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KAPITEL 1 EIN SAISONSTART ZUM VERGESSEN

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Ich war total enttäuscht, und zwar von mir selbst. Ich saß in der Wolfsburger Schiedsrichterkabine, starrte vor mich hin und fragte mich: Wie hatte mir das nur passieren können?

Das Spiel war gerade wenige Minuten vorbei, ich war völlig platt, körperlich und mental. In der Kabine herrschte gespenstische Stille, während auf meinem Handy eine Nachricht nach der anderen aufploppte. Uwe Kemmling, der Schiedsrichterbeobachter, schaute kurz herein. „Wir reden später“, sagt er nur. Er erkannte, dass ich kurz Ruhe brauchte. Ihm, meinen Assistenten, den Millionen Fußballfans da draußen, mir selbst – allen war klar: Ich hatte es verbockt, und zwar gründlich. Mein 27. Bundesligaspiel, am ersten Spieltag der Saison 2018/2019, war voll in die Hose gegangen.

Irgendwann steckte der Aufnahmeleiter den Kopf durch die Tür: „Patrick, die Journalisten warten auf dich.“

Spätestens, wenn das der Fall ist, dann weißt du, dass du als Schiedsrichter wirklich ein Problem hast.

Aber natürlich hatten sie Fragen. Aus einer gelben Karte hatte ich eine rote gemacht, später aus einer roten eine gelbe; dann hatte ich mich mit einem Trainer angelegt und am Ende auch noch Gelb und Rot vertauscht – zum ersten Mal in meiner Karriere! Kurz: ich hatte für ein heilloses Durcheinander auf dem Platz gesorgt.

Diese Partie zwischen dem VfL Wolfsburg und Schalke 04 war das schwerste Spiel meiner Karriere.

Aber, und das ist mir an dieser Stelle wichtig zu betonen: Die Entscheidungen auf dem Platz habe ich getroffen, niemand sonst! Ich suche keine Entschuldigungen und will mich nicht herausreden. Als Schiedsrichter ist es meine Aufgabe, Ruhe zu bewahren und alles im Griff zu haben, egal, wie hektisch es wird.

Der Arbeitstag hatte schon nicht gut begonnen. Es gab technische Probleme mit den Headsets. Ein Techniker sollte meine neuen Ohrstücke, vor der Saison individuell angepasst, vor dem Spiel einsetzen. Klappte aber nicht. Sascha Thielert, mein Assistent, meinte cool: „Zur Not pfeifen wir halt ohne. Haben wir früher ja auch hinbekommen.“ Recht hatte er. Aber ich war trotzdem genervt. Wochenlang hatten TV-Trailer die Vorfreude auf die neue Saison geschürt: „Die Bundesliga ist zurück!“ Als einer von neun Schiedsrichtern, die ein Spiel zum Bundesliga-Auftakt pfeifen durften, fühlte ich mich topfit und war hoch motiviert. Und dann stellte mir ein technisches Problem gleich ein Bein.

Endlich waren die Headsets zusammengebaut, aber wir gingen mit Verspätung raus auf den Platz zum Warmmachen. Das mag wie eine Lappalie klingen. Aber wenn man bedenkt, unter welch enormem Druck wir ohnehin schon standen … Das Spiel lief lange relativ ruhig, keine besonderen Vorkommnisse. Und dann kam die 55. Minute. Der Schalker Nastasic ging mit gestrecktem Bein in den Zweikampf gegen Weghorst. Norbert hob die Fahne

und rief „Gelb!“ ins Headset. Gelb war auch mein erster Gedanke, aber ich hatte keine optimale Position gehabt. Daher bat ich, während ich die Karte zog, den Video-Assistenten, die Szene zu überprüfen. Ich wollte mich absichern – und das war Quatsch! Denn ich hatte auf dem Platz auf Gelb entschieden, fertig, weiter. Komplett falsch war die Karte in keinem Fall.

Aber so schickte mich der Video-Assistent raus an den Spielfeldrand. Für ihn ging die Tendenz eher zu Rot. Ich fühlte die Blicke der 26 621 Fans im Stadion und der Spieler beider Teams auf mir lasten.

Mit jeder Zeitlupe, die ich mir auf dem Monitor wieder und wieder anschaute, wurde die Karte auch für mich roter: Nastasic war mit offener Sohle in den Zweikampf gegangen, das war nicht zu übersehen. Und so änderte ich meine Entscheidung und zeigte Rot.

Natürlich beschwerten sich die Schalker vehement. Ab jetzt war ordentlich Dampf im Spiel. In der 70. Minute gerieten Weghorst und Burgstaller aneinander. Der Schalker provozierte, der Wolfsburger verpasste ihm einen Kopfstoß vor die Brust – so sah es zumindest für mich aus. Meine spontane Reaktion: Gelbe Karte für beide. Das rief ich auch in mein Headset. Meine Assistenten indes plädierten für einen Platzverweis für Weghorst. Ich hörte auf sie – es gab keinen Grund, dies nicht zu tun – und zog Rot. Wieder war es eine klassische 50:50-Situation, falsch war die Entscheidung erneut nicht. Also kein Fall für den Video-Assistenten.

Weghorst war nach den üblichen Diskussionen schon auf dem Weg in die Kabine, da meldete sich der Video-Assistent. Er hatte anscheinend bemerkt, dass ich zweifelte, und riet mir erneut, zum Monitor zu gehen. Nach meiner nächsten Videosession fand ich

meinen ersten Eindruck bestätigt: So schlimm war die Aktion eigentlich nicht … Also nahm ich die Karte zurück, Weghorst durfte weiterspielen.

An dieser Stelle vielleicht ein Wort zum Vorwurf „Konzessionsentscheidung“, die gegen uns Schiedsrichtern gern mal erhoben wird. Spieltaktisch wäre es natürlich besser gewesen, bei Rot zu bleiben. Auf jeder Seite wäre einer runtergeflogen, ausgleichende Gerechtigkeit und weiter geht’s mit weniger Emotionen. Aber so läuft das nicht als Schiedsrichter. Jede einzelne Situation muss für sich bewertet werden.

Nach dieser zweiten Korrektur war das Spiel für mich gelaufen. Ich war nicht mehr der Spielleiter, der leitet, sondern der sich leiten ließ. Egal, was in den letzten 20 Minuten noch passieren würde, ich war nicht gut an diesem Tag. Jeder konnte das sehen.

Dann kam die 85. Minute. Die Mehrheit der Fans und selbst der betroffene Spieler hatten das Foul gar nicht wahrgenommen, ich schon. Wolfsburgs Brooks traf seinen Gegenspieler im Strafraum mit dem Fuß am Kopf, kurz vor der Torlinie. Die Sache war klar, in jedem Fall Strafstoß für Schalke. Während ich auf den Punkt zeigte, ratterte es in meinem Kopf: „Der Schalker kann einköpfen und der Wolfsburger tritt dem fast die Rübe ab, das ist dann Rot …“

Und dann tat ich etwas, das nicht dem 58-seitigen Protokoll des Video-Assistenten-Handbuchs entsprach. Ich entschied nicht selbst, sondern fragte in Köln nach: „Ist das Gelb oder Rot?“ Ich wollte keinen Fehler mehr machen und auf gar keinen Fall noch einmal raus zum Monitor.

Die Antwort aus Köln war Gelb. Und dann kam der Tiefpunkt. Noch nie zuvor hatte ich die Karten vertauscht. Aber jetzt, in Wolfsburg. Das Vertauschen der Karten ist natürlich eine Schmach für den Schiedsrichter. Jetzt musste dem Letzten klar sein, wie durcheinander ich war. Anstatt Brooks die Gelbe Karte zu zeigen, griff ich zu Rot. Zwar korrigierte ich mich sofort, nahm die falsche Karte weg und hielt ihm die richtige unter die Nase. Aber alle hatten den Fauxpas mitbekommen. Das war der ultimative Nackenschlag. Ich wollte nur noch, dass es vorbei ist.

Es war aber noch nicht vorbei. An der Seitenlinie regte sich Schalkes Trainer Domenico Tedesco mächtig auf. Normalerweise kriege ich das nicht mit, der Vierte Offizielle kümmert sich draußen um so etwas. Er hat einen „Push-to-talk-Button“ am Headset. Nur wenn er den Knopf drückt, höre ich etwas. Womit wir wieder bei der Technik wären. Der Knopf funktionierte nicht, ich bekam das Gezeter am Spielfeldrand in voller Länge mit, und irgendwann platzte mir der Kragen. Ich ging raus zur Trainerbank und sagte Tedesco, dass ich sein Verhalten inakzeptabel fände. Ein Wort gab das andere, wir schrien uns an, gestikulierten wild durch die Gegend. Schließlich legte ich Tedesco meine Hände auf die Oberarme, um ihn zu beruhigen. Das war keine gute Idee. In jedem Kommunikationsseminar lernt man, dass man sein Gegenüber im Streit auf keinen Fall anfassen soll. Tedesco zog seine Arme weg, und jeder im Stadion und am TV konnte sehen, welchen Stress wir miteinander hatten.

Und noch immer war es nicht vorbei. Es stand 1:1, und in der Nachspielzeit erzielte Wolfsburg noch den Siegtreffer. Das Tor war unstrittig, das schon. Aber es sorgte für erneute Unruhe und brachte zusätzliche mediale Aufmerksamkeit. Nach dem Abpfiff stürmten die Schalker, Spieler wie Verantwortliche, auf mich zu. Das Spiel war vorbei, aber jetzt ging die Reise erst richtig los. „Lasst uns das drinnen klären“, versuchte ich sie zu beruhigen. „Ich weiß doch, was hier heute los war.“ Auch mit Trainer Tedesco sprach ich, nicht mehr ganz so emotional wie noch wenige Minuten zuvor, aber klar: Die große Versöhnung auf dem Platz blieb aus.

Da saß ich nun in der Kabine. Keiner sagte ein Wort. Stille. Innere Leere. Tiefe Enttäuschung. Und dazu die Nachrichten auf meinem Handy, zum Teil von Leuten, zu denen ich ewig keinen Kontakt gehabt hatte:

„Geiles Spiel!“

„Hast ja ordentlich Theater gehabt!“

„Da hast du ja mal richtig aufgeräumt …“

Mir war klar, ich musste mit den Reportern sprechen. Nicht, um mich zu rechtfertigen, erst recht nicht, um mich zu entschuldigen. Sondern um aufzuklären. Ich hatte mitbekommen, dass Domenico Tedesco auf der Pressekonferenz gesagt hatte, er sei von mir „durchbeleidigt“ worden. Ich musste klarstellen, dass ich ihn nicht beleidigt hatte. (Das sage ich auch heute noch. Ich war emotional und deutlich in meiner Wortwahl – beleidigt habe ich den damaligen Schalke-Trainer aber nicht.) Außerdem wollte ich die beiden Situationen, in denen der Video-Assistent eingegriffen hatte, erläutern. Von den technischen Defekten, dem ganzen Druck zu Saisonbeginn erzählte ich nichts. Ich sprach „von einem der schwersten Spiele meiner Schiedsrichterkarriere“ und ließ so einen kleinen Einblick in mein Seelenleben zu.

REGELFRAGEN

1

Nach einem Tor für sein Team jubelt der Torwart ausgiebig mit seinen Mitspielern auf Höhe des eigenen Strafraums. Ein Gegenspieler, der den Anstoß ausführt, erkennt dies und schießt den Ball nach Freigabe durch den Schiedsrichter direkt und ohne weitere Berührung ins gegnerische Tor. Zählt der Treffer? (Gerne mit Begründung!)

Die richtige Entscheidung

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