Читать книгу Der Schützling - Patrick Redmond - Страница 8
2. KAPITEL
ОглавлениеAm nächsten Abend traf sich Michael auf einen Drink mit seinem Freund George.
Viel Zeit hatte er jedoch nicht. Rebecca hatte für später einen Termin vereinbart, um sich mit ihm die Wohnung anzusehen. Sie trafen sich in einer Weinstube an der St. Paul’s: ein Kellerlokal mit Fässern als Tische und Sägemehl auf dem Boden. Gäste erhielten in der Weinstube kostenlos eine Schale mit Käsekräckern, und als Michael eintraf, saß George bereits mit einem Glas Wein und munter mampfend in der Ecke.
Michael nahm Platz. Die Kräckerschale war fast leer. »Freut mich, dich essen zu sehen. Du musst doch groß und stark werden.«
George griff nach den letzten Kräckern. »Schrecklich, stimmt’s? Wenn ich noch dünner werde, breche ich in der Mitte durch.« Er hatte das Jackett ausgezogen, sein Hemd spannte über dem gewaltigen Bauch. Er war klein und rund, hatte ein pausbäckiges Babygesicht. »Ich hab dir schon mal ein Glas Wein bestellt«, sagte er. »War das in Ordnung?«
Michael nickte. »Danke. Wie war dein Tag?«
»Viel wichtiger: Wie war deiner?«
»Frag nicht.« Zwischen ihnen auf dem Fass stand eine Kerze. Michael feuchtete einen Finger an und begann, ihn durch die Flamme pendeln zu lassen. George beobachtete ihn. »Machen sie dir das Leben immer noch schwer?«
»Manche, und es kotzt mich an. Ein Fehler, mehr war’s ja nicht. Aber das ist typisch für den Laden. Du machst nur einen einzigen Schnitzer, und schlagartig vergisst jeder alle positiven Sachen. Ich bin gut in meinem Job. Ich bin derjenige, zu dem die Referendare kommen, wenn sie Hilfe brauchen. Auch Leute auf meinem eigenen Level. Ich habe die Übernahme dieser Druckerei praktisch im Alleingang gemeistert, und das war bestimmt kein Klacks. Der Mandant hat mir nach erfolgreichem Abschluss Champagner geschickt. Jeder war begeistert, alles sieht wunderbar aus, dann ein einziger verfluchter Anruf, und plötzlich bekommt die ganze Angelegenheit einen schalen Beigeschmack.«
»Es war ein Mandant«, sagte George unbeholfen.
»Na und? Es war ja nicht so, dass ich geflucht oder ihn Idiot genannt hätte. Ich war einfach nur–«, er unterbrach sich, suchte nach dem richtigen Wort, »– ein bisschen kurz angebunden. Ich war gestresst. So was kommt doch vor. Er klang nicht mal so, als würde ihm das besonders viel ausmachen. Dann werde ich plötzlich ins Büro des geschäftsführenden Sozius zitiert und erhalte eine förmliche Verwarnung, und jetzt hab ich das Gefühl, dass sie mich ständig beobachten und nur darauf warten, dass ich Mist baue. Wir haben ein neues Mandat erhalten, eine Unternehmensfusion. Ich arbeite an der Sache mit diesem Wichser, Graham Fletcher, der mir die ganze Arbeit aufhalsen und versuchen wird, mich zu feuern, sollte mir auch nur der kleinste Fehler unterlaufen.«
Michael sprach nicht weiter. Sein Gesicht war gerötet, er atmete schwer. »Tut mir Leid. Du bist nicht hier, um dir so was anzuhören. Schimpfkanonaden.«
Georges Miene drückte Verständnis aus. »Schon okay.«
Michael lehnte sich zurück und richtete den Blick zur Decke. »Es kommt mir nur einfach so vor, als verbrächte ich mein ganzes Leben mit dem Versuch, mich einzufügen und anzupassen, aus Angst, dass mir alles, was in meinem Leben gut ist, entrissen werden könnte. So wie gestern Abend. Wir waren mit Beckys Eltern essen. Den ganzen Abend glotzt mich ihr Vater an, als wäre ich ein Haufen Dreck, und ihre Mutter versucht ständig, einen Streit vom Zaun zu brechen, und ich muss brav dasitzen und lächeln und eine Miene machen, als wäre ich glücklich, dort sein zu dürfen.« Er holte tief Luft. »Manchmal hab ich das Gefühl, als würde ich jeden Augenblick explodieren.«
»Besser bei denen als in der Arbeit, was?«, schlug George vor.
»Wirklich? In beiden Fällen könnten die Folgen katastrophal sein.«
Sein Finger war heiß von der Flamme. Er lutschte daran, leerte sein Glas und brachte ein Lächeln zu Stande. »Genug von meinen Sorgen. Du wirkst locker.«
»Natürlich. Wir hatten heute Nachmittag Revision. Vier Stunden Zeitunglesen und ausgiebige Lektüre von Loaded. Du hast dir ganz eindeutig den falschen Beruf ausgesucht.«
Nachdem George das juristische Examen nicht bestanden hatte, machte er eine Ausbildung zum Wirtschaftsprüfer bei einer kleinen Kanzlei im West End. Michael lächelte. »Willst du damit sagen, dass Wirtschaftsprüfer besser sind als Rechtsanwälte?«
»Selbstverständlich. Anwälte sind doch letzten Endes nur bessere Schreiberlinge. Es sind die Wirtschaftsprüfer, die an den Hebeln der Macht sitzen. Wir sind die Macher, die die Welt erschüttern.«
»Tatsächlich?«
»Absolut. Das Rechnungswesen ist der neue Rock ’n’ Roll. Wir sind so was von hip, dass es schon wehtut.«
Beide lachten. Urplötzlich sah Michael im Geist das Bild vor sich, wie sie beide auf der Schule in einem Klassenzimmer saßen und darüber stritten, ob Nirvana so gut waren wie die Stone Roses.
»Wie geht’s Becky?«, erkundigte sich George.
»Gut. Sie hat sich mit unserer Freundin Emily verabredet, andernfalls wäre sie mitgekommen. Sie meint, du musst bald mal wieder zum Abendessen zu uns kommen.«
»Du bist ein Glückspilz«, sagte George plötzlich. »So jemanden wie sie zu haben. Ich weiß, wie hart es für dich gewesen ist. Manchmal schäme ich mich, wenn ich daran denke, für wie selbstverständlich ich meine Eltern nehme. Aber du hast wirklich das große Los gezogen, als du sie kennen gelernt hast, und obwohl ich höllisch eifersüchtig bin, freue ich mich auch für dich.«
Michael empfand plötzlich eine tiefe Zuneigung für diesen pummeligen jungen Mann, der ihm gegenüber saß. »Die nächste Runde geht auf mich. Ich besorg uns auch noch mehr Kräcker. Ich will ja nicht schuld sein, dass du verhungerst.«
Wieder lachten sie. Er ging zur Theke.
Um acht Uhr traf er sich mit Rebecca an der U-Bahnstation Embankment. Sie war in ihr abgegriffenes London A bis Z vertieft. »Ich weiß nicht, welche Haltestelle die beste ist«, sagte sie. »Lass uns bis zur High Street Ken fahren und den Rest zu Fuß gehen.«
Bei der Circle Line kam es zu Verspätungen, und der Bahnsteig war überfüllt. »Wie geht’s George?«, fragte sie, während sie auf ihre Bahn warteten.
»Gut. Wie geht’s Em?«
»Eigentlich nicht so besonders.«
Er reagierte beunruhigt. »Warum? Was ist passiert?«
»Nichts Besonderes. Sie war irgendwie niedergeschlagen. Ich hab mich unwohl gefühlt, weil ich nicht länger bleiben konnte, deshalb gehe ich morgen Mittag mit ihr essen. Ich weiß, dass sie dich gern sehen würde. Kommst du mit?«
»Klar.«
Es drängten weitere Menschen auf den Bahnsteig, während auf der Anzeigetafel über ihren Köpfen nicht der geringste Hinweis auftauchte, wann denn nun der nächste Zug eintreffen würde. Die Atmosphäre war gespannt. Sie schoben sich durch die Menge zum anderen Ende des Bahnsteigs, um ihre Chancen zu verbessern, einen Sitzplatz zu ergattern, wenn endlich eine Bahn kam. »Liz hat mich heute angerufen«, sagte sie.
»Liz vom College?«
Sie nickte. »Dem Cousin ihres neuen Freundes gehört eine winzige Galerie in Crouch End, und sie hat vorgeschlagen, dass mehrere von uns dort eine Gruppenausstellung machen und versuchen sollten, ein paar wichtige Journalisten und Kunsthändler dazu einzuladen.«
»Klingt gut.«
»Findest du?«
»Es ist eine Chance, dein Zeug zu zeigen.«
»Aber direkt gesehen wird’s da nicht. Zumindest nicht von Leuten, auf die’s ankommt. Crouch End ist wohl kaum das Zentrum der Kunstwelt.«
»Könnte es aber werden. Wir können herumtelefonieren. Die Ausstellung durch Mundpropaganda pushen.«
Sie seufzte. »Das haben wir auch schon bei der Ausstellung in Camberwell versucht. Ein Journalist vom Guardian versprach zu kommen, ist dann aber doch nicht aufgekreuzt.«
»Und? Wir versuchen es wieder, und dieses Mal kommt er vielleicht.« Er streichelte ihre Wange. »Keiner hat behauptet, dass es leicht sein würde. Nichts, was der Mühe wirklich wert ist, ist jemals leicht. Aber es wird klappen. Du musst einfach nur dran glauben.« Plötzlich lachte er. »Mein Gott, hör sich das einer an. Das klingt wie aus einem dieser Selbsthilfebücher.«
Sie lachte ebenfalls. »Nur ein bisschen.«
»Ich will damit nur sagen, Beck, dass vielleicht doch was Gutes dabei rauskommt. Deshalb sag nicht einfach nein, okay?«
»Okay.«
Sie hörten einen sich nähernden Zug. Als er in den Bahnhof einfuhr, trat jeder auf dem Bahnsteig vor, nur um zu sehen, dass die Abteile bereits überfüllt waren. Ein kollektives enttäuschtes Stöhnen erhob sich. Die Türen gingen auf, und einige wenige Fahrgäste kämpften sich aus der Bahn. Im darauf folgenden Durcheinander packte Michael Rebeccas Arm, drängte sich durch die Leute vor ihnen und in den frei werdenden Platz. Er hörte, wie jemand sie beschimpfte, und lächelte honigsüß, als sich die Türen wieder schlossen.
Der Zug setzte sich in Bewegung. Er hielt sich an einem Griff fest, und Rebecca klammerte sich an ihn. Es war heiß und stickig und roch nach Schweiß.
Eine halbe Stunde später traten sie auf die Kensington High Street hinaus. Inzwischen war es fast dunkel. Rebecca studierte ihren Stadtführer und lotste ihn eine Seitenstraße entlang. Sie kamen an hohen, strengen Wohnblöcken und schicken weißen Häusern in ruhigen Straßen vorbei. Der Lärm blieb hinter ihnen zurück. Die Straßen waren breit und angenehm, Taxen und Autos glitten ruhig an ihnen vorbei. Friedlich, aber lebendig.
Sie erreichten Pelham Gardens, einen großen Platz, gesäumt von eleganten, vierstöckigen Häusern, die in Einzelwohnungen umgewandelt worden waren. Die Häuser mit ihren riesigen, von Säulen gestützten Vorbauten schauten alle auf einen kleinen, von einer Mauer umgebenen Park in der Mitte des Platzes.
Vor Hausnummer dreiunddreißig blieben sie stehen. Rebecca klingelte; ihnen wurde geöffnet. Die Wohnung befand sich im zweiten Stock. Eine hochschwangere kleine und sehr blasse Frau Ende zwanzig stand in der Tür und lächelte. »Ich bin Alison. Kommt rein.«
Sie betraten eine kleine, mit Teppichboden ausgelegte Diele mit niedriger Decke. Durch das Wohnzimmer zu ihrer Rechten kam man in eine winzige, aber komplett eingerichtete Küche. »Neil lässt sich entschuldigen«, erklärte Alison. »Es ist ihm etwas dazwischengekommen. Ich zeige euch alles.«
Lange dauerte es nicht. Am Ende der Diele befand sich ein großes Schlafzimmer. Direkt daneben ein komfortables Bad und ein winziger Abstellraum, der bis auf ein paar Koffer leer war. »Man könnte vielleicht ein Gästezimmer draus machen«, meinte Alison, »aber außer einem Bett wird wohl nichts reinpassen.«
Sie gingen ins Wohnzimmer. Wie bei den anderen Zimmern war auch hier die Decke relativ niedrig, aber dies wirkte eher gemütlich als erdrückend. Das Mobiliar war einfach, aber komfortabel. Alison deutete auf das Sofa. »Das ist eine Schlafcouch«, erklärte sie, »also habt ihr Platz für Leute, die über Nacht bleiben.« In einer Nische neben dem Fenster stand ein Esstisch. Die Vorhänge waren noch nicht zugezogen. Draußen gab es einen kleinen Balkon mit Blick auf gepflegte Gärten und die Rückseiten der Häuser an der Cromwell Road. Obwohl im Herzen der Stadt, war die Atmosphäre überraschend ruhig und friedlich.
»Es ist eine wunderschöne Wohnung«, sagte Rebecca.
Alison lächelte. »Wir waren glücklich hier. Schade, dass wir gehen müssen, aber es ist eine große Chance für Neil.«
»Was machst du beruflich?«, fragte Rebecca.
»Ich war auch Banker.« Alison tätschelte ihren Bauch. »Aber meine Karriere muss erst mal für eine Weile warten.«
»Und wie ist der Vermieter?«, fragte Michael.
»Mr. Somerton? Sehr nett. Zumindest glaube ich das. Ich hab ihn nie persönlich kennen gelernt, obwohl wir einige Male miteinander telefoniert haben. Neils Vater hat beruflich mit ihm zu tun, und so sind wir auch an die Wohnung gekommen.«
»Wird er uns kennen lernen wollen?«, fragte Rebecca.
»Das bezweifle ich. Um ehrlich zu sein, ich glaube nicht, dass es ihn sehr interessiert. Er ist ziemlich wohlhabend, von daher ist diese Wohnung für ihn eine Nebensächlichkeit. Ich bin überzeugt, er hätte uns auch vor Ablauf des Mietvertrags rausgelassen, aber wir wollten erst mal sehen, ob nicht jemand anderer was davon hat.«
»Nun, sie gefällt uns wirklich«, meinte Rebecca. »Stimmt doch, Mike?«
Er nickte.
Alison strahlte. »Ich mache euch einen Kaffee, und dann können wir über alles Weitere reden.«
Eine halbe Stunde später befanden sie sich wieder auf dem Rückweg zur U-Bahn – zur Gloucester Road Station diesmal, da Alison ihnen gesagt hatte, das sei näher. Sie kamen an einem riesigen Sainsbury’s vorbei. »Das ist praktisch«, bemerkte Rebecca.
»Ja, toll. Ein Leben ohne Sainsbury’s wäre einfach nicht vorstellbar!«
»Und es gibt auch eine Schlafcouch.«
»Ich weiß. Deine Eltern können sich schon mal die Bahnfahrkarten besorgen.«
»Dir hat sie nicht gefallen, stimmt’s?«
Er schüttelte den Kopf. Sie hatten die Cromwell Road überquert und näherten sich der U-Bahn. Gegenüber befand sich eine Reihe teurer Lebensmittelgeschäfte. »Es kommt mir nur ein bisschen zu vornehm für uns vor.«
Sie sah ihn ängstlich an. »Ist doch nur für ein paar Monate.«
Er versuchte, ein finsteres Gesicht zu machen, doch es gelang ihm nicht. »Okay. Nehmen wir sie. Aber ich warne dich: Falls du zum Yuppie wirst, ist es aus zwischen uns.«
Sie küsste ihn. »Werd ich schon nicht.«
In der Ferne sah er ein mexikanisches Restaurant, bunte Farben, voller Lärm und Energie. Er wies dorthin. »Lass uns essen gehen, solange wir es uns noch leisten können.«
Zehn Tage später zogen sie ein. Es war ein wolkenverhangener Sonntag. Alison und Neil waren bereits auf dem Weg nach Singapur. Auf sie wartete eine Schachtel Thornton’s Pralinen mit einer Karte, auf der Alison ihnen eine glückliche Zeit wünschte und die Telefonnummer ihres neuen Vermieters nannte.
Sie packten das Wichtigste aus und gingen anschließend auf einen Spaziergang in die Kensington Gardens. Sie schauten Kindern zu, die auf dem Teich Boote fahren ließen, und machten sich auf die Suche nach der Statue von Peter Pan, die Rebeccas Großvater ihr vor vielen Jahren bei einem Ausflug nach London gezeigt hatte. Sie war enttäuscht. »Die ist viel kleiner als in meiner Erinnerung.«
»Du warst damals erst fünf«, machte Michael sie aufmerksam. »In dem Alter hättest du einen Pekinesen für den Hund von Baskerville gehalten.«
Michael hatte seine Kamera mitgenommen. Ein Mann war so nett, sie vor der Statue zu knipsen: die Arme umeinander gelegt und glücklich lächelnd, einfach, weil sie zusammen waren.
Später ließen sie sich eine Pizza kommen. Sie aßen inmitten ihrer Koffer, hörten alte Tonbandkassetten und tauschten Erinnerungen aus, die von den Songs geweckt wurden.
Am nächsten Morgen erhielt Michael einen Anruf von Alan Harris.
Alan arbeitete bei einer Rechtsberatung in Bethnal Green, die kostenlosen juristischen Rat für die Menschen des Stadtteils anbot. Während des Studiums hatte Michael einen Sommer als Freiwilliger in dem Zentrum gearbeitet, und von Zeit zu Zeit rief Alan wegen irgendwelcher Notfälle an, um die er sich dann entweder selbst kümmerte oder aber an eine Hand voll getreuer Verbündeter in den verschiedenen Abteilungen der Kanzlei weiterleitete. Da Cox Stephens extrem wenig davon hielt, dass Angestellte kostenlose Rechtsberatung erteilten, musste die ganze Sache unter äußerster Geheimhaltung geschehen.
Alan erklärte, dass er eine verzweifelte Frau beriet, die an diesem Abend von ihrem Vermieter vor die Tür gesetzt werden sollte. »Der Mietvertrag ist nur ein paar Seiten lang. Könntest du ihn dir mal ansehen, vielleicht findest du ein paar Argumente, die wir zu ihrem Vorteil anbringen können.«
»Klar, fax ihn mir sofort rüber. Ich warte neben dem Gerät.«
Als er das Fax erreichte, kam gerade ein Fünfzig-Seiten-Dokument für einen der Seniorpartner durch. Er hörte jemand seinen Namen rufen. Es war Graham Fletcher, der, eine umfangreiche Akte schwingend, den Gang entlangkam.
»Michael, der überarbeitete Kaufvertrag vom Digitron-Deal ist gerade reingekommen. Digitron wünscht morgen früh eine Konferenz, um alles durchzusprechen.«
»Morgen?« Ihm rutschte das Herz in die Hose.
»Ist das ein Problem?«
»Viel Zeit bleibt uns da nicht, alles zu prüfen.« Hinter seinem Rücken summte das Fax.
Graham runzelte die Stirn. »Sie sind derjenige, der den Vertrag prüfen wird. Ich habe viel zu viel zu tun.«
Das passte. Er nickte, während das Fax zu heulen begann. Offensichtlich gab es einen Papierstau.
Graham übergab ihm das Dokument. »Die Besprechung findet um acht in ihrem Büro statt.«
»Ich erledige das. Absolut kein Problem.«
»Das will ich auch hoffen«, erwiderte Graham scharf, bevor er mit großen Schritten Richtung Kaffeemaschine entschwand. Eilig beseitige Michael den Papierstau, schnappte sich den Mietvertrag und kehrte in sein Zimmer zurück.
Er versuchte, Nick Randall von der Immobilienabteilung zu erreichen, nur um zu erfahren, dass er den ganzen Tag zu einer Fortbildung außer Haus war. Was bedeutete, dass er sich selbst um das Problem kümmern musste. Er studierte den Mietvertrag und hoffte auf eine einfache Lösung, die ihm allerdings versagt blieb.
Als er seine Aufmerksamkeit dann dem Kaufvertrag zuwandte, erkannte er schnell, dass er sich vollkommen von der ersten Version unterschied. Offensichtlich würde eine gründliche Prüfung Stunden dauern, und außerdem hatte er noch eine wichtige Sache für einen Sozius aus der Abteilung für Bankwesen zu erledigen. Er dachte kurz daran, Alan anzurufen und ihm zu sagen, er müsse leider kapitulieren, andererseits wusste er aber, dass eine Frau ihren festen Wohnsitz verlieren konnte, wenn ihm nicht bald was einfiel. Michael nahm den Mietvertrag und ging zur Bibliothek.
Während Michael sich über die Rechte von Vermietern und Mietern informierte, packte Rebecca weiter aus.
Sie hatte sich einen Tag freigenommen und war wild entschlossen, die Wohnung so herzurichten, wie sie es haben wollte. Während der Arbeit hörte sie Chris de Burgh. Michael konnte diese Musik nicht ausstehen, für sie jedoch war sie ein Vergnügen, und so nutzte sie seine Abwesenheit, sie zu genießen.
Ihre gerahmten Filmplakate hingen nun an den Wänden. Beide schwärmten für alte Filme. Rebeccas große Leidenschaft waren die Dramen der Dreißiger- und Vierzigerjahre, Michaels die Monumentalstummfilme. Bei ihrer ersten Verabredung hatte er sie mit in Abel Gances Meisterstück Napoleon aus dem Jahr 1927 mitgenommen, und sie, darauf aus, ihn zu beeindrucken, hatte ihn die ganze Zeit mit angelesenem Wissen über Charlie Chaplin und andere Stummfilmgrößen bombardiert. Sein erstes Geschenk für sie war ein Poster des Films Rebecca von Alfred Hitchcock gewesen. Sie hing es neben sein Napoleon-Plakat, die sich beide den Ehrenplatz über dem Fernseher teilten.
Ihre Kochbücher wanderten auf ein Regal in der Küche. Sie besaß über ein Dutzend, aber A Taste of India war das Einzige, das sie regelmäßig benutzte. Michael liebte Curry über alles, und sie kochte ihm jeden Freitag ein Currygericht. Nach dem Essen kuschelten sie sich aufs Sofa und sahen sich einen alten Film an: in der einen Woche einen Stummfilm, in der anderen einen Tonfilm. Diesen Freitag war sie wieder an der Reihe. Sie nahm sich vor, sich über das Angebot der Videotheken in der Gegend zu informieren.
Das Telefon klingelte unentwegt. Ihre Mutter rief an, um sich nach dem Umzug zu erkundigen, genau wie ihr Bruder und zwei ihrer Tanten. Sie rief Michael an, um ihn über ihre Fortschritte zu informieren, doch er klang gestresst und konnte nicht lange reden.
Nachmittags ging sie einkaufen, stellte sich unterwegs einem älteren Mann vor, dem sie unten im Hauseingang begegnete: ein pensionierter Pianist, der in einer der Erdgeschosswohnungen lebte und ihr viel Glück im neuen Heim wünschte. Bei ihrer Rückkehr entdeckte sie, dass eine Pflanze geliefert worden war: ein Einzugsgeschenk von Emily. Rebecca stellte die Pflanze auf den Tisch im Wohnzimmer neben Alisons Karte.
Mit Auspacken war sie nahezu fertig, und es sah schon recht wohnlich aus. Sie nahm Alisons Karte zur Hand und las die Zeilen noch einmal. Einem Impuls folgend ging sie in die Diele und nahm den Telefonhörer ab.
Viertel vor neun. Michael kam mit der Digitron-Akte unter dem Arm nach Hause. Auch wenn es ihm gelungen war, für Alans Mieterin eine vorübergehende Lösung zu finden, hatte es ihn doch einen großen Teil des Nachmittags gekostet, daher war er mit der Prüfung des Vertrags, die er für den kommenden Morgen fertig haben musste, erst halb durch. Er würde die Arbeit nach dem Abendessen fortsetzen müssen.
Der Duft von Chili con carne schlug ihm entgegen. Rebecca tauchte aus der Küche auf und begrüßte ihn lächelnd. »Hoffentlich hast du Hunger.«
Er nickte, massierte sich die Schläfen, spürte das leichte Pochen nahender Kopfschmerzen. Im Hintergrund sangen U2 von einem Ort, an dem die Straßen keine Namen hatten. »Habe ich noch Zeit, mich umzuziehen?«
»Eigentlich nicht.«
Er ging ins Wohnzimmer. Sie folgte ihm. »Wie findest du es?«
»Sieht toll aus.« Er legte sein Jackett ab und setzte sich an den winzigen Esstisch. Eine Flasche Wein mit dem Rest vom vorausgegangenen Abend stand in der Mitte neben einer Pflanze, die an diesem Morgen noch nicht da gewesen war. »Von wem ist die?«, fragte er.
»Em.«
»Ja, genau. Sie hat mich heute angerufen und wollte plaudern.«
»Ich hoffe, du warst zu ihr netter als zu mir.«
Er lächelte verlegen. »Tut mir Leid.«
Sie lachte. »Macht nichts.« Nachdem sie Wein eingeschenkt hatte, setzte sie sich neben ihn. »Rate mal, mit wem ich heute gesprochen habe?«
»Mit deiner Mutter?«
»Mr. Somerton.«
Der Name sagte ihm nichts. Er wartete gespannt.
»Der Vermieter.«
»Warum hat er angerufen?«
»Ich habe ihn angerufen. Wollte ihm sagen, wie gut uns die Wohnung gefällt. Er war unheimlich freundlich, hat sich nach uns erkundigt und was wir so machen.«
Ein schuldbewusster Ausdruck breitete sich auf ihrem Gesicht aus. »Und?«
»Ich habe ihn für morgen Abend zu einem Drink eingeladen.«
Er stöhnte.
»Ich dachte, es wäre eine gute Idee. Ich meine, es ist schließlich seine Wohnung.«
»Und wir bezahlen ihm Miete. Wir müssen ihm nicht auch noch einen roten Teppich ausrollen.«
»Das erwartet er ja auch gar nicht.«
Er hob eine Augenbraue.
»Er klang wirklich sehr nett. Ich bin sicher, du wirst ihn mögen.«
»In der Arbeit war richtig viel los. Ich habe morgen verschiedene Besprechungen. Kann sein, dass die länger dauern.«
»Er kommt nicht vor neun. Bis dahin bist du doch längst fertig.« Sie lächelte aufmunternd. »Bitte, Mike. Wir hatten wirklich Glück, diese Wohnung zu bekommen, und ich hielt es einfach für eine nette Geste.«
Er brachte ein Lächeln zu Stande. »Okay.«
»Danke. Das Essen ist fertig. Ich hol’s.«
Sie verschwand in der Küche. Er erinnerte sich an die Arbeit, die er noch zu erledigen hatte, und sofort wurden die Kopfschmerzen schlimmer.
Der Dienstag erwies sich für Michael als em ausgesprochen schlechter Tag.
Den größten Teil verbrachte er in den Büros von Digitron in den Docklands, wo er in einem fensterlosen Raum saß und den überarbeiteten Vertrag durchging. Es war überraschend wenig an ihm auszusetzen, und die Konferenz hätte eigentlich nur ein paar Stunden dauern sollen. Leider hatte der Finanzdirektor von Digitron schlechte Laune und beklagte sich über fast jede Vertragsbestimmung. Erst gegen vier Uhr nachmittags war eine Liste aller Einwände erstellt.
Bei seiner Rückkehr ins Büro wurde Michael von Graham Fletcher ins Kreuzverhör genommen, angebrüllt, weil er angeblich nicht genügend Rücksicht auf die Interessen von Digitron nahm, und davon in Kenntnis gesetzt, dass drei Kartons mit Pegasus-Verträgen gerade eingetroffen seien, die durchgesehen werden müssten und über die bis spätestens Freitagabend Bericht zu erstatten sei. »Ich bin alles andere als erfreut, wie dieser Deal läuft«, sagte Graham. »Sie scheinen die Sache nicht ganz im Griff zu haben.« Michael war kurz davor zu antworten, alles würde erheblich besser laufen, wenn Graham sich dazu herabließe, selbst auch ein bisschen zu arbeiten, schaffte es dann aber noch, sich auf die Zunge zu beißen. Er beschränkte sich auf ein vergnügtes »Jawohl, Graham. Natürlich, Graham. Sie brauchen sich überhaupt keine Sorgen zu machen, Graham«, bevor er in sein Zimmer zurückkehrte.
Dort traf er auf seine Sekretärin, Kim, die entschuldigend meinte: »Sie wissen, dass ich morgen nach Griechenland fliege. Beim Vertretungsplan scheint was schief gelaufen zu sein. Ich versuche noch, das eine oder andere zu regeln, muss aber in fünf Minuten weg.« Er sagte, es spiele keine Rolle, und wünschte ihr schöne Ferien.
Er setzte sich an seinen Schreibtisch und begann, die Verträge durchzuackern und sie mit der Liste zu vergleichen, die Pegasus geschickt hatte. Zwei fehlten. Das Begleitschreiben trug ein Datum der vorausgegangenen Woche. Graham hatte also seit Tagen auf dem Zeug gesessen. Er schluckte seine Verärgerung hinunter, ermittelte, welche Abteilungen welche Dokumente überprüfen sollten, und versuchte dann, die entsprechenden Leute anzurufen, nur um festzustellen, dass bereits alle nach Hause gegangen waren.
Er suchte den überaus wichtigen Vertrag mit Dial-a-Car heraus und machte sich an dessen Durchsicht. Der Finanzdirektor von Digitron rief an. Weitere Einwände gegen den Vertragsentwurf, allesamt lächerlich. Er verbrachte eine frustrierende Stunde mit dem Versuch, ihn so diplomatisch wie möglich zu überzeugen.
Kaum hatte er den Hörer aufgelegt, da stürmte auch schon ein völlig gestresst wirkender Jack Bennett herein. »Wir haben gerade neue Anweisungen erhalten. Eine Computerwartungsfirma namens Azteca will eine Tochtergesellschaft verkaufen. Brandeilige Sache. Ich weiß, dass Sie bis über beide Ohren in Arbeit stecken, aber ich bin wirklich auf Ihre Hilfe angewiesen. Können Sie direkt als erstes morgen früh an einer Besprechung teilnehmen? Dauert vielleicht den ganzen Tag.« Michael sah auf den vor ihm liegenden Stoß Verträge und brachte ein gezwungenes Lächeln zu Stande. »Sicher. Warum nicht? Geben Sie mir die Details.«
Als Jack gegangen war, warf er einen Blick auf die Uhr. Acht. Er musste jetzt aufbrechen, wenn er noch rechtzeitig zu Hause sein wollte. Die Arbeit stapelte sich vor ihm. Wann in aller Welt sollte er das schaffen? So ziemlich das Letzte, was er im Moment brauchte, war ein Besuch des Vermieters.
Einen Moment überlegte er, Rebecca anzurufen und ihr zu sagen, er hätte noch zu tun. Es wäre das Beste. Bei seiner augenblicklichen Stimmung war es mehr als zweifelhaft, dass er einen ganzen Abend durchhielt, ohne etwas zu sagen, das er später bedauern würde.
Aber sie wollte es so sehr. Und er war einverstanden gewesen.
Nachdem er den Computer ausgeschaltet hatte, ging er zur Tür.
Fünf vor neun. Rebecca hörte einen Schlüssel im Schloss.
Den ersten Teil des Abends hatte sie damit verbracht, die Wohnung in einen makellosen Zustand zu bringen, bevor sie duschte und sich ein neues Kleid anzog. Jetzt war sie im Wohnzimmer und schritt rastlos auf und ab.
Michael stand in der Diele. »Wo bist du gewesen?«, wollte sie wissen.
Sein Gesicht war gerötet. Er sah schlecht gelaunt und reizbar aus. »Fang gar nicht erst damit an«, sagte er.
Sie ignorierte die Warnung. »Er wird jeden Augenblick hier sein. Geh und zieh dich um. Ich hab dir das blaue Hemd gebügelt, es liegt auf dem Bett. Zieh dazu bitte die Baumwollhose an.«
Er lächelte provozierend. »Und wie war dein Tag, mein Schatz?«
»Beeil dich!«
Das Lächeln verwandelte sich in eine finstere Miene. »Das war eine total bescheuerte Idee!« Er marschierte ins Schlafzimmer. Sie holte den Wein aus dem Kühlschrank. Ein Chardonnay. Der Mann in dem Weingeschäft hatte ihr versichert, er sei köstlich. Sollte er auch sein, bei diesem Preis.
Es klingelte. Nervös drückte sie den Öffnungsknopf. Während Mr. Somerton die Treppe heraufkam, überprüfte sie zum hundertsten Mal, dass alles sauber und aufgeräumt war.
Es klopfte an der Wohnungstür. Sie holte tief Luft und öffnete sie.
Der Mann, der im Hausflur stand, war Ende vierzig, groß wie Michael, hatte eine gute Figur, hellbraunes, grau werdendes Haar, ein markantes Gesicht und kluge dunkle Augen. Er war gepflegt, aber lässig gekleidet: Wolljackett, dunkles Hemd, Baumwollhose, gute Schuhe. Er lächelte. »Sie müssen Rebecca sein.«
Sie nickte. »Mr. Somerton?«
»Max, bitte.«
»Und ich bin Becky. Kommen Sie doch bitte herein.«
Er trat in die Diele. »Haben Sie es leicht gefunden?«, fragte sie höflich.
»Es war etwas schwierig, aber ich hab’s so gerade eben noch geschafft.«
Sie begriff, was sie gerade gesagt hatte, und errötete. Er lachte gutmütig, ging weiter ins Wohnzimmer und machte eine weit ausholende Handbewegung. »Die Wohnung sieht wunderbar aus«, sagte er. »Ihre Einrichtung verleiht ihr ein völlig neues Gesicht.« Er sprach langsam und gelassen. Er hatte eine ausgesprochen schöne sonore Stimme. Wie Samt. Am Telefon hatte sie bei weitem nicht so angenehm geklungen. Sie lächelte schüchtern, mochte ihn bereits. »Danke sehr. Mike kommt sofort. Nehmen Sie doch bitte Platz.«
Schritte hinter ihnen. Michael betrat das Zimmer. Ihr rutschte das Herz in die Hose.
Er trug Jeans und ein vergammeltes Sweatshirt. Sein Haar war ungekämmt, sein Lächeln wenig begeistert, seine Körpersprache ablehnend. Max streckte eine Hand aus. »Sie müssen Mike sein.«
Er nickte, schüttelte die Hand seines Gegenübers und sagte dann: »Ich heiße übrigens Michael.«
Für einen Sekundenbruchteil huschte ein merkwürdiger Ausdruck über Max’ Gesicht. Nicht direkt Verärgerung. Etwas, das Rebecca nicht identifizieren konnte. Panik keimte auf, war sie doch überzeugt, dass der Abend ruiniert war, noch ehe er richtig begonnen hatte.
Dann war der Gesichtsausdruck verschwunden, ersetzt durch ein freundliches Lächeln. »Natürlich. Ein Name ist das wichtigste Merkmal, über das wir uns definieren. Man sollte ihn keinesfalls unerlaubt abkürzen. Verzeihen Sie mir.«
Michael war so anständig, verlegen auszusehen. »Macht nichts«, sagte er betreten.
Sie nahmen Platz, sie und Michael auf der Couch, Max auf einem Sessel ihnen gegenüber. Michael schenkte den Wein ein. Max schaute sich um, als suche er etwas. »Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich rauche?«, fragte er.
»Nein. Wir rauchen nicht, aber tun Sie sich keinen Zwang an.« Rebecca holte eine Untertasse als Aschenbecher. Max zog ein silbernes Etui hervor und nahm eine dünne Zigarre heraus. Er steckte sie an, inhalierte und blies dann eine Rauchwolke in die Luft. Der Geruch war intensiv, aber nicht unangenehm, erinnerte sie an den Duft von Bäumen nach einem Regenschauer. Sie bemerkte eine winzige Schnittwunde an seinem Hals, offensichtlich vom Rasieren. Er trug keinen Ehering. »Wir sind von der Wohnung absolut begeistert«, sagte sie.
Max nippte an seinem Wein. »Ich hoffe, sie ist nicht zu klein.«
»Sie ist perfekt, stimmt’s, Mike?« Sie hoffte, Michael würde etwas sagen, aber er nickte nur. Sie wünschte sich, sie hätte daran gedacht, eine CD aufzulegen. Ein bisschen Hintergrundgeräusch wäre jetzt nicht schlecht. Sie lächelte Max nervös an. »Freut mich, dass Sie kommen konnten.«
»Ich freue mich sehr, Sie beide kennen zu lernen.« Er klopfte Asche von seiner Zigarre und wandte sich direkt an Mike. »Von Becky weiß ich, dass Sie Anwalt sind.«
Wieder nickte Michael.
»In welcher Kanzlei arbeiten Sie?«
»Cox Stephens.«
Max dachte einen Augenblick nach. »Jack Bennett ist kürzlich als Sozius eingestiegen, richtig?«
»Sie kennen ihn?«
»Wir hatten das eine oder andere Mal miteinander zu tun.« Max nahm einen Schluck Wein. »Köstlich«, sagte er zu Rebecca. »Sie haben einen ausgezeichneten Geschmack.«
Sie war erleichtert. »Nicht ich. Der Mann bei Oddbins. Ein aufregender Wein: außergewöhnlich und ausgewogen. Das waren seine Worte.«
»Das sagen sie immer«, bemerkte Michael, »damit die Leute sich nicht beschweren, wenn sie begreifen, dass sie ein Vermögen für etwas ausgegeben haben, das wie Pisse schmeckt.«
Rebecca zuckte zusammen. Aber Max schien amüsiert. »Dieses Mal sind Sie jedenfalls nicht geschröpft worden«, versicherte er ihr. »Ganz im Gegenteil.« Wieder wandte er sich an Michael. »Ich höre weiterhin«, fuhr er fort, »dass wir beide aus derselben Gegend stammen.«
»Sie sind aus Richmond?«
»Bow.«
Diese Enthüllung überraschte sie. Genau wie Michael. »Ich verstehe«, sagte er.
»Aus Bassett House, um ganz genau zu sein. Die Lexden Street. Ein Kinderheim, das geschlossen wurde, kurz nachdem ich fortgegangen war. Kennen Sie die Lexden Street?«
Michael starrte Rebecca an. Sie hatte ein schlechtes Gewissen. Es war so angenehm gewesen, mit Max am Telefon zu plaudern, dass sie mehr als beabsichtigt gesagt haben musste. Sie lächelte Michael nervös an. »Die Welt ist klein«, sagte sie. Er nickte.
»Wo lag das Heim, in dem Sie waren?«, fragte Max.
»Thorpe Street.«
Max dachte kurz nach. »Es gab da ein Pub. Wie hieß es doch gleich? The Feathers?«
»The White Feather.«
»Ja, genau, ich erinnere mich jetzt wieder an das Schild. Eine weiße Feder vor einem schwarzen Hintergrund.« Max lächelte. Sein Blick blieb auf Michael gerichtet. »Kennen Sie die Lexden Street?«
Michael nickte. »An der Straßenecke war ein Laden.« Er erwiderte Max’ starren Blick nicht.
Rebecca wünschte sich, zurückhaltender gewesen zu sein, und versuchte, die Stimmung aufzuheitern. »Ist das nicht der Laden, in dem du und deine Freunde Süßigkeiten geklaut haben?«
Max lächelte. »Ich glaube, das haben wir auch gemacht.«
»Das ist schon sehr lange her«, sagte Michael plötzlich.
Rebecca hielt es für angebracht, das Thema zu wechseln. »Wo leben Sie heute?«, fragte sie Max.
»Arundel Crescent. Kennen Sie die Straße?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Auf der einen Seite der Old Brompton Road. Richtung Knightsbridge.« Er lachte. »Nur ein Katzensprung von Harrods.«
»Klingt gut«, sagte sie und fügte hinzu: »Ich kenne die Gegend überhaupt nicht.«
»Warum kommen Sie mich dann nicht einmal besuchen? Samstagabend gebe ich eine kleine Party. Es geht um sieben los. Völlig zwanglos.«
»Sehr nett von Ihnen. Vielen Dank.« Sie sah Michael an, war nicht sicher, was sie antworten sollte. »Samstagabend. Wir haben doch nichts –«
Max kam ihr zu Hilfe. »Ich bin sicher, Sie haben bereits etwas vor. Aber Sie sind beide herzlich willkommen, sollten Sie zufällig doch Zeit haben.«
Sein Glas war leer. Michael schenkte nach, während Max auf ein Gemälde wies, das über ihnen hing. Zwei Schiffe im Mondschein. »Sie erwähnten, dass Sie Kunst studiert haben. Ist das von Ihnen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Mein Großvater. Mein Stil ist vollkommen anders.«
»Wollten Sie schon immer Künstlerin werden?«
Sie nickte. Er lächelte ermutigend, also begann sie, ihm von ihrer Arbeit und den Umständen zu erzählen, die ihre künstlerische Entwicklung beeinflusst hatten. Von ihrer Liebe zu Mythologie und Sagen. Wie sie für sich die Präraffaeliten entdeckt hatte, deren Arbeiten von diesen alten Geschichten durchdrungen waren, und von ihrem Wunsch, selbst Malerin zu werden. Sie redete wie ein Wasserfall. Er war ein guter Zuhörer und besaß die seltene Gabe, sich ganz und gar auf die Worte eines anderen zu konzentrieren und damit Selbstvertrauen zu wecken. Der Duft des Zigarrenrauchs erfüllte das Zimmer. Er machte sie schwindelig. Während sie sprach, war sie sich Michael bewusst, der neben ihr saß. Sie wünschte, er würde sich an der Unterhaltung beteiligen. Aber er sagte nichts.
Halb elf. Die Weinflasche war leer. »Ich habe Sie schon lange genug aufgehalten«, verkündete Max. »Danke für Ihre Gastfreundschaft. Ich muss jetzt los.«
Sie erhoben sich, schüttelten sich wieder die Hände. »Sollen wir Ihnen ein Taxi rufen?«, fragte sie.
»Nein, danke. Es ist ein angenehmer Spaziergang.«
Sie standen an der Wohnungstür. »Sagen Sie«, meinte Max zu Michael, »sind Sie noch mal dort gewesen?«
Rebecca verstand die Frage nicht. Michael schon. »Ja«, sagte er. »Einmal.«
»Wann?«
»Letztes Jahr.«
»Haben Sie jemanden besucht?«
»Nein. Ich musste beruflich Unterlagen zustellen.«
»Gab es den Laden an der Ecke noch?«
»Ja.«
»Haben Sie einen Mars-Riegel geklaut? In Erinnerung an alte Zeiten?«
Zum ersten Mal an diesem Abend lächelte Michael nun. Es war ein wehmütiges Lächeln. »So was in der Richtung«, erwiderte er.
Max küsste Rebecca auf die Wange. »Es war mir ein Vergnügen«, sagte er und gab ihr seine Visitenkarte.
Eine halbe Stunde später saß sie im Bett. Die Deckenbeleuchtung war aus. Licht kam allein von ihrer Nachttischlampe.
Auf ihrem Schoß lag ein Südsee-Reiseführer. Als Kind war sie begeistert gewesen von einem Roman über Seeleute, die vor zweihundert Jahren auf den Fidschiinseln schiffbrüchig geworden waren, wo sie dann von den einheimischen Kannibalen für Götter gehalten wurden. Seit damals hatte sie die Inseln immer sehen wollen. Vielleicht würden sie ihre Hochzeitsreise dorthin machen, falls es ihre Mittel zuließen.
Nackt bis auf Boxershorts tauchte Michael aus dem Bad auf und legte sich neben sie ins Bett. Sein dunkles Haar, noch feucht nach dem Duschen, fiel ihm in die Stirn. Sie schob es beiseite. »Ich frage mich, ob Sean zurückgekehrt ist«, sagte sie.
Er antwortete nicht, wirkte nur nachdenklich.
»Du fragst dich das doch auch, oder?«
»Manchmal.«
»Wir könnten versuchen, ihn ausfindig zu machen.«
Er schüttelte den Kopf.
»Willst du ihn denn nicht wieder sehen? Es gab mal eine Zeit, da war er der wichtigste Mensch in deinem Leben.«
»Das ist fünfzehn Jahre her.«
»Aber du denkst immer noch an ihn. Sicher denkt er auch an dich. Falls du jemals beschließen solltest, ihn finden zu wollen, helfe ich dir. Ich bin überzeugt, dass wir das gemeinsam schaffen.« Zärtlich streichelte sie seine Wange. »Ich wollte nur, dass du das weißt.«
Er nahm ihre Hand und küsste sie. »Lieb von dir.«
»Tut mir Leid«, sagte sie.
»Was?«
»Dass ich Max von dem Heim erzählt habe. Es war nicht absichtlich. Er hat sich nach mir erkundigt, und dann hat er angefangen, mir über dich Fragen zu stellen. Ich habe Bow beiläufig erwähnt. Er wollte wissen, ob du aus einer Cockney-Familie stammst, und dann ist es mir einfach so rausgerutscht. Sonst habe ich ihm aber nichts erzählt. Ehrlich.«
»Macht nichts.« Er nahm sie in den Arm. Sie schmiegte sich an ihn, fühlte sich warm und sicher. Schweigend saßen sie da. Angenehm. Vertraut.
»Ich mochte ihn«, sagte sie schließlich. »Und du?«
»Ja. Er war schon okay.«
»Wir müssen nicht auf die Party gehen. Wäre wahrscheinlich sowieso nicht unser Ding.«
»Vielleicht sollten wir, nur um mal das Haus zu sehen. Ich weiß, du würdest gern, und wir müssen ja nicht lange bleiben. Ich muss morgen früh raus. Lass uns schlafen.«
Er löschte das Licht. Sie lag quer über seiner Brust. Er atmete langsam und tief. Sie empfand die Dunkelheit als fremd: ein neues Zimmer in einer neuen Wohnung mit eigenen Geräuschen und Schatten. Zehn Minuten verstrichen. Zwanzig. Eine halbe Stunde. Sie spürte, dass er noch wach war, und flüsterte seinen Namen. Er streichelte ihr übers Haar.