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KAPITEL 3 ERFOLGSERLEBNISSE – MEINE HOCHGEFÜHLE

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Ich sehe nur einen begrenzten Ausschnitt des Spielfelds, dazu das Rauschen des vollbesetzten Stadions, das in den Spielertunnel dringt, ein Mix aus Jubel, Musikfetzen und den Ansagen des Stadionsprechers. Ich stehe inmitten der Spieler, die meisten von ihnen blicken angespannt geradeaus. Auch die Einlaufkinder sind aufgeregt, ihre Augen leuchten wie die Lichter der TV-Kameras. Endlich geht’s raus. Hochgefühl.

Eine Welle der Begeisterung schwappt uns entgegen. Heim- wie Auswärtsfans, alle freuen sich auf das Spiel. Es ist der ultimativ positive Moment. Druck spüre ich keinen, da ist einfach nur Vorfreude. Ich habe denselben Ehrgeiz wie die Spieler: Ich will zeigen, was ich kann, und dies auf der ganz großen Bühne.

Schiedsrichter in der Fußball-Bundesliga zu sein, ist ein Privileg. Im Moment des Einlaufens wird mir dies jedes Mal besonders bewusst. Ich versuche die Atmosphäre in mich aufzusaugen. Für einen kurzen Augenblick gelingt es mir, bei mir zu sein. Ich denke an meine Eltern, die mich von oben beobachten, da bin ich mir sicher. Ich denke an meine Familie, sehe mich als jungen Schiedsrichter auf dem Fußballplatz in Hamburg-Billstedt.

Das anfängliche Hochgefühl versuche ich mit in die ersten Minuten des Spiels zu nehmen. Das ist gar nicht so einfach. Mit dem Anpfiff verändert sich die Atmosphäre schlagartig. Die Musik geht aus. Der Stadionsprecher schweigt. Die meisten Zuschauer im Stadion setzen sich erst mal. Nun zählt nur noch das Spiel. Ich muss sofort voll da sein – keine Zeit mehr, an meine Anfänge auf Hamburger Fußballplätzen zu denken.

Im November 2016 in Mainz habe ich nach acht Sekunden gelb gezeigt. Der damalige Freiburger Florian Niederlechner war mit gestrecktem Arm in einen Luftzweikampf gegangen – bis heute die schnellste Gelbe Karte seit Beginn der Datenerfassung. Die beiden schnellsten Tore der Bundesligageschichte fielen nach je neun Sekunden. Ab dem Anpfiff kann alles passieren. Sofort.

Das Hochgefühl beim Einlaufen zeigt mir, dass alles in Ordnung ist. Wenn es irgendwann nicht mehr da sein sollte, müsste ich mir Gedanken machen.

Übrigens: In der zweiten Halbzeit ist die Stimmung, wenn wir den Tunnel verlassen und den Rasen betreten, ganz anders. Es gibt kein gemeinsames Auflaufen. Die ersten 45 Minuten sind gespielt, und je nach Blickwinkel pfeifen manche Fans, wenn der Schiedsrichter das Feld betritt. Wer sich das ersparen will, verlässt den Tunnel gemeinsam mit der Heimmannschaft – die wird nämlich fast nie ausgepfiffen im eigenen Stadion.

Auch Schiedsrichter haben Erfolgserlebnisse. Und das sogar regelmäßig, denn die meisten Spiele laufen gut, sowohl im Amateurbereich wie im Profifußball. Chaosspiele mit krassen Fehlentscheidungen bleiben zwar im Gedächtnis, aber sie sind die Ausnahme. Zum Glück, denn sonst wäre es ein grausames Hobby.

Eine richtige Entscheidung kann dagegen ein Hochgefühl auslösen. Gut, es muss schon ein bisschen mehr sein als ein korrekt angezeigter Einwurf im Mittelfeld. Eine richtig antizipierte Vorteilssituation zum Beispiel. Im April 2015 in Kaiserslautern bot sich mir einmal sogar die Möglichkeit, mein Erfolgserlebnis zu bejubeln. Ich hatte die Arme nämlich eh schon oben. Ein FCK-Spieler lief im Zweitligaspiel gegen Heidenheim auf das Tor zu und wurde im Strafraum gefoult. Klare Sache: Strafstoß, Rote Karte (damals gab es die „Doppelbestrafung“ noch). Ich führte die Pfeife schon zum Mund, als ich sah, dass der Ball frei lag und ein Mitspieler des Gefoulten heransprintete. Eine klassische Vorteilsituation, in der es darum geht, dem ersten Reflex zu widerstehen. Der erste Reflex bei einem klar erkannten Foul ist nun mal der Pfiff. Die Ideallösung aber ist kurz zu warten, zu antizipieren, laufen zu lassen. Diese Situationen sind nicht leicht zu erkennen, denn ich muss abschätzen, ob sich tatsächlich ein Vorteil ergeben wird, oder ich das Foul besser pfeife. In Kaiserslautern pfiff ich nicht, hob stattdessen beide Arme und streckte sie leicht nach vorn – das Zeichen für den Vorteil. Der Spieler nutzte die Chance und schob den Ball ins Tor. Perfekt gelaufen. Nach der Szene nimmt man die Arme normalerweise wieder runter, ich ließ sie aber oben und rannte durch den Strafraum zurück in Richtung Mittelkreis. Fast so, als hätte ich das Tor selbst geschossen. Hochgefühl. Was ist denn mit dem los, werden sich einige Fans wohl gedacht haben. Ich musste keinen Strafstoß geben, konnte das Spiel laufen lassen und der größtmögliche Vorteil entstand: ein Tor. Eine Szene aus dem Regelbilderbuch. Was für den Stürmer der Schuss in den Winkel ist, ist für mich eine solche Entscheidung – ein echtes Erfolgserlebnis eben. Mit einem kleinen Unterschied: mich bejubeln nicht 40.000 Menschen, deswegen muss ich das halt selbst übernehmen. Obwohl, drei potenzielle Jubler gibt es schon im Stadion. Die beiden Assistenten und der Vierte Offizielle wissen natürlich, wie sich diese Entscheidung für mich anfühlt und freuen sich über den Funk mit: „Weltklasse! Sensationell!“

Am besten fühlen sich die klaren Entscheidungen an. Die, die wichtig sind und von niemandem auch nur ansatzweise infrage gestellt werden. Das kommt in dieser Konstellation tatsächlich relativ selten vor. Ich hatte im Bundesligaspiel zwischen Paderborn und Mainz 05 zwei solcher Szenen. Ich gab zwei Strafstöße, einen nach einem Handspiel, den anderen nach einem Foul. Beide Szenen waren sonnenklar. Klingt also nicht nach einer großen Leistung, aber trotzdem kam das Hochgefühl. Der Stürmer freut sich ja auch, wenn er den Ball aus kurzer Distanz ins leere Tor schiebt. Man muss schließlich auch erst mal richtig stehen, um die Chance zu nutzen.

In Paderborn wollte kein einziger Spieler diskutieren – ein sehr sicheres Zeichen, dass die Entscheidung richtig war. Ich hatte sofort gepfiffen, bewegte mich entschlossen Richtung Elfmeterpunkt. Es gibt nichts Besseres, als eine wichtige Entscheidung zu treffen, die akzeptiert wird.

Das nächste meiner Hochgefühle beinhaltet eine Gefahr. Wenn ein Spiel gut für mich läuft, schleicht sich irgendwann das Gefühl ein: „Mir kann hier heute nichts mehr passieren!“ Ein Hochgefühl, das aus einer vermeintlichen Sicherheit heraus entsteht, aber eigentlich gegen jede Vernunft ist. Denn jeder, der sich ein bisschen mit Fußball auskennt, weiß: Es kann ständig alles passieren. Erwarte das Unerwartete – ein Leitspruch für Schiedsrichter. Eine Fehlentscheidung in der Nachspielzeit kann einen ganzen Arbeitstag zerstören.

„Mir kann hier heute nichts passieren“ – ich gebe zu, das klingt beim ersten Hören nach Eigenlob, womöglich sogar überheblich. Eigenlob stinkt, besagt das alte Sprichwort. Ich lebe auf dem Platz aber davon, dass ich mich gut und sicher fühle. Dafür brauche ich unbedingt Erfolgserlebnisse. Die gefühlte Sicherheit entsteht niemals in der ersten Halbzeit, sondern im Verlauf der zweiten. Wenn die Klarheit der Entscheidungen stimmt, ich mich körperlich fit fühle, die Akzeptanz der Spieler habe und völlig frei im Kopf bin. Überheblichkeit darf auf gar keinen Fall entstehen. Die Körperspannung muss aufrechterhalten bleiben, ich muss weiterlaufen, darf keinen Schritt weniger machen. „Leute, jetzt noch mal zehn Minuten die Spannung halten“, rufe ich ins Headset in Richtung meiner Assistenten, in erster Linie meine ich damit aber mich selbst. Im Amateurbereich gab es früher auch gerne mal kurz vor Schluss die drei erhobenen Finger als Zeichen an die Assistenten. Das bedeutete nicht etwa drei Minuten Nachspielzeit, sondern: Wir können schon mal drei Bier bestellen, hier brennt nichts mehr an! Wird man in der Bundesliga nicht sehen.

Nach dem Abpfiff kann wirklich nichts mehr passieren. Durchatmen. Für Schiedsrichter gibt es keinen Applaus, den erwartet auch niemand. Die Fans kommen ins Stadion, um das Spiel und die Fußballer zu sehen, nicht die Schiedsrichter. Obwohl meine Assistenten und ich einmal doch unter Beifall den Platz verließen – und die Fans meinten es nicht ironisch! In Cottbus – es war der letzte Spieltag der Saison 2009/2010 – erlitt Assistent Stefan Trautmann einen Muskelfaserriss, der Vierte Offizielle musste einspringen. Als wir nach dem Abpfiff mit unserem angeschlagenen Kollegen langsam vom Feld gingen, erhoben sich die Zuschauer von ihren Sitzen und applaudierten. Das fanden wir richtig stark, eine sehr faire Geste der Cottbusser. Wir grüßten zurück. Ein kurioser, völlig ungewohnter, aber sehr schöner Moment. Für Fußballer mag das Alltag sein, für uns eben nicht. Deswegen zähle ich dieses Erlebnis auch nicht zu den klassischen Hochgefühlen – kommt einfach zu selten vor.

Das letzte meiner Hochgefühle steigert sich schrittweise, je näher ich der Kabine komme. Nach dem Abpfiff klatschen wir Schiedsrichter uns in der Regel dezent ab. Fast immer kommen die Spieler und Trainer beider Mannschaften zu uns und wir geben uns die Hand. Das muss ich an dieser Stelle mal erwähnen: Grundsätzlich ist der Umgang im Profifußball wirklich gut und von gegenseitigem Respekt getragen. Während des Spiels ist jeder auf seine Aufgabe fokussiert, nimmt jeder die ihm bestimmte Rolle ein, davor und danach reden wir wieder ganz normal miteinander.

Nach dem Spiel geht es zurück in den Spielertunnel, raus aus dem Rauschen des Stadions, rein in die Stille der Katakomben, wo

das Klacken der Stollenschuhe auf dem Boden dominiert. Auf dem Weg in die Kabine passieren wir die Interviewzone, wo die Reporter auf Spieler, Trainer und Manager warten. „Heute gebe ich keine Interviews!“, rufe ich euphorisch in die Runde. Alle lachen. Ich weiß ja, heute will eh niemand was von mir, das Spiel lief schließlich gut für mich. Die Leistung des Schiedsrichters ist kein Thema. Das Hochgefühl entlädt sich in der Kabine. Tür zu, wir fallen uns in die Arme. Es ist wunderbar, mit meinen Assistenten jubeln zu können. Eine gute Spielleitung funktioniert nur im Teamwork. Die Kabine ist unser geschützter Raum, keine Kamera filmt uns, wir sind den Blicken der Öffentlichkeit entzogen. Auf dem Feld können wir uns nach dem Abpfiff nicht umarmen, die Jubelfaust machen oder vor Freude das Trikot vom Leib reißen. Das ist den Spielern vorbehalten. Die schönste Aussicht: die Rückreise wird entspannt, die kommenden Tage ebenfalls. Es geht nicht darum, mit der Spielleitung des Jahrhunderts zur Mittelpunktfigur auf dem Platz zu werden – sie muss einfach nur möglichst geräuschlos laufen. Die Belohnung: Hochgefühle.

REGELFRAGEN

3

Es gibt einen Strafstoß. Der Schütze führt diesen indirekt aus, indem er den Ball schräg nach hinten spielt. Ein Mitspieler läuft in den Strafraum und schiebt den Ball ins Tor. Zählt der Treffer?

Die richtige Entscheidung

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