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4. KAPITEL

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Dienstagnachmittag. Michael betrat mit zwei Tassen Kaffee sein Büro. Eine reichte er Stuart, mit der anderen setzte er sich an seinen Schreibtisch.

»Wie lange musst du reden?«, erkundigte sich Stuart.

»Eine Stunde. Wie soll ich das Thema Firmengründung so in die Länge ziehen?«

»Indem du sehr langsam sprichst?«, schlug Stuart vor.

»Ha ha.« Michael nahm einen Schluck Kaffee. Immer noch viel zu heiß.

»Wer ist dein Publikum?«

»Sämtliche Referendare der Kanzlei. Es ist einer dieser allmonatlichen Mittagsvorträge.«

»Und wer hat dir das aufgehalst?«

»Kate Kennedy. Richtig angekotzt hat mich dabei, wie sie versucht hat, es so zu drehen, dass sie mir einen Gefallen tut, indem sie mir die Chance bietet, meine Rhetorik zu verbessern. Warum gibt sie nicht einfach zu, dass sie dazu keine Lust hat und nur jemanden sucht, auf den sie es abschieben kann?«

»Tja, es hätte schlimmer kommen können«, erwiderte Stuart.

»Wie meinst du das?«

»Ich hätte derjenige welcher sein können.« Stuart lachte entschuldigend. »Sorry. Wenn du willst, helfe ich dir bei der Vorbereitung. Zwei Köpfe und so weiter.« Stuarts Telefon klingelte. Seine Analysten-Freundin langweilte sich und wollte plaudern. Michael beobachtete ihn. Stuart war letzte Woche wegen einer Fortbildung nicht im Büro gewesen. Es war gut, ihn wieder hier zu haben.

Susan, seine Sekretärin auf Zeit, kam herein und brachte den Hauptkaufvertrag für den Digitron-Deal. Sie war ein pummeliges, nervös wirkendes Mädchen von etwa achtzehn Jahren. Er vermutete, dass dies ihr erster Job war.

»Ich habe ein paar Stellen markiert, wo ich Ihre Handschrift nicht lesen konnte«, sagte sie.

»Wollen Sie damit andeuten, ich habe eine fürchterliche Klaue?«

Sie sah entsetzt aus. »War nur Spaß«, fügte er beruhigend hinzu. »Danke für Ihre Hilfe. Ich werd’s mir sofort ansehen.«

Sie verließ den Raum, und er griff nach dem Dokument. Trotz Graham Fletchers schwarzseherischen Prophezeiungen entwickelte sich das Geschäft bestens, und es war ihm sogar gelungen, eine Verringerung des Kaufpreises auszuhandeln. Sie gingen davon aus, dass der Vertrag am Freitag unterschrieben wurde, und er konnte es kaum noch erwarten, bis alles vorüber war. Nur damit ihm Graham nicht weiter auf der Pelle saß.

Es war fünf Uhr. Er hatte Rebecca versprochen, um halb acht zu Hause zu sein. Er dachte kurz daran, Stuart zu fragen, ob er mit ihm irgendwo auf ein Bier gehen wollte, entschied sich dann aber dagegen. Nach zwei Tagen mit Rebeccas Eltern fühlte er sich gefährlich streitsüchtig. Alkohol würde alles nur noch schlimmer machen.

Jack Bennett kam herein und blieb neben Michaels Schreibtisch stehen. Er wirkte verlegen. »Wie geht es Ihnen?«

»Gut.«

»Mit Digitron läuft alles okay?«

Er nickte und erinnerte sich, dass Max gesagt hatte, er hätte schon geschäftlich mit Jack zu tun gehabt.

»Die Sache ist folgende, Mike, Azteca hat den Zeitplan vorgezogen.«

»Wie weit vorgezogen?«

»Eine Woche, das bedeutet, dass wir bis Montag das Offenlegungs- und Gewinnausweisbündel geschnürt haben müssen. Wir werden jedoch frühestens morgen Nachmittag die erforderlichen Unterlagen haben, daher sieht es ganz so aus, als müssten wir übers Wochenende arbeiten. Versaut Ihnen das Ihre Pläne?«

Allerdings. Am Samstag gab eine von Rebeccas zahllosen Cousinen eine Party zum einundzwanzigsten Geburtstag in Winchester. Eine andere hatte am Sonntag Kindstaufe. Sie würden zu beiden Anlässen gehen und das Wochenende bei Rebeccas Eltern zu Gast sein. Achtundvierzig Stunden erbarmungsloser Spaß. Nur dass ihm jetzt sein Job einen Strich durch die Rechnung machte. Was wieder mal bewies, dass jedes Unglück auch sein Gutes hatte.

Es gelang ihm, ein Grinsen zu unterdrücken. »Nein. Überhaupt keine Pläne.«

Zwanzig nach sieben. Er war gerade nach Hause gekommen und stand im Durchgang zwischen Küche und Wohnzimmer.

Rebecca saß mit ihren Eltern auf der Couch, wo sie Tee tranken und ihrem Bruder Robert zuhörten, der damit prahlte, wie gut er beruflich vorankam. Auf dem Tisch zwischen ihnen lag ein Haufen Geburtstagsgeschenke und Karten, die beim Abendessen im Oriental Pearl geöffnet werden sollten.

Robert war einige Jahre älter als Rebecca und besaß die gleichen groben Gesichtszüge und fordernden Augen wie seine Eltern. »Mr. Young sagt«, verkündete er, »wenn ich so weitermache wie bisher, könnten wir in ein paar Jahren über eine Partnerschaft reden.«

Sein Vater strahlte. »Gut gemacht!«

Robert warf Michael einen kurzen Blick zu, und ein boshaftes Funkeln trat in seine Augen. »Er hat auch gesagt, dass ich rein fachlich gesehen sehr gut sei, meine eigentliche Stärke aber im direkten Umgang mit den Mandanten liegt. Er sagte, das sei das wichtigste Kapital beim Aufbau einer erfolgreichen Karriere.«

Michael lächelte gutmütig. »Vielleicht solltest du mir bei Gelegenheit mal ein paar Tipps geben.«

Robert machte ein langes Gesicht. »Ja, vielleicht sollte ich.« Er klang enttäuscht. Offensichtlich hatte er eine andere Reaktion erwartet. Keine Chance. Rebecca lächelte Michael verständnisvoll an.

»Meinst du, wir hätten Emily einladen sollen?«, fragte Mrs. Blake.

»Gott bewahre!«, rief Robert entsetzt.

»So krass würde ich das nicht ausdrücken«, meinte seine Mutter.

»Ist es nicht. Das hier ist eine Geburtstagsparty und keine Totenmesse. Den kleinen Trauerkloß können wir am allerwenigsten gebrauchen.«

Mr. Blake prustete los. Robert fiel sofort in das Lachen ein. Rebecca funkelte ihren Bruder zornig an, während Mrs. Blake ihre Lippen zu einem schmalen Strich zusammenpresste. Emily tauchte vor Michaels geistigem Auge auf, und das Bild weckte in ihm Beschützerinstinkte. Er fühlte den Drang, sie zu verteidigen.

»Wie kommst du eigentlich dazu, dich über sie lustig zu machen?«, fragte er Robert. »Du weißt doch genau, was sie für ein Leben hatte. Du solltest dankbar sein, dass es dir besser geht, und ich würde wetten, dass sie an deiner Stelle auch nicht annähernd so scharf darauf wäre, sich über dich lustig zu machen.«

Mr. und Mrs. Blake sahen betreten aus. Rebecca schüttelte mit ängstlichem Blick den Kopf.

Roberts Augen funkelten wieder boshaft. »Pass bloß auf, Becky!«, sagte er zu seiner Schwester. »Hört sich ganz so an, als hättest du eine Konkurrentin um die Gefühle von Perry Mason hier.«

»Halt den Mund«, fuhr sie ihn an.

»Warum denn? Wenn du mich fragst, passen die zwei blendend zusammen. Du weißt selbst, wie gern Emily die Märtyrerrolle spielt. Sie wäre in ihrem Element, wenn sie ihren Geliebten im Gefängnis besuchen müsste.«

»Robert!«, schrie Rebecca.

»Es reicht, Robert«, sagte Mrs. Blake mit Nachdruck.

Schweigen. Rebecca starrte ihren Bruder weiter wütend an; ihr Gesicht war gerötet. Mr. und Mrs. Blake beäugten Michael skeptisch. Robert grinste. Michael zwang sich zu so etwas wie einem Lächeln, während er sich insgeheim schwor, dass er Robert eines schönen Tages ein für alle Male sein dreckiges Grinsen aus dem Gesicht fegen würde.

Er holte tief Luft. »Wann brechen wir auf?«, fragte er Rebecca.

»Um acht.«

»Dann sollte ich jetzt besser duschen und mich umziehen.«

Er ging ins Schlafzimmer. Im Hintergrund hörte er Rebecca mit ihrem Bruder streiten, während ihr Vater irgendetwas nuschelte und ihre Mutter versuchte, Frieden zu stiften, wobei sich alle vier um einen ruhigen Tonfall bemühten. Er öffnete das Fenster und atmete die warme Abendluft ein. Bei der Aussicht auf die bevorstehende Mahlzeit drehte sich ihm der Magen um. Die drei gegen ihn, und Rebecca hin und her gerissen zwischen ihnen.

Plötzlich fühlte er sich schrecklich allein. Er schaute zum Himmel empor und wünschte, dass es nur einmal in seinem Leben jemanden geben könnte, der keine anderen Loyalitäten kannte. Jemand, der ausschließlich und allein für ihn da war.

Er schloss das Fenster und stellte sich unter die Dusche. Er seifte sich gar nicht erst ein; stand einfach bewegungslos da, ließ sich vom heißen Wasser einhüllen, atmete den Dampf ein, der sich um ihn herum bildete, bis sich seine Lungen wund anfühlten. Er hörte das Telefon klingeln und dann Rebeccas Stimme. Wahrscheinlich noch ein Verwandter, der ihrem Vater zum Geburtstag gratulieren wollte.

Eine verärgert wirkende Rebecca erwartete ihn im Schlafzimmer. »Das war ein gewisser Jack Bennett. Er hat mich gebeten, dir auszurichten, Azteca hätte eine Krisensitzung einberufen. Sie findet in der Kanzlei statt, und er braucht dich dort.«

Eine Woge der Erleichterung spülte über ihn hinweg. Er begann, sich anzuziehen. »Wann fängt sie an?«

»So bald wie möglich. Er sagte, du solltest sofort in ein Taxi springen.«

Er griff in den Kleiderschrank und zog eine Hose heraus. »Also denn, kein Dinner für den Knastvogel in spe. Was für eine Katastrophe. Tragen’s deine Eltern mit Fassung?«

»Nicht ...«, setzte sie an.

»Warum nicht? Hat Jack dir vom kommenden Wochenende erzählt? Da muss ich auch arbeiten, also werde ich nicht mit nach Winchester kommen. Du kannst es deinen Eltern schon mal sagen. Das wird ihrem Abend den entscheidenden Kick geben.«

Sie sah gekränkt aus. »Und was ist mit meinem Abend?«

Er schämte sich. »Sorry. Ich hätte dich damit nicht so überrumpeln sollen. Aber du weißt selbst, wie es zwischen ihnen und mir steht. Du wirst mehr davon haben, wenn ich nicht dabei bin.«

Es klopfte an der Wohnungstür. Sie schien überrascht. Sie erwarteten niemanden mehr. »Ich gehe schon«, sagte sie.

Er schloss seinen Gürtel, griff nach einem Jackett und hörte Max’ Stimme. Erschreckt trat er in die Diele hinaus.

Dort stand Max mit einer Flasche Champagner und erklärte Rebecca, dass gerade jemand das Haus verlassen habe, als er kam, weswegen er nicht hatte klingeln müssen. »Michael erwähnte, dass Ihr Vater heute Geburtstag hat.« Er überreichte ihr die Flasche. »Ich dachte mir, das ist vielleicht genau das Richtige für Ihre Feier.« Während er sprach, bemerkte er Michael und nickte ihm freundlich zu.

Rebecca war völlig überrascht und lächelte nervös. »Das ist wirklich sehr nett von Ihnen. Möchten Sie meine Familie kennen lernen?«

»Sehr gern.«

Sie führte ihn ins Wohnzimmer und machte alle miteinander bekannt. Mr. und Mrs. Blake strahlten und überschütteten ihn mit überschwänglichem Dank, den er freundlich annahm. Er fragte Robert nach seinem Job und gratulierte ihm, bei einer so guten Firma zu arbeiten. Mr. und Mrs. Blake grinsten. Michael drückte sich im Hintergrund herum.

»Das ist wirklich eine wunderbare Wohnung«, schwärmte Mrs. Blake. »Becky und Mike sind hier sehr glücklich.«

»Und ich bin sehr froh, solche guten Mieter gefunden zu haben.« Max schaute auf seine Uhr. »Ich muss los. Ich bin in der Kensington High Street mit Freunden zum Essen verabredet. Ich wünsche Ihnen allen einen wunderschönen Abend.«

»Eigentlich sind wir nur vier«, erklärte Rebecca. »Mike muss ins Büro.«

»Wie schade.« Max sah Michael an. »Warum begleiten Sie mich nicht bis zur High Street? Dort gibt’s genügend Taxis.« Er wandte sich wieder an Mr. Blake. »Falls es Sie beruhigt, ich kenne einige der richtigen Leute bei Cox Stephens, und alle sagen Michael eine blendende Karriere voraus. Sie müssen schrecklich stolz auf Ihren zukünftigen Schwiegersohn sein.«

Mr. Blake bekam große Augen. Max starrte ihn erwartungsvoll an. Mr. Blake brachte ein gezwungenes Lächeln zu Stande. »Ja, wir sind sehr stolz.« Er sah seine Frau an. »Sind wir doch, nicht wahr?« Sie nickte. Michael musste sich ein Lachen verkneifen.

»Es war mir ein Vergnügen, Sie kennen zu lernen«, verabschiedete sich Max. Er drehte sich um, zwinkerte Michael verschwörerisch zu und ging zur Tür.

»Das war richtig gemein«, sagte Michael, als sie die Treppe hinuntergingen.

»Weshalb denn? Ich habe ihnen lediglich Gelegenheit gegeben, ihrer Freude über Ihre glänzenden Zukunftsaussichten Ausdruck zu verleihen. Aber da Sie es erwähnen: Ihr zukünftiger Schwiegervater schien nicht sonderlich erpicht darauf, genau das zu tun.«

Michael lachte. »Wie wahr! Sie haben ihn zu einer glatten Blasphemie verleitet. Als würde man den Papst zwingen, eine Schwarze Messe zu halten!«

Sie erreichten die Haustür. »Und?«, fragte er. »Wie würden Sie gern den Abend verbringen?«

»Was meinen Sie?«

Max sah ihn amüsiert an. »Ich habe Jack gebeten, Sie anzurufen. Es gibt keine dringende Konferenz, und ich bin auch nicht mit Freunden zum Essen verabredet. Sie haben mir doch erzählt, dass Sie mit Schrecken an diese Geburtstagsfeier denken, deshalb dachte ich, ich gebe Ihnen die Chance, der Sache aus dem Weg zu gehen.«

Einen Sekundenbruchteil war Michael empört, vorher nicht gefragt worden zu sein.

Dann war dieses Gefühl auch schon wieder verschwunden und wurde von der Freude ersetzt, dass sich Max seinetwegen solche Mühe gemacht hatte.

Als könne er Gedanken lesen, setzte Max eine entschuldigende Miene auf. »Vielleicht war es eine Anmaßung von mir. Ich hätte wirklich vorher mit Ihnen darüber reden sollen. Bitte, falls es Ihnen lieber ist, verbringen Sie ruhig den Abend mit Ihrer Familie. Wenn Sie mögen, trinken wir schnell irgendwo etwas, und anschließend können Sie in das Restaurant gehen und sagen, die Besprechung sei abgesagt worden.«

Michael schüttelte den Kopf. Er dachte wieder an ihre Unterhaltung auf der Party und wurde plötzlich verlegen. »Es tut mir Leid, dass ich nicht angerufen habe, wie Sie es vorgeschlagen hatten. Ich hatte es vor, aber andererseits wollte ich mich auch nicht aufdrängen.«

»Sie hätten sich nicht aufgedrängt. Falls ich Ihnen dieses Gefühl vermittelt habe, bedaure ich das.«

»Ganz und gar nicht«, warf er rasch ein. »Ich habe nicht gemeint –« Er lächelte. »Mein Gott, hören die Entschuldigungen denn nie auf?«

»Also, was möchten Sie gern machen?«

»Ist mir egal.«

»Dann gehen wir zuerst etwas essen. Die Gerrard Street kommt ganz klar nicht in Frage, aber davon abgesehen steht uns die ganze Stadt zur Verfügung. Wir könnten es bei Langan’s versuchen. Oder im San Lorenzo. Oder im Savoy Grill.« Max unterbrach sich. »Oder vielleicht gehen wir einfach in die Brick Lane und essen dort ein preiswertes Curry.«

Michael strahlte. »Klingt gut.«

»Finde ich auch.«

Michael saß mit Max in einem privaten Club in einem Keller in Soho.

Die Straßen über ihnen waren voller Lichter und erfüllt vom Lärm unzähliger Menschen, deren Stimmen gedämpft durch die stickige heiße Luft hereindrangen. Doch im Club war es angenehm kühl und ruhig. Der Raum hatte steinerne Wände und eine niedrige Decke, über die die Schatten tanzten, die vom Licht der Kerzen auf den zumeist leeren Tischen geworfen wurden.

Sie saßen in einer Ecke, tranken Cognac und setzten die Unterhaltung fort, die sie in einem überfüllten Restaurant an der Brick Lane begonnen hatten. Nur dass es eigentlich keine richtige Unterhaltung war, eher ein Monolog seinerseits, wie Michael erkannte, wenn er kurz innehielt, um nachzudenken.

Es war nicht bewusst, aber etwas an Max’ Lächeln und seiner beruhigenden Stimme brachte ihn dazu zu reden.

»Denken Sie manchmal an Ihre Mutter?«, erkundigte sich Max.

Er schüttelte den Kopf. »Heute nicht mehr. Um an jemanden zu denken, braucht man klare Erinnerungen, und was sie betrifft, habe ich keine. Ich war erst drei, als ich in Pflege gegeben wurde. Für mich ist sie nicht mehr als ein Durcheinander verschwommener Bilder. Wie Traumfetzen, die keinen Sinn ergeben.«

»Aber früher haben Sie an sie gedacht?«

»Ja, ständig, als ich noch im Heim war. Ich habe sie gehasst, weil ich dort aufwachsen musste. Ich habe sie gehasst, weil sie nicht stark genug war zurechtzukommen. Ich erinnere mich, dass mir einmal ein Sozialarbeiter erzählte, sie sei tot, und ich ihm geantwortet habe, ohne sie wäre ich auch viel besser dran.« Er lachte bitter. »Gott, was muss er von mir gedacht haben? Von einem Achtjährigen, der so etwas sagt. Aber genau das ist der Punkt. Ich war nur ein Kind, das schon mehr als genug damit zu tun hatte, aus seinem eigenen Leben schlau zu werden.«

Er nahm einen Schluck Cognac, spürte ihn die Kehle hinunterrinnen und im Bauch eine angenehme Wärme verbreiten. Max rauchte Zigarre und musterte ihn mit neugierigen, aber unaufdringlichen Blicken. Michael fuhr fort.

»Aber heute bin ich mir über mein Leben klar geworden. Auf eine merkwürdige Art hat mir die Zeit im Heim dabei geholfen.«

Max lächelte, schwieg jedoch.

»So viele Teenager dort, Mädchen, die wie meine Mutter ihr ganzes Leben lang im Heim gewesen waren, hatten dieses überwältigende Verlangen, schwanger zu werden. Völlig gleichgültig, von wem. Sie wollten keinen Liebhaber, da sie Erwachsenen nicht vertrauten. Sie wollten nur ein Baby. Jemanden, dem sie die vorbehaltlose Liebe schenken konnten, die sie selbst nie bekamen.

Doch wenn sie dann ihr Kind hatten, stellten viele fest, dass sie nicht damit zurechtkamen. Sie waren ja selbst noch Kinder, trotz aller Versuche, etwas anderes vorzutäuschen. Am Ende wurde das Baby dann in Pflege gegeben, genau wie es bei ihnen der Fall gewesen war. Manche kämpften darum, ihr Kind zurückzubekommen. Aber andere, wie meine Mutter, gaben einfach auf und griffen nach Drogen, um den Schmerz zu betäuben. Und so wurde es zu einem Teufelskreis.«

Er schaute zur Decke und beobachtete, wie die Schatten darüber tanzten. »Wissen Sie«, sagte er ruhig, »manchmal wünsche ich, dass ich sie noch einmal sehen könnte. Die Chance bekäme, ihr zu sagen, dass ich verstehe, was für ein Leben sie geführt haben muss, und dass ich sie nicht hasse für das, was in meinem passierte.«

»Und wenn Sie diese Chance bekämen«, fragte Max einfühlsam, »denken Sie, Sie würden ihr das alles sagen können?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete er aufrichtig. »Ich hoffe es.«

Er nahm sein Glas und drehte es in der Hand, beobachtete, wie sich in der dunklen Flüssigkeit das Licht der Kerze brach.

»Und Sie?«, fragte er. »Denken Sie manchmal an Ihre Eltern?«

Max schüttelte den Kopf.

»Überhaupt nicht?«

»Ich war so jung, als sie starben. Sie sind für mich nicht real. Nur diffuse Bilder, genau wie Ihre Mutter für Sie. Meine Kindheitserinnerungen kreisen ausschließlich um die Lexden Street.« Max lächelte. »Und um den Laden an der Ecke.« In der Luft hing der Duft des Zigarrenrauchs, den Michael beruhigend fand. Hinter sich hörte er gedämpft die anderen Unterhaltungen.

Er wusste, es war schon spät, und morgen hatte er einen arbeitsreichen Tag vor sich. Aber es gefiel ihm in diesem Lokal, und er wollte noch bleiben und reden. »Es ist schrecklich«, sagte er langsam, »das Bedürfnis nach Liebe. Es macht einen verletzlich. Es kann einen dazu bringen, Dinge zu tun, die man eigentlich gar nicht tun will.«

»Zum Beispiel, was?«

»Im Heim gab es einen Mann namens Cook. Er hatte ein Milchgesicht und einen kupferroten Bart und sah aus wie ein großer Teddybär. Er kannte sich aus mit dem Bedürfnis nach Liebe. Wusste, wie man es ausnutzen konnte. Er mochte Kinder, wissen Sie. Machte gern Sachen mit ihnen. Aber er zwang sich ihnen niemals auf. Dafür war er viel zu clever.

Die meisten Kids im Heim waren wie ich. Wir wurden von einem Pflegeheim zum nächsten weitergereicht und störten in allen nur. Wir waren als Unruhestifter abgestempelt worden, und das Heim war für uns die Endstation.

Aber es gibt immer ein paar Außenseiter, Kinder, die nicht ins Heim gehört hätten. Kids, die einfach nur ihre Eltern verloren oder über Jahre bei der gleichen Pflegefamilie gelebt hatten. Kids, die wussten, was Liebe ist, und denen sie mit einem Mal entzogen wurde. Das waren diejenigen, auf die Mr. Cooks Augenmerk fiel. Er machte einen Mordswirbel um sie. Gab ihnen Geschenke. Ermunterte sie, ihm ihre Probleme zu erzählen, eben wie einem Onkel zum Liebhaben.

Wenn er dann ihr Vertrauen gewonnen hatte, fing er an, sie zu bitten, Sachen machen zu dürfen. Intime Sachen. Und wenn sie nein sagten, wurde er auch nicht wütend. Er verhielt sich ihnen gegenüber einfach nur betont kühl. Und weil sie sich einsam fühlten und jemanden haben wollten, dem sie nicht gleichgültig waren, ließen sie ihn schließlich am Ende tun, was er wollte.«

Bei dieser Erinnerung verfinsterte sich seine Miene.

»Da war ein Junge namens Sean. Er war acht, als er ins Heim kam, ein Jahr jünger als ich. Seine Mutter war an Krebs gestorben, und sonst hatte er keine Familie. Wir beide teilten uns ein Zimmer. Sean hat ständig geheult, und die anderen Kids haben auf ihm herumgehackt. Dann freundete Mr. Cook sich mit ihm an, oder er versuchte es zumindest.

Doch das gefiel mir ganz und gar nicht. Ich weiß auch nicht, warum. Normalerweise lässt man einen Menschen seine Schlachten selbst schlagen, aber Sean hatte etwas, das in mir den Beschützerinstinkt weckte. Ich war immer bei ihm. Ich achtete darauf, dass er nie mit Mr. Cook allein war. Dann wurde Sean eines Tages zu Pflegeeltern gebracht, und ich brauchte ihn nicht mehr zu beschützen.«

»Hat niemand etwas gesagt?«, fragte Max. »Sich beschwert oder so etwas?«

»Ja, ein Mädchen hat es einmal getan. Aber niemand glaubte ihm. Wir sprechen von den frühen Achtzigerjahren, und anders als heute gab es damals noch nicht dieses Bewusstsein gegenüber Kindesmissbrauch. Alle anderen Erwachsenen, die im Heim arbeiteten, hielten Mr. Cook für einen Engel. Wenn Sie ihm begegnet wären, hätten Sie das wahrscheinlich auch gedacht.«

Er seufzte. »Außerdem waren für die meisten von uns Erwachsene ohnehin Teil des Systems, und dem vertrauten wir schon lange nicht mehr.

Als ich elf war, kam dann dieses Mädchen, Sarah Scott, ins Heim. Sie war etwa in meinem Alter. An ihre Vorgeschichte kann ich mich nicht mehr erinnern. Sie war sehr still und ausgesprochen schüchtern. Natürlich machte Mr. Cook sich an sie heran. Armes Ding. Ich erinnere mich noch, wie ich sie einmal in ihrem Zimmer gesehen habe: Sie hockte in der Ecke und weinte leise vor sich hin. Ich hätte etwas unternehmen müssen. Hätte versuchen sollen, ihr zu helfen. Aber ich musste mit meinen eigenen Problemen zurechtkommen. Ich habe sie sich selbst überlassen.«

Michael schluckte bei dem Gedanken an das, was als Nächstes passierte.

»Eines Tages, als sie mit der Sache nicht mehr fertig wurde, kletterte sie aufs Dach des Hauses und stürzte sich hinunter. Sie blieb am Leben. Das Haus war nicht so hoch. Aber sie wurde zum Krüppel. Sie wird den Rest ihres Lebens in einem Rollstuhl verbringen.

Natürlich kam es zu einem Mordsskandal, besonders nachdem herauskam, warum sie es getan hatte. Das Heim stand unter privater Leitung. Die Behörden schickten zwar Kinder dorthin, führten jedoch niemals gründliche Kontrollen durch, wie das Haus geführt wurde. Nach diesem Zwischenfall mischten sie sich natürlich ein und übernahmen das Haus. Es gab eine Untersuchung, und Mr. Cook wanderte ins Gefängnis. Und wissen Sie, was die Behörden taten, als die Untersuchung abgeschlossen war?«

Max schüttelte den Kopf.

»Sie brachten uns für einen Tag nach Alton Towers.« Er musste lachen. »Fünf Stunden auf einer beschissenen Kirmes, und auf dem Rückweg noch Fish and Chips! Als ob das ungeschehen machen könnte, was Sarah Scott zugestoßen war.«

Er unterbrach sich abrupt, starrte Max an.

Warum erzähle ich ihm das alles?

Plötzlich befangen, senkte er den Blick. Irgendwer hatte auf dem Tisch den Buchstaben »R« ins Holz geritzt. Mit einem Finger zog er die Konturen nach. Die Oberfläche war glatt und kühl.

Er sah auf die Uhr. Viertel vor zwölf. Er sollte jetzt aufbrechen. Aber immer noch machte er keine Anstalten zu gehen.

»Aber für Sie war das Heim nicht die Endstation«, sagte Max. »Alles änderte sich, als Sie dreizehn waren.«

»Ja, alles änderte sich.«

Er schaute auf. Max musterte ihn weiter mit verständnisvollen Blicken. Erneut, aus Gründen, die er nicht verstand, begann er zu sprechen.

»Erinnern Sie sich noch, während des Krieges in Jugoslawien gab es eine Reihe von Büchern von Soldaten, die ein Waisenkind gerettet und es für ein besseres Leben nach England mitgenommen hatten?«

Max nickte.

»Im Buch waren immer Fotos. Die Vorher-nachher-Aufnahmen. Ein Bild des todunglücklich wirkenden Kindes in irgendeinem bosnischen Höllenloch, gefolgt von einem Foto desselben Kindes mit einem kleinen Hündchen auf dem Arm in einem Park in Berkshire, auf dem es strahlt wie in einem Fernsehwerbespot für Ovomaltine.

Ich will damit nicht sagen, dass diese Menschen das Kind nicht liebten. Aber manchmal habe ich mich schon gefragt, warum sie ein Buch darüber schreiben und ihren Großmut ins Land hinausposaunen mussten, wenn nicht die Adoption mehr von dem Wunsch motiviert war, als edelmütiger Wohltäter dazustehen, und weniger davon, einem traumatisierten Kind einen neuen Start ins Leben zu ermöglichen?

Meine Pflegeeltern waren so. Er war Handelsbanker. Sie hat nicht gearbeitet. Nötig hatte er es auch nicht, da beide vermögend waren. Sie hatten ein privilegiertes Leben geführt, und ich glaube, das machte ihnen ein schlechtes Gewissen. Sie meinten, der Gesellschaft etwas zurückgeben zu müssen.

Also beschlossen sie, ein Kind in Pflege zu nehmen. Ein schwieriges Kind mit einer schlimmen Vergangenheit. Jemanden, dessen trauriges Leben sie völlig umkrempeln konnten. Ich war derjenige, auf den ihre Wahl fiel, und mein Leben wurde völlig umgekrempelt. Ich wohnte in einem hübschen Haus am Fluss, besuchte eine gute Schule, und es fehlte mir an nichts. Die einzige Gegenleistung, die sie von mir erwarteten, war, dass ich sie niemals mit meinen Problemen behelligte und zumindest pro forma bei ihren Partys und Abendgesellschaften erschien, um allen zu berichten, wie gut es mir ging und wie unglaublich dankbar ich war.«

»Haben sie je versucht, Sie zu adoptieren?«, fragte Max.

Er schüttelte den Kopf. »Ein Pflegekind ist unkomplizierter. So hat man nicht die letzte Verantwortung. Sie konnten mich jederzeit zurückschicken, falls ich zu schwierig werden sollte, und die ständige Gefahr, wieder gehen zu müssen, war eine wunderbare Methode, mich zu disziplinieren.« Er lächelte. »Wie der Kauf einer Waschmaschine mit einer Garantie, die erlaubt, das Gerät jederzeit zurückzugeben, sollte man mit ihm nicht ganz zufrieden sein.«

»Es muss schwierig für Sie gewesen sein«, meinte Max.

»Warum? Ich war dreizehn, als sie mich aufnahmen, und nicht mehr naiv. Es war ein Geschäft, bei dem beide Parteien etwas gewannen. Für sie war ihre Großzügigkeit ein gewaltiger Prestigegewinn bei ihren Freunden. Für mich waren es eine teure Ausbildung, ein affektierter Akzent und ein Platz in Oxford. Wer behauptet, dass ich nicht das bessere Geschäft gemacht habe?«

»Ja, wer? Jetzt haben Sie sogar ein Grab, das Sie besuchen können.«

Er schüttelte den Kopf. »Man besucht ein Grab, weil man den Menschen vermisst, der dort liegt, und ich habe meinen Pflegevater nie gut genug kennen gelernt, um ihn zu vermissen.« Er seufzte. »Vielleicht sollte ich trotzdem mal hingehen. Ohne ihn und seine Frau wäre ich heute nicht da, wo ich bin.«

»Und wo ist das?«

»Ich habe ein erstklassiges Examen. Bin ein vor Gericht zugelassener Rechtsanwalt mit guten Zukunftsaussichten.« Er lächelte. »Und bezahle einem halsabschneiderischen Hausbesitzer Miete für einen kurzfristigen Vertrag in einem schicken Stadtteil.«

Max lächelte ebenfalls. »Meinen Sie nicht Wuchermiete?«

»Na klar!«

»Es muss nicht kurzfristig sein«, sagte Max plötzlich. »Nicht wenn Sie länger bleiben wollen.«

»Danke.«

Max zündete sich eine neue Zigarre an. »Seien Sie vorsichtig«, sagte Michael. »Diese Dinger bringen Sie noch um.«

Max nahm einen tiefen Zug und blies Rauch in die Luft. »Aber was für eine wunderbare Art zu sterben.«

Max leerte sein Glas und zeigte auf Michaels. »Noch einen?«

Er sah auf die Uhr. Es war beinahe Mitternacht. »Sollte der Laden nicht schon längst zu sein?«

»Verlängerte Öffnungszeit. Uns bleiben noch Stunden.«

»Ich muss morgen arbeiten.«

»Kein Problem. Ich habe Jack gebeten, den Leuten zu sagen, Sie hätten am frühen Morgen einen Termin und würden nicht vor Mittag in die Kanzlei kommen.« Schweigen. »Also, bleiben Sie noch?«

Er nickte.

Max stand auf und ging zur Theke.

Am Nachmittag des folgenden Tages machte sich Michael einen Kaffee und ging zu Jonathan Upham.

Jonathan besaß seit sechs Jahren seine Anwaltszulassung und war zusammen mit Jack Bennett von Benson Drake gekommen. Kurz vor Jonathans Ankunft war er von zwei Mitgliedern der Abteilung, die ihre Zulassung genauso lange besaßen wie er, zum Mittagessen eingeladen worden. Während des Essens hatte Jonathan detailliert sämtliche Transaktionen beschrieben, an denen er beteiligt gewesen war, und tat dann seine Überzeugung kund, dass man bereit sein sollte, jede einzelne Stunde zu arbeiten, die Gott einem schenkte, wenn man den Job anständig erledigen wollte. Seine Zuhörer hatten zustimmend genickt, bevor sie zurück in die Kanzlei eilten, um jedem zu erzählen, dass der Neue ein absolutes Arschloch sei.

Während der zwei Monate jedoch, seit Jonathan bei ihnen war, hatte man diese Ansicht revidiert. Auf der Negativseite war zu verbuchen, dass er sehr hart arbeitete und ziemlich humorlos war. Positiv ließ sich vermerken, dass ihm Arroganz völlig fremd war und er Anwälten mit weniger Erfahrung bei Problemen mit Rat und Tat zur Seite stand.

Michael klopfte an Jonathans Tür. »Haben Sie viel zu tun?«

Jonathan schaute von seinem Schreibtisch auf. Seine ernsten Augen wirkten durch die starke Brille noch kleiner. Er war erst dreißig, sah aber beträchtlich älter aus. »Wie immer. Wie läuft es mit Digitron?«

»Am Freitag wird unterschrieben, Gott sei Dank. Darf ich Sie etwas fragen?«

Jonathan nickte. Michael setzte sich. »Kennen Sie einen gewissen Max Somerton?«

Jonathan nickte. »Warum? Sie?«

»Er ist mein Vermieter.«

»Oh, richtig.« Jonathan schien beeindruckt.

»Er sagte, er habe schon verschiedentlich mit Jack Bennett zu tun gehabt, daher war ich ein wenig neugierig.«

»Verschiedentlich zu tun gehabt?« Jonathan schien überrascht. »Nun, so kann man es auch nennen.«

»Was meinen Sie damit?«

»Max hat Jack den größten Teil seiner Mandanten besorgt.«

»Tatsächlich?«

Wieder ein Nicken. »Ohne Max wäre Jack nicht der Star, der er heute ist.«

Michael begann zu lachen. Jonathan sah ihn verwirrt an. »Sorry«, entschuldigte sich Michael. »Ich habe mir Jack nur gerade mit Frack und Zylinder vorgestellt, wie er einen auf Fred Astaire macht.«

Jonathan sah immer noch verwirrt aus. »Jack steht nicht auf Gesellschaftstänze.«

»Ich weiß. Vergessen Sie’s.« Er nahm einen Schluck Kaffee. »Und woher kennt Jack Max?«

»Nun, vor ungefähr zehn Jahren erteilte Max Jack ein Mandat. Max besaß Anteile an einer Computerfirma und wollte verschiedene Lizenzverträge ausarbeiten lassen. Jack fing gerade an, sich im Computersektor einen Namen zu machen. Max war von seiner Arbeit beeindruckt und stellte ihn Leuten vor, die er in der Branche kannte und die potenzielle Mandanten waren. Und es gab eine Menge davon. Max kennt jeden. Bei Leuten mit Geld ist das meistens so.«

»Woher hat er sein Geld?«

Jonathan setzte eine nachdenkliche Miene auf. »Bin nicht ganz sicher. Ich glaube, er fing als Börsenmakler an. Hat ein Vermögen damit gemacht. Hat das Geld gut angelegt. Hat noch mehr Geld gemacht und damit das Gleiche getan. Das ergibt Sinn.«

»Sinn?«

»Ich erinnere mich, wie Jack einmal sagte, dass Max’ größte Stärke seine Fähigkeit sei, zukünftige Trends, sowohl wirtschaftliche als auch gesellschaftliche, vorauszusagen und damit Geld zu scheffeln. Nur ein Beispiel: Er besaß früher Anteile an allen möglichen Firmen, aber kurz bevor Ende der Achtzigerjahre die Rezession einsetzte, machte er den größten Teil seiner Vermögenswerte flüssig, was natürlich bedeutete, dass er auf einem Haufen Geld saß, als alle anderen in Panik gerieten und alles zum halben Preis dessen verscherbelten, was sie dafür bezahlt hatten. Und er war einer der Ersten, die erkannten, welche gewaltigen Dimensionen die Computerindustrie annehmen würde, und dass wirklich Geld mit Software statt mit Hardware zu machen sei. Manche seiner Aktienpakete müssen ein Vermögen wert sein.«

»Mögen Sie ihn?«

»Schwer zu sagen. Ich weiß nur das, was die Leute reden, und habe ihm ein- oder zweimal hallo gesagt, aber richtig kennen gelernt haben wir uns nie.«

Michael war überrascht. »Wie das?«

»Wann immer wir von Max beauftragt werden, kümmert sich Jack persönlich darum. Klar, ich erledige den größten Teil der Drecksarbeit, aber mir war es nie erlaubt, an Sitzungen oder anderen, ähnlich wichtigen Dingen teilzunehmen.« Jonathan lächelte. »Jack ist ein toller Typ, aber was Max betrifft, ist er komisch.«

»Komisch?«

»Komisch ist vielleicht nicht das richtige Wort. Ich meine vielmehr, er ist so vereinnahmend. So wie manche Partner von Kanzleien, wenn es um ihren wichtigsten Mandanten geht. Sind Sie mit Max befreundet?«

»Irgend wie.«

»Dann seien Sie vorsichtig, okay?«

Das Telefon klingelte. Jonathan schaute aufs Display. »Ich muss das hier annehmen. Wir reden später weiter.«

Michael verließ Jonathans Büro. Als er den Korridor entlangging, sah er Jack Bennett an der Kaffeemaschine stehen, wo er sich mit Kate Kennedy unterhielt.

Jack sah ihn kommen. Für den Bruchteil einer Sekunde erschien ein merkwürdiger Ausdruck auf seinem Gesicht.

Dann war er wieder verschwunden. Er lächelte.

Michael erwiderte das Lächeln. Mit einem leicht unbehaglichen Gefühl betrat er sein Büro.

Donnerstagabend. Neun Uhr. Rebecca stand im Abstellraum der Wohnung.

Bis auf ihre Staffelei und einen Karton mit den Ölfarben und Pinseln war der Raum leer. Michael hatte vorgeschlagen, sie solle den Raum als provisorisches Atelier benutzen. Zu Anfang, als sie mit dem College fertig war, hatte sie sich mit drei Freunden ein Atelier in Bethnal Green geteilt. Aber als die Monate ins Land zogen und zwei von ihnen die ersten Erfolge erzielten, hatte sie es als zunehmend nervtötend empfunden, an ihrer Seite zu arbeiten.

Eine leere Leinwand stand auf der Staffelei. Michael hatte sie gedrängt, etwas Neues anzufangen, und sie wollte genau das an diesem Abend tun. Doch stattdessen hatte sie die Wohnung aufgeräumt, ein paar Freunde angerufen und eine Tasche fürs Wochenende gepackt. Eigentlich war es schon zu spät, um noch zu beginnen, aber dann war sie doch noch in den Abstellraum gegangen.

Das Fenster stand offen. Die Luft an diesem Maiabend war lau und ohne Bewegung. Die hohen Häuser gegenüber schirmten den Lärm des Verkehrs ab, der pausenlos über die Cromwell Road brandete.

Als sie hörte, wie sich in der Wohnungstür ein Schlüssel drehte, rief sie eine Begrüßung. Michael trat ein und blieb in der Tür stehen. Sein Kragenknopf war geöffnet; die Krawatte hing ihm locker um den Hals. »Du wirkst müde«, sagte sie. »Hast du Hunger?«

Er schüttelte den Kopf und wies auf die leere Leinwand. »Sieht gut aus.«

»Ich hatte viel zu tun.«

Er sah sie skeptisch an. »Also, vielleicht auch nicht«, räumte sie ein. »Manchmal frage ich mich, was das alles soll. Es wird sich nie ergeben. Warum sollte ich mir was vormachen?«

»Es wird passieren. Es braucht nur Zeit, das ist alles.«

»Und was, wenn doch nicht? Da draußen gibt es so viele talentierte Menschen. So viel Konkurrenz. Wie sollte ich mir da je einen Namen machen?«

»Weil du gut bist.« Er lächelte. »Und weil ich an dich glaube.«

Sie lächelte ebenfalls. »Ich freue mich, dass du da bist.«

»Ich auch.«

»Und ich wünschte, du würdest morgen mitkommen.«

Er machte ein bekümmertes Gesicht. »Wirklich?«

»Das weißt du doch.«

»Auch wenn meine Anwesenheit nur wieder für Reibereien sorgt?«

Sie seufzte. »Es wird besser, Mike.«

»Nein, wird es nicht. Es wird eher schlimmer. Soweit es deine Familie betrifft, bin ich der größte Fehler, den du je gemacht hast.«

Sie blickte ihm fest in die Augen. »Ich glaube nicht, dass ich einen Fehler mache.«

Plötzlich wandte er sich ab. »Solltest du aber vielleicht«, sagte er ruhig. »Es ist deine Familie, Beck. Sie sind immer für dich da gewesen. Familien sind das Allerwichtigste auf der Welt. Niemand weiß das besser als ich.«

»Du bist auch wichtig.«

»Das sagst du jetzt, aber wenn wir zusammenbleiben, wird das einen Keil zwischen dich und sie treiben. Willst du das riskieren?«

»Es wird nicht so weit kommen«, antwortete sie.

»Es könnte aber. Was ist, wenn sie dich zwingen zu wählen?«

»Das würden sie nicht.«

»Aber was, wenn doch? Was würdest du dann tun? Du könntest dich für sie entscheiden, und selbst wenn du es nicht tust, würdest du mich hassen, weil du meinetwegen so viel aufgeben musstest. So oder so wäre es für uns das Ende.«

»Was redest du da eigentlich?«, fragte sie. »Willst du Schluss machen?«

»Nein. Natürlich nicht. Ich kriege nur manchmal Angst, das ist alles. Ich liebe dich wirklich, weißt du.«

Er drehte sich wieder zu ihr um, war den Tränen nahe.

»Ach, Mike ...«

Er schüttelte den Kopf, brachte ein Lächeln zu Stande. »Beachte mich gar nicht. Ich bin einfach nur müde. Und wenn ich müde bin, rede ich immer nur dummes Zeug.«

»Nein, tust du nicht.«

Er senkte den Blick. »Ich weiß, dass ich ziemlich schwierig und nicht gerade ein unkomplizierter Mensch bin. Aber du bedeutest mir alles. Ich weiß nicht, was ich tun würde, wenn es dich nicht gäbe.«

Sie starrte ihn an. Erinnerte sich an ihre erste Begegnung.

Es war vor achtzehn Monaten gewesen, auf einer Party ihrer Schulfreundin Jennifer und ihres Freundes Paul in Chiswick. Während sie mit Jennifer plauderte, hatte sie einen umwerfenden jungen Mann mit rabenschwarzem Haar und beunruhigenden blauen Augen beobachtet, der allein in einer Ecke stand, von Zeit zu Zeit an seinem Glas nippte und mit niemandem redete.

»Er heißt Michael«, erfuhr sie von Jennifer. »Er war mit Paul auf dem College.«

»Er wirkt arrogant«, hatte sie bemerkt.

Jennifer schüttelte den Kopf. »Er ist zurückhaltend, undurchschaubar.«

Genau in diesem Moment hatte er sich umgedreht und sie angesehen. Sein Blick war direkt und herausfordernd gewesen, und sie flüsterte Jennifer zu: »Ich wette, ich kriege ihn zum Lächeln.«

Er war ein zäher Brocken gewesen. Zum Verzweifeln zäh. In den darauf folgenden Monaten war sie oft dicht davor aufzugeben. Es wäre ganz einfach gewesen. Es gab noch andere Männer auf der Welt, und an Bewunderern hatte es ihr noch nie gefehlt.

Aber sie hatte nicht aufgegeben. Instinktiv wusste sie, dass dies etwas wirklich Besonderes war und sie es ewig bedauern würde, wenn sie einfach alles hinschmiss.

Und langsam hatte er ihr erlaubt, die Mauern zu durchdringen, die er um sich errichtet hatte, und den wütenden, einsamen und verängstigten Menschen zu sehen, der sich hinter ihnen versteckte. Der Mensch, der sie inzwischen mit einer solchen Intensität liebte, dass es manchmal beängstigend war. Der Mensch, der sie in der Intimität ihres Betts an sich drückte, als hinge sein Leben davon ab.

Jetzt legte sie die Hände an seine Schläfen und begann sie zu streicheln. Schon recht früh in ihrer Beziehung hatte sie die beruhigende Wirkung erkannt, die diese einfache Berührung auf ihn haben konnte. »Warum ausgerechnet ich?«, fragte sie. »Du hättest jede haben können. Was siehst du in mir?«

Sein Gesicht wurde sanfter. Er lächelte. »Nichts.«

»Nichts?«

»Alles.«

Sie umarmten sich, dort in diesem fast leeren Raum.

Der Schützling

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