auf dem Platz. Von dort nahm ihn eines der Einlaufkinder herunter, um ihn zum Mittelkreis zu tragen, was zusammen mit dem Einlauf des Teams schöne Kamerabilder gab. Bei Geisterspielen gibt es aber keine Einlaufkinder und ich pushte mich mit dem alten Tick. Konzentration. Raus aufs Feld, Anpfiff!

Während des Spiels verschwendete ich keine Gedanken an die ungewohnte Atmosphäre, sondern war auf die Partie konzentriert. Alles lief gut, generell hatte ich den Eindruck, dass weniger

Emotionen nach normalen, kleineren Fouls hochkochten. Fouls gibt es in jeder Partie, die Spieler merken aber, wann ein Foul aus der Situation heraus geschieht oder ob es „dreckig“, also hinterlistig ist. Diskussionen nach den normalen Fouls blieben weitgehend aus (ich bin gespannt, ob die Spieler dieses Verhalten

beibehalten, wenn wieder Zuschauer im Stadion sind). Die Gefahr ist, dass man als Schiedsrichter in Spielen ohne Fans zu großzügig ist. Ein gelbwürdiges Foul bleibt ein gelbwürdiges Foul, ob nun tausende Menschen die Karte fordern oder nicht. Mein erstes Bundesligaspiel vor leeren Rängen leitete ich in Bremen, Eintracht Frankfurt war der Gegner, es war eine hart umkämpfte Partie mit vielen Fouls, vor allem in der ersten Halbzeit. Hinterher habe ich mich gefragt, ob ich in zwei, drei Szenen eine Karte im voll besetzten Stadion möglicherweise gezeigt hätte. Die Fouls lagen im so genannten Ermessensbereich, die Karten wären gerechtfertigt gewesen. Ich habe den Ermessensbereich an diesem Tag maximal ausgereizt – lag das an den fehlenden Fans im Stadion?

Eine Frage, auf die es keine Antwort gibt. Ich werde nie wissen, ob ich in denselben Szenen vor vollen Rängen anders entschieden hätte.

Während auf den Tribünen Stille herrschte, ging es auf den Trainerbänken natürlich trotzdem emotional zur Sache, zum Beispiel im Spiel zwischen Kiel und Bielefeld in der letzten Minute. Ich versuchte den Druck mit einem Spruch ein bisschen rauszunehmen, als ich die Nachspielzeit ankündigte: „Wir spielen noch drei Minuten, damit wir uns alle noch ein bisschen aufregen können“ – meine Ansage landete im Spielbericht des Kicker. Im Normalfall ist es völlig unmöglich für Reporter, auf der Pressetribüne eines vollbesetzten Stadions Unterhaltungen auf dem Platz mitzuhören. Meine Art der Kommunikation habe ich nicht verändert. Sie gehört nun mal zu meiner Spielleitung.

Nach dem Abpfiff in Kiel war ich glücklich – trotz der besonderen Umstände fühlt es sich einfach gut an, wieder auf dem Platz zu stehen.

Zumal mein Neustart sich zusätzlich verzögert hatte. Im Hamburger Volksparkstadion hatte ich mich verletzt – immerhin nicht beim Versuch, das Echo des leeren Stadions zu testen. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich fast zwei Monate lang keine Fußballschuhe mehr getragen, keinen Platz betreten, mich vor allem mit Laufeinheiten im Freien und Krafttraining fit gehalten. Allein im Volksparkstadion simulierte ich für mich nun die Belastung eines Fußballspiels, absolvierte Dauerläufe, Sprints, Richtungswechsel nach Ballverlusten der imaginären Mannschaften um mich herum. Dabei verhärtete meine Wade, ich erlitt einen Faszienriss im Unterschenkel – nochmal drei Wochen Pause. Was für eine Saison … Letztendlich bin ich einfach froh und dankbar, dass sie im Mai überhaupt fortgesetzt werden konnte. Das war schließlich alles andere als selbstverständlich.

Die Coronakrise hat viele Sportler hart getroffen. Deswegen werde ich die Hälfte meiner Einnahmen für dieses Buchprojekt der „Sepp-Herberger-Stiftung“ des DFB zukommen lassen. Die älteste deutsche Fußballstiftung kümmert sich unter anderem um Sportler, die durch die Coronakrise unverschuldet in Not geraten sind.

Die richtige Entscheidung

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